SG Fulda, Beschluss vom 10.02.2011 - S 7 SO 74/10 ER
Fundstelle
openJur 2012, 34122
  • Rkr:

Die Kosten einer notwendigen Begleitperson für ein schulpflichtiges Kind, das am Undine-Syndrom leidet, sind Kosten der sog. Behandlungssicherungspflege nach §37 SGB V, nicht der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII.

Tenor

Die Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnungverpflichtet, die Kosten für häusliche Krankenpflege in Form einerBegleitperson beim Schulbesuch für die Antragstellerin ab dem11.11.2010 bis zum Erlass eines Widerspruchsbescheides, längstensjedoch bis zum 15. Mai 2011 zu übernehmen.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Die Beigeladene hat der Antragstellerin die Hälfte ihreraußergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Der am 11. November 2010 gestellte Antrag,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verurteilen, Leistungen der Eingliederungshilfe für A. gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII in Verbindung mit § 26 SGB IX zu gewähren und die damit verbundenen Kosten der ständig präsenten Fachkraft während des Schulbesuches zu übernehmen, sowie die seit dem 16.08.2010 aufgelaufenen Kosten in Höhe von 3.950,24 € zu erstatten,

hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang voraus, dass der Anordnungsanspruch, also ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die Leistungen, sowie der Anordnungsgrund, nämlich ein Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, glaubhaft gemacht werden (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Soweit die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Antragsgegner verlangt, hat sie einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Da es sich bei der von der Antragstellerin begehrten Leistung – wie noch darzulegen sein wird – um eine Leistung der häuslichen Krankenpflege in Form der Behandlungssicherungspflege handelt, auf die Versicherte nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V Anspruch gegen ihre Krankenkasse – hier die Beigeladene – haben, steht der Inanspruchnahme des Antragsgegners das Prinzip des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 SGB XII) entgegen. Dies gilt im jetzigen Verfahrensstand auch mit Blick auf die aus § 43 Abs. 1 SGB I folgende Leistungspflicht des Antragsgegners als zuerst angegangenem Leistungsträger.

Die Beigeladene konnte im vorliegenden Verfahren nach § 75 Abs. 5 SGG im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet werden, obwohl die Antragstellerin dies nicht ausdrücklich beantragt hatte. § 75 Abs. 5 SGG, der die Verurteilung eines beigeladenen Versicherungsträgers sowie seine Verpflichtung im Wege der einstweiligen Anordnung ermöglicht, geht davon aus, dass der Kläger bzw. Antragsteller im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zwar in erster Linie die Verurteilung des Beklagten bzw. die Verpflichtung des Antragsgegners, hilfsweise aber auch die eines anderen in Betracht kommenden, am Verfahren durch Beiladung zu beteiligenden Versicherungsträgers erstrebt (vgl. LSG Niedersachen, Beschluss vom 24.10.1996 – Breithaupt 1997, 381 (383) m. w. N.).

Auch im Verhältnis zur Beigeladenen kam der Erlass einer einstweiligen Anordnung für den vor dem 11. November 2010 – den Zeitpunkt der Antragstellung – gelegenen Zeitraum nicht in Betracht, insbesondere nicht die Übernahme der seit dem 16.08.2010 aufgelaufenen Kosten in Höhe von 3.950,24 €. Da mit einer einstweiligen Anordnung nur einer gegenwärtigen Notlage zu begegnen ist, kann eine entsprechende Verpflichtung – hier der Beigeladenen – erst für die Zeit vom Eingang des Antrages bei Gericht ausgesprochen werden (vgl. HessLSG, Beschluss vom 24.04.2006 – L 9 AS 39/06 ER – juris).

Für den Zeitraum ab dem 11. November 2010 hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere … Schulen und Kindergärten … als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (sogenannte Behandlungssicherungspflege). Dazu gehören alle Pflegemaßnahmen, die nur durch eine bestimmte Krankheit verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern, wobei diese Maßnahmen typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Hilfsberufe oder auch von Laien erbracht werden (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.2005 – Breithaupt 2006, 730 (733) m. w. N.). Die Hilfeleistungen umfassen Maßnahmen verschiedenster Art wie z. B. Injektionen, Verbandwechsel, Katheterisierung, Einläufe, Spülungen, Einreibungen, Dekubitusversorgungen, Krisenintervention, Feststellung und Beobachtung des jeweiligen Krankenstandes und der Krankheitsentwicklung, die Sicherung notwendiger Arztbesuche, die Medikamentengabe sowie die Kontrolle der Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten (vgl. BSG a. a. O.).

Die Antragstellerin leidet an dem sogenannten Undine-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine – im Falle der Antragstellerin angeborene – Störung der zentralen Atemregulation mit periodischem Atemstillstand (vgl. Springer, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: „Undine-Syndrom“). Wahrscheinlich in Folge einer Störung der zentralen CO2–Rezeptorsensitivität reagiert der Kranke nicht oder nicht ausreichend auf eine zu niedrige Sauerstoffsättigung des Blutes und/oder einen Kohlendioxidanstieg im Blut. Auch die Antragstellerin hat im Rahmen ihres stationären Aufenthaltes im Institut für klinische Physiologie vom 05.11.2010 bis zum 07.11.2010 in der Atmungsantriebsmessung auf eine Erhöhung des Kohlendioxid – Partialdrucks, also des im Blut gelösten Kohlendioxids von 41 und 43 mmHg auf 65 mmHg nicht mit einer – wie es „normal“ wäre – Mehrventilation reagiert. Durch Vorlage der Stellungnahme von Prof. Dr. XY vom 03.12.2010 hat die Antragstellerin glaubhaft gemacht, dass eine Begleitperson notwendig ist, die auf die Anzeichen eines sich ankündigenden Krampfanfalles bzw. einer bevorstehenden Asphyxie achtet. Nach Auffassung des beschließenden Gerichts handelt es sich dabei im Sinne des oben zitierten „Kataloges“ um Hilfeleistungen in Form der Krisenintervention bzw. der Beobachtung des jeweiligen Krankenstandes. Wenn die Beigeladene demgegenüber einwendet, dass die Antragstellerin neben der Beobachtung keine pflegerischen Maßnahmen bedürfe, so verkennt dies augenscheinlich, dass gerade die Beobachtung die hier notwendige Maßnahme der Behandlungssicherungspflege darstellt.

Entgegen der Auffassung der Beigeladenen benötigt die Antragstellerin keinen Schulbegleiter als Integrationshelfer. Nach dem sich dem Gericht aus den Akten vermittelten Sachverhalt kommt die Antragstellerin mit der Beschulungssituation an sich problemlos klar. Anders als bspw. in den der Entscheidung des LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 28.06.2007 – L 7 SO 414/07 – juris) bzw. des LSG Thüringen (Beschluss vom 30.09.2008 – L 8 SO 801/08 ER – juris) zu Grunde liegenden Sachverhalten ist die Antragstellerin den Anforderungen des Schulalltags – wie bspw. An- und Ausziehen, Ranzen aus- und einpacken, Wahrung einer für die Beschulung einer Klasse notwendigen Disziplin etc. … – gewachsen. Der glaubhaft gemachte Bedarf der Antragstellerin bezieht sich – wie oben dargelegt – auf die Beobachtung ihrer körperlichen Situation und eine gegebenenfalls notwendig werdende Intervention. Dieser Bedarf ist nicht schulgebunden, sondern krankheitsbedingt; er bestünde in gleicher Weise, wenn die Antragstellerin an Stelle des Schulbesuchs sich während dieser Zeit an einem anderen Ort aufhalten würde.

Bei der Befristung der einstweiligen Anordnung hat sich das beschließende Gericht davon leiten lassen, dass der Bescheid der Beigeladenen vom 15.07.2010, mit dem die Kostenübernahme einer Begleitperson abgelehnt wurde, mangels beigefügter Rechtsbehelfbelehrung weiterhin mit einem Widerspruch angefochten werden kann (§ 66 Abs. 2 SGG). Im Hinblick auf § 88 Abs. 2 SGG und dem dort normierten Zeitraum von 3 Monaten geht das beschließende Gericht davon aus, dass innerhalb dieses Zeitraums die Beigeladene zu einer Entscheidung – gegebenenfalls nach Begutachtung der Antragstellerin – gelangen wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Zitiert0
Referenzen0
Schlagworte