VG Frankfurt am Main, Beschluss vom 29.03.2010 - 9 K 3854/09.F
Fundstelle
openJur 2012, 32884
  • Rkr:
Tenor

Das Verfahren wird ausgesetzt, um eine Vorabentscheidung desEuGH nach Art. 267 AEUV zur Klärung folgender, in denEntscheidungsgründen näher erläuterter Fragen einzuholen:

1. Liegt den Regelungen im Hessischen Beamtengesetz zu der fürdie Beamtinnen und Beamten grundsätzlich zwingenden Altersgrenzemit der Folge eines Übertritts in den Ruhestand nachunionsrechtlichen Maßstäben ein auf das Allgemeinwohlausgerichtetes Ziel zugrunde?

Insoweit stellen sich vor allem folgende Einzelfragen:

Welche Anforderungen sind im Einzelnen an ein solches demAllgemeinwohl verpflichtetes Ziel aus unionsrechtlicher Sicht zustellen? Welchen ergänzenden Fragestellungen zurSachverhaltsaufklärung müsste das vorlegende Gericht zusätzlichnachgehen?

Stellt das Interesse an einer Einsparung von Haushaltsmittelnund Personalkosten, hier in der Gestalt der Vermeidung vonNeueinstellungen und der damit einhergehenden Verminderung vonPersonalausgaben, ein legitimes Ziel i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL2000/78/EG dar?

Kann das Ziel eines Dienstherrn an einer gewissenPlanungssicherheit hinsichtlich des endgültigen Ausscheidens vonBeamtinnen und Beamten als legitimes Ziel des Allgemeinwohlsanerkannt werden, und zwar auch dann, wenn jeder Dienstherr imGeltungsbereich des Hessischen Beamtengesetzes oder desBeamtenstatusgesetzes eigene Personalplanungs-vorstellungenentwickeln und durchsetzen kann?

Kann das Interesse an einer „günstigenAltersschichtung“, einem „günstigen Altersaufbau“als Ziel des Allgemeinwohls anerkannt werden, obwohl es insoweit anallgemeinen Standards oder gesetzlichen Regelungen zur Richtigkeiteiner Altersschichtung, eines Altersaufbaus fehlt?

Kann das Interesse, Beförderungsmöglichkeiten für vorhandene,bereits eingestellte Beamtinnen und Beamte zu schaffen, alslegitimes Ziels des Allgemeinwohls i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL2000/78/EG angesehen werden?

Verfolgt eine Altersgrenzenregelung zur Vermeidung von einzelnenRechtsstreitigkeiten mit älteren Beschäftigten wegen desFortbestandes ihrer Dienstfähigkeit ein legitimes Ziel desAllgemeinwohls?

Setzt der Allgemeinwohlbezug i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL2000/78/EG ein einzelne Dienstherren und/oder Arbeitgeberübergreifendes Konzept der Arbeitsmarktpolitik im Bereich derunselbstständigen Beschäftigung voraus, wenn ja mit welchem Grad anEinheitlichkeit und Verbindlichkeit?

Können einzelne Arbeitgeber oder Dienstherren für Gruppen vonBeschäftigten, hier begrenzt auf die Beamtinnen und Beamten imGeltungsbereich des Hessischen Beamtengesetzes, mit dermaßenbeschränkt geltenden Altersgrenzenregelungen überhauptAllgemeinwohlziele verfolgen?

Unter welchen Voraussetzungen kann das von einzelnenDienstherren verfolgbare, aber nicht bindend vorgegebene Ziel alsdem Allgemeinwohl i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG dienendangesehen werden, aufgrund des Übertritts in den Ruhestandbesetzbar gewordene Stellen durch Neueinstellungen, ggf. nachvorheriger Beförderung bereits vorhandener Beschäftigter zubesetzen? Müssen für den Allgemeinwohlbezug über pauschaleBehauptungen, die Regelung diene diesem Ziel, auch statistischeDaten oder sonstige Erkenntnisse vorliegen, die auf diehinreichende Ernsthaftigkeit und tatsächliche Realisierung einersolchen Zielsetzung schließen lassen?

2. Welche Anforderungen sind an die Angemessenheit und Eignungeiner Altersgrenzenregelung im Sinne der im HessischenBeamtengesetz enthaltenen Regelungen konkret zu stellen?

Bedarf es näherer Ermittlungen, um die – voraussichtliche– Anzahl der freiwillig über die Altersgrenze hinaus imDienst verbleibenden Beamtinnen und Beamten im Verhältnis zur Zahlderjenigen zu bestimmen, die jedenfalls mit dem Erreichen derAltersgrenze eine abschlagsfreie Versorgung beziehen und deshalbauf jeden Fall aus dem Dienst ausscheiden wollen? Wäre es nichtangemessen, insoweit der Freiwilligkeit den Vorrang vor einemzwangsweisen Ausscheiden einzuräumen, solange durch Regelungen zurKürzung des Ruhegehalts bei Inanspruchnahme vor dem Erreichen derRegelaltersgrenze dafür gesorgt wird, dass unangemesseneAufwendungen für den Versorgungshaushalt und damit verbundenenPersonalkosten vermieden werden? (Freiwilligkeit vor Zwang alsangemessenere und im Ergebnis kaum weniger geeignete Regelung)

Kann es als angemessen und erforderlich angesehen werden, fürBeamtinnen und Beamte pauschal mit dem Erreichen eines bestimmtenhöheren Lebensalters wie hier dem Erreichen des 65. Lebensjahresdie Dienstunfähigkeit unwiderleglich zu vermuten und deshalb dasBeamtenverhältnis automatisch enden zu lassen?

Ist es angemessen, die an sich mögliche Weiterbeschäftigung imBeamtenverhältnis jedenfalls bis zum vollendeten 68. Lebensjahrausschließlich an besondere Interessen des Dienstherrn zu knüpfen,ohne solche Interessen jedoch die Beendigung desBeamtenverhältnisses ohne jede rechtliche Möglichkeit einererneuten Berufung in das Beamtenverhältnis zu erzwingen?

Führt eine Altersgrenzenregelung, die zum zwangsweisenAusscheiden aus der Beschäftigung führt, anstelle sich auf die nachArt. 6 Abs. 2 RL 2000/78/EG zulässige Festlegung derVoraussetzungen eines Anspruchs auf eine ungekürzte Versorgung zubeschränken, zu einer unangemessenen Abwertung der Belangelebensälterer Menschen im Verhältnis zu den grundsätzlich nichthöherwertigen Belangen jüngerer Menschen?

Soweit das Ziel einer Erleichterung von Neueinstellungenund/oder Beförderungen als legitim anerkannt wird, fragt sich,welche näheren Anforderungen in tatsächlicher Hinsicht zu stellensind, um nachzuweisen, bis zu welchem Grad entsprechendeMöglichkeiten tatsächlich genutzt werden, bei jedem einzelnenDienstherrn, der die Altersgrenzenregelung für sich beanspruchtoder bei allen der gesetzlichen Regelung unterfallendenDienstherren, einschließlich oder ausschließlich des allgemeinenArbeitsmarktes?

Ist es angesichts der heute schon erkennbaren demografischbedingten Lücken im Arbeitsmarkt, dem alsbald eintretenden Bedarfan Fachkräften aller Art, d. h. auch im öffentlichen Dienst desBundes und in den Ländern, angemessen und erforderlich,dienstfähige Beamtinnen und Beamte, die ihr Amt weiter ausübenwollen, derzeit gleichwohl zum Ausscheiden aus demBeamtenverhältnis zu zwingen, obwohl alsbald ein erheblicher unddurch den Arbeitsmarkt kaum zu deckender Personalbedarf bestehenwird? Sind insoweit branchenbezogene Arbeitsmarktdatenerforderlich, die später ggf. noch zu erheben wären?

3. Welche Anforderungen sind an die Kohärenz der hessischen undggf. auch der bundesrechtlichen Regelungen zuAltersgrenzenregelungen zu stellen?

Kann das Verhältnis von § 50 Abs. 1 Hessisches Beamtengesetz und§ 50 Abs. 3 Hessisches Beamtengesetz als widerspruchsfrei angesehenwerden, wenn die grundsätzlich mögliche Weiterbeschäftigung überdie Altersgrenze hinaus allein von den Interessen des Dienstherrnabhängig ist?

Ist § 50 Abs. 3 Hessisches Beamtengesetz richtlinienkonform ggf.dahin auszulegen, dass zur Vermeidung einer unangemessenenDiskriminierung wegen des Alters eine Weiterbeschäftigung immerdann zu erfolgen hat, wenn ihr keine dienstlichen Gründeentgegenstehen? Welche Anforderungen wären an das Vorliegen solcherGründe ggf. zu stellen? Ist insoweit anzunehmen, dass dienstlicheInteressen die Weiterbeschäftigung schon dann erfordern, wennandernfalls eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung wegen desAlters eintreten würde?

Wie könnte eine dermaßen gebotene Auslegung von § 50 Abs. 3Hessisches Beamtengesetz trotz der zwischenzeitlich eingetretenenBeendigung des Beamtenverhältnisses zu einer Fortsetzung oder einemWiederaufleben des Beamtenverhältnisses des Klägers nutzbar gemachtwerden? Müsste in diesem Fall § 50 Abs. 1 Hessisches Beamtengesetzjedenfalls bis zum Vollendung des 68. Lebensjahres außer Anwendungbleiben?

Ist es angemessen und erforderlich, einerseits den freiwilligenRuhestandseintritt ab der Vollendung des 60. bzw. 63. Lebensjahresmit einer dauerhaften Kürzung des Ruhegehalts zu erschweren,andererseits eine freiwillige Weiterbeschäftigung über dasvollendete 65. Lebensjahr auszuschließen, wenn nicht der Dienstherrausnahmsweise ein besonderes Interesse an der Weiterbeschäftigunghat?

Entfällt die Angemessenheit und Erforderlichkeit derAltersgrenzenregelung in § 50 Abs. 1 Hessisches Beamtengesetz durchdie günstigeren Regelungen für Altersteilzeitbeschäftigteeinerseits, die Beamtinnen und Beamten auf Zeit andererseits?

Welche Bedeutung für die Kohärenz kommt den unterschiedlichenRegelungen im Dienst-, Arbeits- und Sozialversicherungsrecht zu,die einerseits eine dauerhafte Heraufsetzung des Alters anstreben,mit dem Renten- oder Ruhegehaltsleistungen ungekürzt bezogen werdenkönnen, andererseits die Kündigung wegen Erreichens des für dieRegelaltersrente vorgesehenen Lebensalters verbieten, andererseitsmit dem Erreichen genau dieses Alters die Beendigung desBeschäftigungsverhältnisses zwingend eintreten lassen?

Spielt es für die Kohärenz eine Rolle, dass die schrittweiseHeraufsetzung der Altersgrenzen in der Sozialversicherung und demBeamten-recht des Bundes und einiger Länder vorrangig dem Interesseder Beschäftigten dient, so spät wie möglich, den verschärftenVoraussetzungen einer abschlagsfreien Altersrente oder einesabschlagsfreien Ruhegehalts unterworfen zu werden? Sind dieseFragen deshalb unbeachtlich, weil für Beamtinnen und Beamte imGeltungsbereich des Hessischen Beamtengesetzes noch keineHeraufsetzung der Altersgrenzen erfolgt ist, obwohl dieseHeraufsetzung für die im Arbeitsverhältnis Beschäftigten demnächstwirksam werden wird?

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