BVerfG, Beschluss vom 25.11.2003 - 1 BvR 1248/03
Fundstelle
openJur 2012, 25177
  • Rkr:
Tenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 13. Mai 2003 - 13 UF 367/02 - verletzt die Beschwerdeführerin zu 2 in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen.

2. Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 1 wird nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin zu 2 ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

Mit der Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführerinnen (Mutter und Großmutter) gegen den durch das Oberlandesgericht angeordneten Verbleib des Kindes bei den Pflegeeltern.

Das im April 2001 nichtehelich geborene Kind der Beschwerdeführerin zu 1 kam bereits drogenabhängig zur Welt. Im Dezember 2001 entzog das Amtsgericht der Mutter wegen ihrer Drogenabhängigkeit das Sorgerecht und bestellte das Jugendamt zum Vormund. Seither lebt das Kind bei den Pflegeeltern, nachdem es zuvor bei einer Bereitschaftspflegemutter untergebracht war. Das Oberlandesgericht bestätigte den Sorgerechtsentzug, "übertrug" aber der Großmutter, der Beschwerdeführerin zu 2, mit Beschluss vom 9. Juli 2002 das "Recht der elterlichen Sorge". Das Kind ganz von der elterlichen Familie zu trennen und es jedenfalls für längere Zeit in einer Pflegefamilie aufwachsen zu lassen, sei unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht gerechtfertigt, da gegen die Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin zu 2 keine Bedenken bestünden. Den daraufhin von den Pflegeeltern noch im Juli 2002 gemäß § 1632 Abs. 4 BGB gestellten Antrag, den Verbleib des Kindes bei ihnen anzuordnen, wies das Amtsgericht mit Beschluss vom 9. August 2002 unter anderem mit der Begründung zurück, das Oberlandesgericht habe die elterliche Sorge auf die Beschwerdeführerin zu 2 zu dem ausdrücklichen Zweck übertragen, dass das Kind bei dieser aufwachse. Es komme auch keine befristete Verbleibensanordnung in Betracht, da die Pflegeeltern nicht vorgetragen hätten, dass die Beschwerdeführerin zu 2 sich den vom Oberlandesgericht für eine Übergangszeit für erforderlich gehaltenen Besuchskontakten widersetze. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 13. Mai 2003 hob das Oberlandesgericht diese Entscheidung auf und ordnete den Verbleib des Kindes bei den Pflegeeltern an. Das Kind habe während seines eineinvierteljährigen Aufenthalts bei den Pflegeeltern Bindungen zu diesen aufgebaut. Würde es gegenwärtig aus der Pflegefamilie herausgenommen werden, wäre das Kindeswohl gefährdet. Der für einen behutsamen Wechsel erforderliche Wille sei auf beiden Seiten eingeschränkt, weil die Pflegeeltern sich als die "richtigen" Eltern des Kindes sähen und die Beschwerdeführerin zu 2 nicht verstehe, warum das Kind überhaupt bei Pflegeeltern sei. Weiter sei zu berücksichtigen, dass die Anforderungen für einen Wechsel dadurch erhöht seien, dass es nicht um die Rückführung des Kindes zu den leiblichen Eltern, sondern zur Großmutter gehe. In derartigen Fällen müsse eine Gefährdung des Kindeswohls ausgeschlossen sein.

Mit ihrer gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 13. Mai 2003 gerichteten Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführerinnen unter anderem die Verletzung ihres Grundrechtes aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.

1. Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 1 liegen nicht vor (§ 93 a BVerfGG). Ihre Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da sie nicht hinreichend substantiiert dargelegt hat, durch die angegriffene Entscheidung in eigenen Grundrechten verletzt zu sein. Von einer weiteren Begründung wird insoweit gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

2. Hingegen nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 2 zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.

a) Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin zu 2 aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zum personalen Schutzbereich des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 34, 165 <200>) und zur Auslegung des § 1632 Abs. 4 BGB sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits entschieden (vgl. BVerfGE 75, 201 <218>; 79, 51 <64>; vgl. auch BVerfGE 88, 187 <196>).

b) Die angefochtene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin zu 2 in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.

aa) Bei einer Entscheidung nach § 1632 Abs. 4 BGB, die eine Kollision zwischen dem Interesse der Eltern oder des allein sorgeberechtigten Elternteils an der Herausgabe des Kindes und dem Kindeswohl voraussetzt, verlangt die Verfassung eine Auslegung der Regelung, die sowohl dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch der Grundrechtsposition des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung trägt. Dabei kann sich auch ein Großelternteil, der zugleich Vormund des Kindes ist, auf das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG berufen (vgl. BVerfGE 34, 165 <200>). Im Rahmen der erforderlichen Abwägung ist bei der Auslegung von gesetzlichen Regelungen im Bereich des Art. 6 Abs. 2 GG in gleicher Weise wie bei Entscheidungen des Gesetzgebers zu beachten, dass das Wohl des Kindes letztlich bestimmend sein muss (vgl. BVerfGE 68, 176 <188>; 75, 201 <218>; vgl. auch BVerfGE 79, 51 <64>). Auch wenn die Trennung von seiner unmittelbaren Bezugsperson für das Kind regelmäßig eine erhebliche psychische Belastung bedeutet (vgl. BVerfGE 75, 201 <219>), darf dies allein nicht genügen, die Herausgabe des Kindes zu verweigern, weil andernfalls die Zusammenführung von Kind und Eltern immer dann ausgeschlossen wäre, wenn das Kind seine "sozialen Eltern" gefunden hätte (vgl. BVerfGE 75, 201 <219 f.>). Mit Blick auf das betroffene Kindeswohl ist vielmehr zu differenzieren, ob das Kind von der Pflegefamilie in den Haushalt seiner Eltern - beziehungsweise ihnen grundrechtlich gleichgestellter Personen - oder in eine andere Pflegestelle wechseln soll. Im zuerst genannten Fall ist die Risikogrenze weiterzuziehen, wohingegen bei letzterer Konstellation mit hinreichender Sicherheit eine Gefährdung des Kindeswohls ausgeschlossen sein muss (vgl. BVerfGE 75, 201 <217, 220>; 79, 51 <64>).

bb) Diese Anforderungen hat das Oberlandesgericht bei der Auslegung des § 1632 Abs. 4 BGB in seiner mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung grundlegend verkannt.

(1) Zwar hat das Oberlandesgericht erkannt, dass eine Abwägung der jeweils betroffenen Grundrechte zu erfolgen hat. Es hat indes nicht hinreichend berücksichtigt, dass sich die Beschwerdeführerin zu 2 als Großmutter und Vormund, dessen Stellung sie mit der "Übertragung des Sorgerechts" eingenommen hat, auf das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG berufen kann (vgl. BVerfGE 34, 165 <200>) und dass sie demzufolge bei der Prüfung, unter welchen Voraussetzungen eine Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie und ein Wechsel in ihre Obhut erfolgen kann, mit einem leiblichen Elternteil und nicht einer anderen Pflegestelle vergleichbar ist. Obwohl derselbe Senat noch in seinem Beschluss vom 9. Juli 2002 aufgrund des ihm vorliegenden Sachverständigengutachtens einen dauernden Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie für unverhältnismäßig gehalten, die Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin zu 2 festgestellt und ihr das "Sorgerecht übertragen" hat, sie also mit der Zuweisung einer Stellung als Vormund in die rechtliche Elternposition gebracht hat, hat er nunmehr - ohne diese Entscheidungen in Frage zu stellen - dem Elternrecht der Beschwerdeführerin zu 2 nicht hinreichend Bedeutung beigemessen, sondern diese bei seiner Abwägung der Grundrechtspositionen so behandelt, als komme ihr diese Grundrechtsposition nicht zu. Dabei hat das Gericht darüber hinaus außer Acht gelassen, dass der Wechsel des Kindes in die Obhut der Beschwerdeführerin zu 2 ein Aufwachsen in der Herkunftsfamilie gewährleisten und hierdurch eine weitgehende Trennung des Kindes von seiner leiblichen Mutter vermieden werden würde, obwohl es selbst diesen Aspekt in seinem Beschluss vom 9. Juli 2002 als einen maßgeblichen Grund angesehen hat, der Beschwerdeführerin zu 2 die Sorge für das Kind zu übertragen.

(2) Zudem hat das Oberlandesgericht dem Elternrecht der Beschwerdeführerin zu 2 auch deswegen nicht hinreichend Rechnung getragen, weil es entgegen den Empfehlungen der von ihm beauftragten Sachverständigen, das Kind an die Beschwerdeführerin zu 2 sukzessive heranzuführen, den unbefristeten Verbleib des Kindes bei den Pflegeeltern angeordnet hat. Das Gericht hätte insofern in Erwägung ziehen müssen, ob dem Elternrecht unter Berücksichtigung des Kindeswohls zum Beispiel durch eine Befristung des angeordneten Verbleibs entsprechend der im Gutachten vorgeschlagenen Übergangszeit und durch eine damit korrespondierende Umgangsregelung besser hätte Rechnung getragen werden können (vgl. Diederichsen, in: Palandt, BGB, 62. Aufl., 2003, § 1632 Rn. 18 und 19). Das Oberlandesgericht hat es auch unterlassen, sich mit der Frage auseinander zu setzen, ob es der einer behutsamen Herausnahme des Kindes entgegenstehenden Haltung der Pflegeeltern nicht mit entsprechenden gerichtlichen Anordnungen, gegebenenfalls verbunden mit der Androhung von Zwangsmitteln, sinnvoll hätte begegnen und damit den Weg für eine schrittweise Heranführung des Kindes an die Beschwerdeführerin zu 2 und die Herkunftsfamilie ebnen können. Dass sich die Beschwerdeführerin zu 2 ihrerseits einem behutsamen Wechsel verschlossen hat, ist weder den Gründen der angegriffenen Entscheidung zu entnehmen noch - ausweislich des amtsgerichtlichen Beschlusses - von den Pflegeeltern vorgetragen worden.

(3) Schließlich hätte das Oberlandesgericht bei der Dauer der kindlichen Bindung an die Pflegeeltern berücksichtigen müssen, dass es selbst zur Verlängerung des Verbleibs des Kindes bei den Pflegeeltern beigetragen hat. Mit Blick auf Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sollen Pflegeverhältnisse nicht so verfestigt werden, dass die Eltern - beziehungsweise die ihnen grundrechtlich gleichgestellten Personen - mit der Weggabe in nahezu jedem Fall den dauernden Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie befürchten müssen (vgl. BVerfGE 75, 201 <219>). Dass ein dauernder Verbleib des Kindes bei den Pflegeeltern nicht angebracht war, hatte das Oberlandesgericht bereits in seinem Beschluss vom 9. Juli 2002 festgestellt. Nachdem das Amtsgericht über den Verbleibensantrag der Pflegeeltern mit Beschluss vom 9. August 2002 entschieden hatte, hätte das Oberlandesgericht ebenfalls zeitnah und nicht erst im Mai 2003 entscheiden können.

cc) Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, wenn es das Elternrecht der Beschwerdeführerin zu 2 bei der vorzunehmenden Grundrechtsabwägung hinreichend berücksichtigt hätte.

c) Da die Entscheidung somit schon wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG aufzuheben ist, bedarf es keiner weiteren Prüfung, ob der darüber hinausgehende von der Beschwerdeführerin zu 2 gerügte Grundrechtsverstoß vorliegt.

d) Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin zu 2 beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.