SG Marburg, Urteil vom 23.11.2005 - S 12 KA 42/05
Fundstelle
openJur 2012, 26858
  • Rkr:
Tenor

1. Unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2005 wird der Beklagte verpflichtet, den Widerspruch des Beigeladenen zu 1) vom 13.12.2004 zurückzuweisen.

2. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin und die Gerichtskosten zu tragen. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Ermächtigung des Beigeladenen zu 1) zur Durchführung von Leistungen gemäß den Nrn. 1, 2, 5, 10, 18, 25, 26 und 60 EBM bzw. den entsprechenden Gebührennrn. nach dem EBM 2000plus.

Der 1929 geborene und jetzt 76-jährige Beigeladene zu 1) ist praktischer Arzt. Er führt die Zusatzbezeichnung Homöopathie und Naturheilverfahren. Er ist verheiratet und hat einen 1980 geborenen Sohn.

Nach eigenen Angaben war er seit 1985 zur vertragsärztlichen Versorgung in (Rheinland-Pfalz) zugelassen. 1994 wechselte er aus persönlichen Gründen nach O. Eine Zulassung wurde wegen bestehender Zulassungsbeschränkungen abgelehnt. Einem Antrag auf Erteilung einer Sonderbedarfszulassung nach Nr. 24b gab der Zulassungsausschuss statt. Auf Widerspruch der Klägerin hob der Beklagte seinerzeit diese Entscheidung auf. Einen Antrag auf Ermächtigung lehnte die Klägerin ab. Auf die daraufhin vom Beigeladenen zu 1) erhobene Klage gegen beide Ablehnungen verurteilte das Sozialgericht Frankfurt a. M. mit Urt. v. 19.06.1996, Az.: S 28 KA 2592/94 die Klägerin, dem Beigeladenen zu 1) eine Sicherstellungsermächtigung gemäß § 31 Abs. 2 Ärzte-ZV i. V. m. § 5 Abs. 1 BMV-Ä bzw. § 9 EKV-Ä, beschränkt auf die Leistungen nach den Nrn. 1, 2, 5, 10, 18, 25, 26 und 60 EBM zu erteilen. Ab 1997 erhielt er dann fortlaufend jeweils befristete Ermächtigungen. Zuletzt wurde er mit Beschluss des Zulassungsausschusses vom 12.11.2002 für die Durchführung von Leistungen nach den Nrn. 1, 2, 5, 10, 18, 25, 26 und 60 EBM bis zum 31.12.2004 ermächtigt.

Am 13.04.2004 beantragte er die Verlängerung seiner Ermächtigung.

Die Bezirksstelle der Klägerin teilte unter Datum vom 19.11.2004 mit, sie könne den Antrag auf Erneuerung der Ermächtigung nicht befürworten. Nach Überprüfung der regionalen Versorgungssituation sei ein Sicherstellungsbedarf nicht gegeben. Im Planungsbereich D seien zwei Vertragsärzte mit der Zusatzbezeichnung Homöopathie und 10 Vertragsärzte mit der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren niedergelassen. Deshalb bestehe keine zwingende Notwendigkeit einer Ermächtigung für Homöopathie, da die Versorgung gewährleistet sei. Außerdem könne man eine unbillige Härte nicht erkennen.

Unter Datum vom 21.11.2004 führte der Beigeladene zu 1) aus, an der Versorgungslage habe sich im gesamten Zulassungsgebiet im Wesentlichen in den letzten Jahren nichts geändert. Es sei weiterhin schwierig, bei niedergelassenen Kollegen, die die klassische Homöopathie als Vertragsleistung anböten, in nächster Zukunft einen Termin zu bekommen. Wegen des hohen Zeitaufwandes des ganzheitlichen Ansatzes könne die homöopathische Behandlung nicht mit der naturheilkundlichen gleichgesetzt werden. Sein Sohn studiere mittlerweile. Er sei dringend auf seine finanzielle Unterstützung angewiesen. Seine monatliche Renten aus der bayerischen Ärzteversorgung liege bei 790 €. Da die Anzahl der Privatpatienten sehr gering sei, sei die Haupteinnahmequelle seine Kassenpraxis. Er besitze lediglich ein Sparvermögen in Höhe von 2.500 €. Die Verweigerung der Ermächtigung würde für ihn eine unbillige Härte bedeuten und ihn in eine noch größere finanzielle Notlage bringen, die ihn unter Umständen zum Sozialfall werden ließen.

Der Zulassungsausschuss lehnte mit Beschluss vom 30.11.2004 den Antrag ab. Zur Begründung führte er aus, nach den rechtlichen Vorgaben sei eine Ermächtigung eines Arztes ausgeschlossen, der das 55. Lebensjahr vollendet habe. Hiervon könne nur in Ausnahmefällen abgewichen werden. Zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Versicherten sei aber eine Ermächtigung nicht mehr erforderlich. Ein ungedeckter Versorgungsbedarf sei nicht festzustellen. Auch die Feststellung einer unbilligen Härte könne zu keinem anderen Ergebnis führen, da es schon an der grundlegenden Voraussetzung für die Erteilung einer Ermächtigung mangele.

Hiergegen legte der Beigeladene zu 1) am 13.12.2004 Widerspruch ein. Er trug unter Datum vom 25.01.2005 vor, bezüglich der Versorgungslage habe eine Nachfrage bei Frau Dr. S, die bereits seit 12 Jahren in R niedergelassen sei, ergeben, dass sie eine klassisch homöopathische Behandlung in ihrer Praxis aus Zeitgründen nicht leisten könne. Allenfalls biete sie eher selten eine kleine homöopathische Behandlung an. Patienten müssten in der Regel lange Wartezeiten in Kauf nehmen, um eine klassisch homöopathische Behandlung zu bekommen, für die sie aber privat zahlen müssten. Frau Dr. H sei bereits seit sechs Jahren niedergelassen. Er überreiche ein Gesprächsprotokoll von Frau L, die sich wegen akuter Beschwerden in Behandlung habe begeben wollen und nur privat homöopathisch hätte behandelt werden können. Trotz der Niederlassung dieser beiden Kolleginnen sei bis zuletzt ein Versorgungsbedarf anerkannt worden. Dr. G sei seit dem 01. Januar 2005 niedergelassen. Er betreibe eine internistische Praxis in G und habe auf Nachfrage erklärt, aus zeitlichen Gründen in absehbarer Zeit keine homöopathischen Behandlungen als Kassenleistung anbieten zu können. Zwar müsse er die Entwicklung seiner Praxis abwarten, könne aber bereits sagen, dass er diesen Zeitaufwand nicht zusätzlich aufbringen könne. Das Sozialgericht habe im Jahr 1996 den Versorgungsbedarf und eine unbillige Härte bestätigt. Zum Nachweis des Vorliegens eines Härtefalles reichte er verschiedene Unterlagen zu seinem Einkommen und zu seinen Zahlungsverpflichtungen ein.

Die Bezirksstelle übersandte dem Beklagten unter Datum vom 10.02.2005 eine Aufstellung über die Ärzte mit der Zusatzbezeichnung Homöopathie und der Ärzte mit der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren. Bei der Beklagten gingen ferner verschiedene Schreiben von Patienten des Beigeladenen zu 1) ein, die eine Verlängerung der Ermächtigung befürworteten. Diese Schreiben wurden ebenfalls zur Zulassungsakte genommen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.02.2005 gab der Beklagte dem Widerspruch vollumfänglich statt. Er hob den Beschluss des Zulassungsausschusses auf und erteilte dem Beigeladenen zu 1) – befristet bis zum 31.03.2007 – eine Ermächtigung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung. Die Ermächtigung erstreckte sich auf die Durchführung von Leistungen gemäß den Nrn. 1, 2, 5, 10, 18, 25, 26 und 60 EBM. Zur Begründung führte er aus, die Ausführungen der Bezirksstelle zu Bedarfslage könnten angezweifelt werden, weil sich bei der Versorgungslage nichts Wesentliches seit der letzten Ermächtigung verändert und die Bezirksstelle sich nicht mit dem Vortrag des Beigeladenen zu 1) auseinandergesetzt habe, den niedergelassenen Kollegen sei die Behandlung zu zeitaufwändig. Dies könne aber dahinstehen, weil die Erteilung einer Ermächtigung zu Gunsten des Beigeladenen zu 1) zur Vermeidung einer unbilligen Härte erforderlich sei. Der Gesetzgeber gebrauche die Ausnahmevoraussetzungen in § 31 Abs. 9 Ärzte-ZV „Sicherstellungsbedarf" und „unbillige Härte" alternativ. Aufgrund der familiären und finanziellen Situation des Beigeladenen zu 1) liege ein solcher Härtefall vor, was im Einzelnen weiter begründet wird.

Hiergegen hat die Klägerin am 10.05.2005 die Klage erhoben. Sie trägt vor, auch für einen ermächtigten Arzt gelte die Altersregelung von 68 Jahren. Dies sei unabhängig davon, ob die Versorgung der Versicherten im Planungsbereichen sichergestellt sei. Was für einen niedergelassenen Vertragsarzt gelte, müsse zumindest auch für den ermächtigten Arzt verbindlich sein, denn ihm könnten nicht mehr Rechte eingeräumt werden, als einem Vertragsarzt, dessen Zulassung tatsächlich mit Vollendung des 68. Lebensjahres ende. Der Beigeladene zu 1) hätte mit seinen individuellen Lebensverhältnissen nicht gehört werden dürfen. Die Altersregelung sei verfassungsgemäß. Die Ausnahmevorschrift, die eine Überschreitung der Altersgrenze von 68 Jahren ermögliche, sei auf ermächtigte Ärzten nicht anwendbar. Primär solle durch sie die Möglichkeit einer Amortisation der Praxisinvestitionen erreicht werden. Dies könne jedoch auf einen ermächtigten Arzt nicht übertragen werden. Eine Ermächtigung bedeute auch nicht eine „Quasi-Zulassung". Nach Auffassung des Beklagten müsste ein bislang ermächtigter Arzt bereits deshalb eine Erneuerung seiner Ermächtigung erhalten, weil er die Ausnahmevorschrift noch nicht ausfülle. Dies könne rechtlich nicht zulässig sein, da dadurch vom System der Ermächtigung – Erbringung von Leistungen von nicht niedergelassenen Ärzten, wenn die Versorgung der Versicherten nicht sichergestellt sei - abgewichen werde und dieses im Prinzip ad absurdum geführt werde. Im Übrigen sei eine Ermächtigung auch aus Bedarfsgesichtspunkten nicht erforderlich. Insoweit beziehe sie sich auf die Stellungnahme ihrer Bezirksstelle vom 10.02.2005.

Die Klägerin beantragt,

den Widerspruchsbescheid vom 16.02.2005 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Widerspruch des Beigeladenen zu 1) vom 13.12.2004 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid und das Urteil des SG Frankfurt a. M. v. 19.06.1996 und trägt ergänzend vor, die Ermächtigung eines Vertragsarztes, der älter als 68 Jahre alt sei, sei ausgeschlossen, sofern nicht die in § 95 Abs. 7 genannten Ausnahmetatbestände vorlägen. Die Ermächtigung bedeute eine „Quasi-Zulassung", begrenzt auf die durch den Ermächtigungsumfang festgelegte Grenze. Deshalb sei die Altersregelung auf einen ermächtigten Arzt anzuwenden. Eine Ermächtigung könne dennoch mit Vollendung des 68. Lebensjahres verteilt werden. Der Gesetzgeber habe aber weder bei § 98 Abs. 2 Nr. 12 SGB V noch bei § 31 Abs. 9 Ärzte-ZV eine Bestimmung eingeführt, wonach § 95 Abs. 7 SGB V in diesen Fällen entsprechende Anwendung zu finden hätte. Ein quantitativer Bedarf für eine Ermächtigung liege vor, nach denen den Beteiligten dem Beigeladenen zu 1) seit 1997 in jeweils zweijährigem Abstand eine entsprechende Ermächtigung erteilt worden sei. Die Zahl der homöopathisch tätigen Vertragsärzte habe sich im Planungsgebiet nicht verändert. Die Ärzte, die Naturheilverfahren anwendeten, seien mit den homöopathisch tätigen Ärzten medizinisch nicht vergleichbar. Auch liege eine unbillige Härte vor.

Die Beigeladenen zu 1) bis 8) beantragen übereinstimmend, die Klage abzuweisen.

Der Beigeladene zu 1) trägt vor, die Bedarfssituation und seine Situation hätten sich seit 1996 nicht geändert.

Die Kammer hat mit Beschluss vom 11.05.2005 die Beiladung ausgesprochen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichts- und beigezogenen Verwaltungsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Gründe

Die Kammer hat in der Besetzung mit je einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Vertragsärzte und Psychotherapeuten und der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die zulässige Klage ist begründet. Der Widerspruchsbescheid vom 16.02.2005 ist rechtswidrig und war daher aufzuheben. Der Beklagte ist verpflichtet, den Widerspruch des Beigeladenen zu 1) vom 13.12.2004 zurückzuweisen.

Eine Ermächtigung kann nicht erteilt werden, wenn ein Ermächtigungshindernis in der Person des zu ermächtigenden Arztes besteht. Ein solches Ermächtigungshindernis besteht in der Person des Beigeladenen zu 1), der bereits das 68. Lebensjahr vollendet hat.

Für die Ermächtigung eines Arztes gelten die Absätze fünf bis sieben des § 95 SGB V entsprechend. Nach § 95 Abs. 7 Satz 3 und 4 SGB V gilt:

Die Zulassung endet ab 1. Januar 1999 am Ende des Kalendervierteljahres, in dem der Vertragsarzt sein achtundsechzigstes Lebensjahr vollendet. War der Vertragsarzt

1. zum Zeitpunkt der Vollendung des achtundsechzigsten Lebensjahres weniger als zwanzig Jahre als Vertragsarzt tätig und

2. vor dem 1. Januar 1993 bereits als Vertragsarzt zugelassen, verlängert der Zulassungsausschuss die Zulassung längstens bis zum Ablauf dieser Frist.

Die Anordnung der entsprechenden Geltung bezieht sich auf den gesamten Abs. 7. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, von der abzuweichen die Kammer keine Veranlassung sieht, sehen § 95 Abs. 4 Satz 3 und Abs. 7 Satz 2 SGB V sowie § 28 Abs. 1 der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) und Art 33 § 1 Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 1. Januar 1999 an eine Beendigung der vertragszahnärztlichen Tätigkeit auch im Rahmen einer Ermächtigung mit dem Ende des Kalendervierteljahres vor, in dem der Vertragsarzt sein 68. Lebensjahr vollendet. (vgl. BSG, Urt. v. 12.09.2001 - B 6 KA 45/00 R - SozR 3-2500 § 95 Nr. 32 S. 156 f. (juris Rdnr. 18 f.); BSG Beschl. v. 13.12.2000 - B 6 KA 38/00 B – juris Rdnr. 5). Soweit hierin vereinzelt ein Redaktionsversehen angenommen wird (vgl. Hencke, in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 95 Rdnr. 45), bleibt außer Betracht, dass offensichtlich alle Ärzte gleichbehandelt werden sollten.

Der Ausnahmetatbestand nach § 95 Abs. 7 Satz 4 SGB V ist auf den Beigeladenen zu 1) nicht anzuwenden. Zwar war er bereits vor dem 1. Januar 1993 als Vertragsarzt zugelassen und beträgt die Zeit seiner Zulassung und Ermächtigung zusammen weniger als 20 Jahre. Entscheidend ist aber, dass der Beigeladene zu 1) seine vertragsärztliche Tätigkeit 1994 aufgegeben hatte und erstmals 1997 ermächtigt worden war. Sinn und Zweck des Übergangsrechts nach § 95 Abs. 7 Satz 4 SGB V ist es aber, Ärzten wenigstens eine Garantie von zwanzig Jahren zu geben, damit sich ihre Investitionen amortisieren und sie eine ausreichende Altersversorgung aufbauen können (vgl. BSG, Urt. v. 12.09.2001 - B 6 KA 45/00 R - SozR 3-2500 § 95 Nr. 32 S. 156 f. (juris Rdnr. 20) m. w. N.). Insofern bedeutet aber die Wiederaufnahme der Tätigkeit des Klägers einen Neubeginn seiner Tätigkeit unter der Geltung des neuen Rechts und besteht insoweit kein Vertrauensschutz, die vertragsärztliche Tätigkeit weitere 20 Jahre ausüben zu können. Hinzu kommt, dass die Ermächtigungen jeweils befristet auf zwei Jahre erteilt worden waren und bereits von daher fraglich ist, ob ein Vertrauen auf eine Fortführung der Praxis entstehen konnte. Im Ergebnis scheidet daher eine Ermächtigung des Beigeladenen zu 1) bereits aus Altersgründen aus, so dass es weder auf die Frage der „unbilligen Härte" i. S. des § 31 Abs. 9 Satz 2 Ärzte-ZV noch auf eine Bedarfsprüfung ankam.

Nach allem war der angefochtene Bescheid rechtswidrig und der Klage daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.