Hessischer VGH, Beschluss vom 02.04.2002 - 4 TG 575/02
Fundstelle
openJur 2012, 23398
  • Rkr:
Tatbestand

I.

Die Antragstellerin wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen ein sofort vollziehbares Nutzungsverbot, mit dem ihr der Antragsgegner aufgegeben hat, eine Funksendeanlage nicht mehr zu nutzen. Das Verwaltungsgericht hat durch Beschluss vom 19.12.2001 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Nutzungsuntersagungsverfügung wiederhergestellt.

Gründe

II.

Die vom Senat zugelassene Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg, denn das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 30.07.2001, mit der der Antragstellerin die Nutzung ihrer Mobilfunkanlage untersagt worden ist, zu Unrecht wiederhergestellt.

Der Antrag kann entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht bereits wegen des formellen Mangels der unzureichenden Begründung der Anordnung des Sofortvollzuges Erfolg haben. An den Inhalt der Begründung der sofortigen Vollziehung sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Betroffene und Gericht müssen jedoch anhand der Gründe zur Prüfung der Entscheidung in der Lage sein, insbesondere wissen, welche besonderen öffentlichen Interessen die Vollziehung rechtfertigen sollen. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die sofortige Vollziehung der Nutzungsuntersagung ist unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs damit begründet worden, dass bei einer illegalen Nutzung die Vorbildwirkung dieser Maßnahme Anreiz zur Nachahmung befürchten lasse und die präventive Kontrolle der Bauaufsicht erfolgreich unterlaufen werden könne. Damit hat der Antragsgegner den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO Rechnung getragen.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts erweist sich die angefochtene Verfügung des Antragsgegners bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage als offensichtlich rechtmäßig. In einem derartigen Fall überwiegt das Vollzugsinteresse das Interesse, von Vollzugsmaßnahmen vorläufig verschont zu werden. Die von der Antragstellerin errichtete und genutzte Mobilfunkanlage ist formell illegal. Dies wird auch von dem Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Senats anerkannt. Das Vorbringen der Antragstellerin gibt dem Senat keine Veranlassung, seine Auffassung zur Baugenehmigungspflichtigkeit derartiger Anlagen zu ändern (ebenso Beschluss des 9. Senats des Hess. VGH vom 08.02.2002 - 9 TZ 515/01 -). Der VGH Bad.-Württ. ist in seinem Beschluss vom 08.02.2002 - 8 S 2748/01 - der Auffassung, durch die Mobilfunkanlage werde der Nutzungscharakter eines (Wohn-) Gebäudes nicht verändert, vielmehr fänden nunmehr auf dem Grundstück zwei voneinander getrennt zu beurteilende Nutzungen statt, nämlich eine wohnliche im Gebäude und eine gewerbliche in Gestalt der Funkanlage mit auch vom Senat geteilten Erwägungen entgegengetreten. Es werde in tatsächlicher Hinsicht übersehen, dass die Mobilfunkstation schon deshalb mit dem (Wohn-) Gebäude untrennbar verbunden sei, weil sie die Höhe dieses Hauses nutze, um die gewünschte Reichweite zu erzielen. In rechtlicher Hinsicht werde verkannt, dass im Falle der Änderung einer baulichen Anlage das Gesamtprojekt in seiner geänderten Gestalt den Gegenstand der behördlichen und gerichtlichen Prüfung bilde. Diese Auffassung wird auch von dem beschließenden Senat geteilt.

Das Verwaltungsgericht vertritt die Auffassung, eine formell illegale bauliche Anlage rechtfertige nicht immer den Erlass eines Nutzungsverbots. Wenn - wie hier - der Bauherr in Übereinstimmung mit der Bauaufsichtsbehörde bei der Errichtung und Nutzung der Anlage von ihrer Baugenehmigungsfreiheit ausgegangen sei und die Behörde ihre Auffassung erst aufgrund einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geändert habe, dann bedürfe der Erlass eines Nutzungsverbots weiterer Erwägungen, insbesondere müsse dann die materielle Baurechtmäßigkeit eine deutlich wichtigere Rolle spielen.

Dieser Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen. Sie steht im Widerspruch zu seiner ständigen Rechtsprechung. Danach rechtfertigt auch unter Geltung des § 78 Abs. 1 HBO 1993 - im Folgenden HBO - allein die formelle Illegalität einer baulichen Anlage ein Nutzungsverbot. Nach dieser Vorschrift kann die Bauaufsichtsbehörde die Nutzung untersagen, wenn u. a. bauliche Anlagen gegen baurechtliche oder sonstige Vorschriften über Errichtung, Änderung, Instandhaltung oder Nutzung dieser Anlagen und Einrichtungen verstoßen und nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können. Das Tatbestandsmerkmal des § 78 Abs. 1 "und nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können" trägt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung, der im Rahmen der Ermessensentscheidung des § 78 Abs. 1 HBO ebenso zu berücksichtigen ist wie sonstige Umstände, die im Einzelfall einer Nutzungsuntersagung allein wegen formeller Illegalität entgegenstehen können (OVG Rh.-Pf., Urteil vom 22.05.1996 - 8 A 11880/95 -, BauR 1997, 103 f. zu § 78 Satz 1 LBauO). § 78 Abs. 1 HBO beschränkt die Bauaufsichtsbehörde nicht darauf, dem Eigentümer aufzugeben, Bauvorlagen einzureichen, denn nur durch die Möglichkeit, formell illegale Nutzungen zu verbieten, und zwar ohne Rücksicht auf eine etwaige materielle Illegalität, ist die Bauaufsicht in der Lage, das System des präventiven Bau- und Nutzungsverbots in Verbindung mit der Genehmigungspflicht zu sichern (Beschluss des Senats vom 26.07.1994 - 4 TH 1779/93 - BRS 56 Nr. 212). Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, bei der auf die formelle Illegalität der baulichen Anlage gestützten Nutzungsuntersagung die Genehmigungsfähigkeit der untersagten Nutzung oder die Auffassung der Behörde zu einem gestellten Bauantrag zu überprüfen. § 70 Abs. 5 HBO, wonach vor Zugang der Baugenehmigung oder vor Ablauf der Frist nach § 67 Abs. 5 Satz 4 nicht mit der Ausführung begonnen werden darf, enthält gleichzeitig ein Verbot des Bauens (oder Nutzens) ohne Baugenehmigung und verpflichtet den Bauherrn, selbst in Fällen der rechtswidrigen Versagung einer Baugenehmigung, die Genehmigung im Rechtsweg zu erstreiten. Es bedarf daher keiner Ausführungen des Senats zu der von der Antragstellerin näher dargelegten Genehmigungsfähigkeit der Mobilfunkanlage.

Der Antragsgegner hat von dem ihm in § 78 Abs. 1 HBO eingeräumten Ermessen auch in zweckentsprechender Weise Gebrauch gemacht. Bei dem Erlass eines Nutzungsverbots genügt es in der Regel, wenn - wie hier - die Bauaufsichtsbehörde deutlich macht, dass der beanstandete Zustand wegen seiner Rechts- und Ordnungswidrigkeit beseitigt werden müsse. Ermessensverstöße sind nicht gegeben. Von dem Grundsatz, dass die formelle Illegalität einer baulichen Anlage ein sofort vollziehbares Nutzungsverbot rechtfertigt, werden zwar in Rechtsprechung und Literatur Ausnahmen anerkannt, derartige Ausnahmegründe liegen hier jedoch nicht vor. So wird die Auffassung vertreten, die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Nutzungsuntersagung scheide dann aus, wenn der Bauherr zwischenzeitlich einen Bauantrag gestellt habe, der auch nach Auffassung der Bauaufsichtsbehörde genehmigungsfähig sei, sofern der Erteilung der Baugenehmigung im Übrigen (z. B. fehlendes Einvernehmen nach § 36 BauGB, Naturschutzrecht, Denkmalschutzrecht) nichts im Wege stehe (vgl. Simon-Decker, BayBauO, Stand: Februar 2000, Art. 82 RN 341); der Senat braucht die Frage, ob er sich dieser Auffassung auch im Hinblick auf eine mögliche Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anschließt, schon deshalb nicht zu beantworten, weil der Antragsgegner den Bauantrag der Antragstellerin mit Bescheid vom 17. Oktober 2001 abgelehnt hat.

Die Entscheidung des Antragsgegners ist auch nicht deswegen ermessensfehlerhaft, weil sie keine Ausführungen zu dem nach Auffassung des Verwaltungsgerichts "ermessenslenkenden Erlass" des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung vom 12.03.2001 - VII 3 - 64b 12/13 - 1/2001 - enthalte. Die Aufgaben der unteren Bauaufsichtsbehörde sind dem Antragsgegner gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 HBO nach Weisung übertragen. Oberste Bauaufsichtsbehörde ist nach § 60 Abs. 3 Satz 2 HBO das für die Bauaufsicht zuständige Ministerium, das ist zur Zeit gemäß Beschluss der Hessischen Landesregierung vom 12.01.1999 (GVBl. I S. 295) das Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung. Aus der gesetzlichen Regelung des § 60 Abs. 2 Satz 1 HBO, dass die unteren Bauaufsichtsbehörden die Aufgabe als originäre Staatsaufgabe zu erfüllen haben, ergibt sich, dass sie in allen Fragen der Rechts- und Zweckmäßigkeit der Aufsicht und den Weisungen der oberen und der obersten Bauaufsichtsbehörde unterliegen. Die vorgesetzte Behörde kann daher das auszuübende Verwaltungsermessen nachgeordneter Behörden leiten und binden. Im vorliegenden Fall hat die oberste Bauaufsichtsbehörde in dem vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Erlass keine das Ermessen des Antragsgegners bindende Weisung erlassen. Ebenso wie sie die Empfehlung gibt, bei neu zu errichtenden Antennenanlagen Genehmigungsverfahren durchzuführen, soweit es sich nicht um nach § 63 HBO genehmigungsfreie Antennenanlagen handele, ist auch ihr Hinweis als Empfehlung zu verstehen, aufgrund der zuvor genannten Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs bestehe kein Bedürfnis, gegen bestehende Antennenanlagen einzuschreiten. Diese Formulierung rechtfertigt nicht die Auslegung, dass damit aufgrund Weisung der obersten Bauaufsichtsbehörde gegenüber der unteren Bauaufsichtsbehörde generell nicht gegen bestehende Antennenanlagen eingeschritten werden dürfe.

Der Umstand, dass der Antragsgegner seine ursprünglich vertretene Auffassung, es bestünden gegen die streitbefangene Mobilfunkanlage keine bauplanungsrechtlichen Bedenken, nicht mehr aufrecht erhält, rechtfertigt ebenfalls keinen Ermessensfehler. Hierbei handelt es sich nämlich um eine Frage der materiellen Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagung, auf die es - wie oben dargelegt - bei der auf die formelle Illegalität gestützten Anordnung nicht ankommt.

Zwar kann das Ermessen der Bauaufsichtsbehörde zum Erlass eines Nutzungsverbots auch dann eingeschränkt sein, wenn etwa die zulässige Nutzung von der Bauaufsichtsbehörde über einen längeren Zeitraum mit deren Wissen und Wollen geduldet wird (vgl. OVG NW, Beschluss vom 15.01.1996 - 7 B 315/96 -; vgl. auch Simon-Decker, a. a. O.), diese Voraussetzungen sind hier jedoch nicht gegeben, da der Antragsgegner nach dem Bekanntwerden der Rechtsprechung des Senats zur Genehmigungspflicht derartiger Mobilfunkanlagen diese nicht mehr geduldet hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf den §§ 20 Abs. 3, 14 Abs. 1, 13 Abs. 1 GKG.

Hinweis:      Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).