Hessischer VGH, Urteil vom 26.11.1998 - 1 UE 1276/95
Fundstelle
openJur 2012, 21871
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Tatbestand

Die Klägerin ist Miterbin nach ihrem verstorbenen Vater, der in der Zeit von März 1980 bis zu seinem Tode im Februar 1984 von dem Beklagten Hilfe zur Pflege gemäß §§ 68, 69 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) erhalten hat. Sie wendet sich gegen die Verpflichtung zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe in Höhe von 5.415,-- DM.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Streitstandes wird auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen (§ 130 b Satz 1 VwGO).

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 21. Februar 1995 abgewiesen.

Gegen dieses am 9. März 1995 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 7. April 1995 Berufung eingelegt und die Auffassung vertreten, daß ihre Inanspruchnahme auf Kostenersatz gemäß § 92 c BSHG für sie eine besondere Härte bedeute, weil sie ihren Vater über mehrere Jahre unter erheblichem eigenen Kostenaufwand gepflegt habe.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil aufzuheben und nach ihren ihren erstinstanzlichen Anträgen zu erkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verneint das Vorliegen einer besonderen Härte.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten betreffend das vorliegende Verfahren (1 Band - Az. 15-01-0027 -) Bezug genommen, die Gegenstand der Rechtsfindung gewesen sind.

Gründe

Die zulässige Berufung der Klägerin, über die im Einverständnis der Beteiligten der Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, hat Erfolg, denn der Bescheid des Beklagten vom 22. März 1984 in der Fassung seines Widerspruchsbescheides vom 1. März 1988, mit dem er gemäß § 92 c BSHG Kostenersatz für geleistete Sozialhilfe von der Klägerin fordert, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die angefochtenen Bescheide sind daher aufzuheben.

Grundsätzlich hat der Sozialhilfeträger im Rahmen des § 92 c Abs. 1 BSHG infolge eines Erbfalles gegen jeden der Miterben einen Anspruch auf Rückzahlung der Kosten für den verstorbenen Sozialhilfeempfänger. Dieses Recht, einen Kostenersatzanspruch geltend zu machen, ist jedoch durch § 92 c Abs. 3 BSHG beschränkt. Nur wenn diese Vorschrift im Falle der Klägerin nicht anwendbar wäre, wovon der Beklagte und das Verwaltungsgericht zu Unrecht ausgegangen sind, hätte der Beklagte seine Forderung gegen alle Miterben zugleich oder gegen einzelne Erben geltend machen können, wobei im Falle der Zahlung durch einen Miterben die anderen im Innenverhältnis zum Ausgleich verpflichtet gewesen wären (§ 426 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -). Die Entscheidung, ob ein Ersatzanspruch gegen die Erben geltend gemacht wird, steht nicht im Ermessen des Sozialhilfeträgers. Er hat also den Kostenersatzanspruch nach § 92 c BSHG kraft seiner Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) durchzusetzen. Dabei ist er verpflichtet, hinsichtlich eines jeden Erben bzw. Miterben zu prüfen, ob ein Ausnahmetatbestand des § 92 c Abs. 3 BSHG vorliegt, weil bejahendenfalls der Anspruch auf Kostenersatz nach der gesetzlichen Regelung zwingend nicht geltend zu machen ist. Ausweislich der Verwaltungsakten der Beklagten hat er den Kostenersatzanspruch nach § 92 c BSHG allein gegen die Klägerin geltend gemacht, ohne zu prüfen, ob auch der Bruder der Klägerin als Miterbe herangezogen werden kann. Der Bruder der Klägerin, der nach ihrem unbestrittenen Vorbringen im Berufungsverfahren als "wirtschaftlich leistungsfähiger" anzusehen sei, wird erst in einem Vermerk vom 19. November 1987 im Laufe des Widerspruchsverfahrens erwähnt. Danach verbot sich "der weitere denkbare Weg, den Bescheid gegen (die Klägerin) in vollem Umfang aufzuheben und in Höhe des Anteils des Bruders einen gesonderten Bescheid gegen diesen zu erlassen, ..., da der Anspruch gegen den Bruder bereits am 07. 02. 87 gemäß § 92 c BSHG verjährt ist ..."

Darüber hinaus erweisen sich die angegriffenen Bescheide des Beklagten als rechtswidrig, weil in der Person der Klägerin ein besonderer Härtefall vorliegt. Nach § 93 Abs. 3 Nr. 3 BSHG ist der Anspruch auf Kostenersatz nicht geltend zu machen, soweit die Inanspruchnahme des Erben - hier: der Klägerin - nach der Besonderheit des Einzelfalles eine besondere Härte bedeuten würde.

Der Ausnahmetatbestand des § 92 c Abs. 3 Nr. 2 BSHG ist in der Person der Klägerin nur deshalb nicht erfüllt, weil sie "nicht nur vorübergehend bis zum Tode des Hilfeempfängers mit diesem in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat". Indessen ist bereits in der Amtlichen Begründung zum Regierungsentwurf des Zweiten Änderungsgesetzes zum Bundessozialhilfegesetz (BT-Drs. V/3495) ausgeführt, daß die Inanspruchnahme eines Erben bis zu dem in § 92 c Abs. 3 Nr. 2 BSHG genannten Betrag für ihn eine besondere Härte bedeute, wenn die Voraussetzungen der Nr. 2 nicht alle erfüllt seien, der zu beurteilende Einzelfall aber dem dort geregelten vergleichbar ist. Eine derartige Vergleichbarkeit ist gerade dann, wenn es - wie hier - nur an der häuslichen Gemeinschaft fehlt, durchaus gegeben. Denn durch das Abstellen auf die häusliche Gemeinschaft wird nur eine besondere örtliche Nähe betont, welche die Pflegeperson zur Betreuung des Hilfeempfängers veranlaßt. Eine solche "Nähe" besteht aber auch dann, wenn die Pflegeperson unter Einsatz eigener finanzieller Mittel und unter erheblichem Zeitaufwand (viermal wöchentlich) eine Entfernung von 39 km überwindet, um die häusliche Gemeinschaft gleichsam zu ersetzen, die herzustellen ihr versagt war, weil eigene berufliche Gründe und solche ihres Ehemannes entgegenstanden, wie sie unbestritten bereits im Verwaltungsverfahren vorgetragen hat. Diese Annahme der Vergleichbarkeit des Falles der Klägerin mit den in § 92c Abs. 3 Nr. 2 BSHG geregelten Fällen ist auch nach dem Sinn der gesetzlichen Regelung in dieser Bestimmung durchaus gerechtfertigt, der darin besteht, einen Anreiz zur häuslichen Pflege Hilfebedürftiger zu schaffen. Nimmt eine Pflegeperson die zusätzlichen Strapazen auf sich, die mit der Entfernung zwischen Pflegeort und ihrem Aufenthaltsort verbunden sind, so erscheint es gerechtfertigt, im Ergebnis also in analoger Anwendung des § 92 c Abs. 3 Nr. 2 BSHG, die Pflegeperson in gleicher Weise zu begünstigen wie eine Verwandte, die mit dem Hilfeempfänger in häuslicher Gemeinschaft gelebt und ihn gepflegt hat (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14. März 1990, FEVS 41, 205 betreffend einen Fall fehlender Verwandtschaft).

Zu demselben Ergebnis würde auch die Überlegung führen, daß § 92 c Abs. 3 Nr. 3 BSHG ein sog. Auffangtatbestand zu den in § 92 c Abs. 3 Nrn. 1 und 2 BSHG geregelten Fällen darstellt. In Nr. 3 des genannten Absatzes wird auf die "Besonderheit des Einzelfalles" abgestellt, aus denen sich für den Betroffenen eine "besondere Härte" ergeben muß. Derartige Härtevorschriften werden von dem Gesetzgeber regelmäßig dann eingefügt, wenn er mit den Regelvorschriften (hier: § 92 c Abs. 3 Nrn. 1 und 2 BSHG) zwar bestimmte typische Lebenssachverhalte regeln kann, die er zur Ausnahme erheben will, nicht aber atypische Lebenssachverhalte erfassen kann, die unter den Besonderheiten des Einzelfalles ebenfalls als Ausnahmetatbestände zu behandeln sind (vgl. zur Auslegung von Härtevorschriften etwa BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1974, BVerwGE 47, 103, 110 ff. m. w. N.).

Liegt demnach in der Person der Klägerin ein besonderer Härtefall vor, so erweisen sich die angegriffenen Bescheide als rechtswidrig.

Nach allem erweist sich die Berufung der Klägerin als begründet, so daß das angefochtene Urteil und die Bescheide der Beklagten aufzuheben sind.

Da die Beklagte im Ergebnis unterlegen ist, hat sie die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen nach § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen. Gerichtskosten werden in Sozialhilfesachen nach § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.

Der Antrag, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären, konnte keinen Erfolg haben, weil in diesem Verfahren ein Bevollmächtigter für die Klägerin nicht tätig geworden ist.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten der Klägerin beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO liegen nicht vor.