Hessischer VGH, Beschluss vom 24.06.1996 - 10 TG 2557/95
Fundstelle
openJur 2012, 21024
  • Rkr:
Tatbestand

I.

Der Antragsteller ist Bosnier aus Z. Er ist seit 1990 mit der ebenfalls aus Zenica stammenden Bosnierin Z D verheiratet, die eine Duldung der Antragsgegnerin bis 26. September 1996 besitzt. Die Eheleute haben ein gemeinsames Kind im Alter von fünf Jahren, die Geburt eines zweiten Kindes steht bevor.

Der Antragsteller hat sein Heimatland ohne die Familie 1991 verlassen. Er hält sich seit Juli 1991 in Deutschland auf, zunächst aufgrund von Aufenthaltsbewilligungen, sodann aufgrund von Duldungen. Ende März 1995 verzog er in den Bereich der Ausländerbehörde der Stadt N. Dort stellte er am 4. Mai 1995 den Antrag auf Familienzusammenführung. Erst vor kurzem habe er erfahren, daß seine Frau mit der gemeinsamen Tochter in K lebe. Mit Schreiben vom 5. Mai 1995 leitete die Beigeladene diesen Antrag an die Antragsgegnerin mit der Bitte um Stellungnahme weiter. Diese antwortete unter dem 23. Juni 1995, wegen der Vielzahl der bosnischen Flüchtlinge in Hessen und der damit verbundenen Kosten könne ein Zuzug des Antragstellers nach Hessen nicht gestattet werden. Die Ehefrau sei nicht in der Lage, den Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu sichern, sie verfüge auch nicht über ausreichenden Wohnraum. Letztmalig erhielt der Antragsteller von der Beigeladenen eine bis zum 30. Juni 1996 befristete Duldung. Mit Stempel vom 17. Juni 1996 setzte die Beigeladene die Frist für die Ausreisepflicht nach § 42 Abs. 1 AuslG bis zum 30. September 1996 fest. Einen Antrag des Antragstellers, für ihn die Phase II (Rückkehr von Ehepaaren mit Kindern) der Übereinkunft über die aufenthaltsrechtliche Behandlung von Personen aus Bosnien-Herzegowina anzuerkennen, lehnte die Beigeladene ab.

Bereits am 24. April 1995 hatte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin mündlich die Erteilung einer Duldung für die Stadt Kassel beantragt. Die Antragsgegnerin hatte diesen Antrag ebenfalls mündlich mit der Begründung abgelehnt, sie sei unzuständig. Zuständig für die Erweiterung der Duldung sei die jeweilige Ausländerbehörde in Bayern, wo ein entsprechender Antrag gestellt werden müsse.

Am 24. April 1995 beantragte der Antragsteller den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, den das Verwaltungsgericht Kassel mit Beschluß vom 12. Juli 1995 ablehnte. Für den Anspruch auf Erteilung einer Duldung fehle das notwendige Rechtsschutzbedürfnis, da die Antragsgegnerin nicht beabsichtige, den Antragsteller abzuschieben. Die begehrte Erteilung einer Duldung bedeute eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache. Auch sei dafür nicht die Antragsgegnerin zuständig, sondern die Ausländerbehörde im Freistaat Bayern.

Seine fristgerecht dagegen eingelegte Beschwerde begründete der Antragsteller mit seinem Wunsch, ein normales Familienleben zu führen und seiner erneut schwangeren Ehefrau Beistand zu leisten.

Gründe

Die Beschwerde hat, wie aus dem Tenor ersichtlich, Erfolg. Allerdings bedarf das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers im Hinblick auf die nach § 123 Abs. 1 VwGO zu verwirklichenden Rechtsschutzziele der Auslegung.

Im Wege der einstweiligen Anordnung kann eine Behörde nach § 123 Abs. 1 AuslG nicht verpflichtet werden, einem Ausländer vorläufig eine Duldung zu erteilen, sondern allein dazu, im Hinblick auf den Anspruch auf Erteilung einer Duldung die Abschiebung zeitweise bis zur Entscheidung über den Duldungsantrag auszusetzen (Hess. VGH, Beschluß vom 14.11.1995 - 12 TG 1358/95 -). Für eine derartige Verpflichtung fehlt indes hier das Rechtsschutzbedürfnis, da die Antragsgegnerin nicht beabsichtigt, den Antragsteller nach Bosnien-Herzegowina abzuschieben; dem würde auch der Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für Landwirtschaft, Forsten und Naturschutz vom 3. April 1996 - Az.: II A 42 - 23 d - entgegenstehen.

Doch beabsichtigt die Antragsgegnerin, den Antragsteller, sollte er seinen Wohnsitz in Kassel nehmen, zwangsweise in das "Gebiet der räumlichen Beschränkung", nämlich den Freistaat Bayern zurückzuführen, d.h. die Verlassenspflicht nach § 36 AuslG im Wege des unmittelbaren Zwangs zu vollstrecken. Dies hat sie zuletzt durch ihren Abteilungsleiter der Ausländerbehörde in einem Telefongespräch mit dem Berichterstatter am 17. Juni 1996 zum Ausdruck gebracht. Da der Antragsteller einen weiteren vorläufigen legalen Aufenthalt in Kassel erreichen will, deutet der Senat sein Rechtsschutzbegehren in einen Antrag auf Gewährung vorläufigen (vorbeugenden) Rechtsschutzes gegen die beabsichtigte Rückführung nach Bayern um.

Dieser Antrag ist nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthaft. Zwar hat die Antragsgegnerin die Anwendung unmittelbaren Zwangs gegenüber dem Antragsteller noch nicht nach §§ 53, 58 HSOG angedroht, doch ist es dem Antragsteller angesichts des bereits deutlich erklärten Willens der Antragsgegnerin nicht zuzumuten, den Erlaß der Androhung, von der unter Umständen sogar "zur Abwehr einer Gefahr" abgesehen werden kann (§ 58 Abs. 1 Satz 2 HSOG), abzuwarten (Finkelnburg-Janck, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 3. Aufl., Rdnr. 482 m.w.N.).

Der Antragsteller hat auch insoweit einen Regelungsgrund und einen Regelungsanspruch glaubhaft gemacht, ersteren deshalb, weil sein Zusammenleben mit der schwangeren Ehefrau in Kassel zur Abwendung wesentlicher Nachteile für die Familie notwendig ist (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Der Regelungsanspruch ist glaubhaft gemacht, weil überwiegende Erfolgsaussichten in der Hauptsache dafür bestehen, daß die Antragsgegnerin verpflichtet wird, den weiteren vorübergehenden Aufenthalt des Antragstellers in Kassel durch Erlaß eines entsprechenden Verwaltungsaktes in schriftlicher Form (§ 66 Abs. 1 Satz 1 AuslG) zu dulden.

Rechtsschutzziel des Antragstellers ist die Familienzusammenführung, die für Bürgerkriegsflüchtlinge wie den Antragsteller und seine Ehefrau in § 32 a Abs. 5 Satz 4 AuslG auch länderübergreifend vorgesehen ist; doch fehlen bekanntlich die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit dieser Rechtsnorm. Für das Rechtsinstitut der Duldung hat der Gesetzgeber keine Familienzusammenführung vorgesehen. Dafür bestand auch keine Veranlassung angesichts der zeitlichen Befristung der Duldung nach § 56 Abs. 2 AuslG und im Hinblick auf die Regelung für Bürgerkriegsflüchtlinge in § 32 a AuslG. Die strikte räumliche Beschränkung der Duldung auf ein Land nach § 56 Abs. 3 Satz 1 AuslG, die auch nach Auslaufen einer Duldung in Kraft bleibt (§ 44 Abs. 6 AuslG), ist nach der Konzeption des Gesetzgebers prinzipiell unabänderbar (Hailbronner, Ausländerrecht, Ergänzungslieferung Oktober 1992, § 56, Rdnr. 8), doch schließt dies die Erteilung einer weiteren Duldung aus zwingenden Gründen - beschränkt auf einen speziellen Aufenthaltszweck - (Hailbronner, a.a.O.) ebensowenig aus wie den Länderwechsel im Einvernehmen der beteiligten Länder, also eine "Umverteilung". In diesen Fällen ist § 64 Abs. 2 Satz 1 AuslG jedoch nur entsprechend anwendbar, denn diese Bestimmung bezieht sich dem Wortlaut nach nicht auf die gesetzlich angeordnete räumliche Beschränkung nach § 56 Abs. 3 Satz 1 AuslG. Dies bedeutet, daß für die Erteilung der neuen Duldung die Ausländerbehörde des aufnehmenden Landes als "andere Ausländerbehörde" i.S.v. § 64 Abs. 2 Satz 1 AuslG örtlich zuständig ist, hier also die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin. Diese bedarf hierfür des Einvernehmens der Ausländerbehörde, in dessen Zuständigkeitsbereich sich der Ausländer bisher befindet, hier also der Ausländerbehörde der Stadt Nürnberg.

Ein Rechtsanspruch des Ausländers auf Familienzusammenführung durch "Umverteilung" in begründeten Ausnahmefällen kann nach Auffassung des Senats nicht auf eine entsprechende Anwendung des § 32 a Abs. 4 Satz 4 AuslG gestützt werden; diese verbietet sich, weil die Duldung nach neuem Recht gerade kein Ersatzaufenthaltsrecht wie die im Rahmen des § 32 a AuslG zu erteilende Aufenthaltsbefugnis sein soll (vgl. Renner, AuslG, § 55, Rdnr. 2). Doch folgt ein solcher Anspruch unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 GG, wenn es den Ehepartnern ausnahmsweise nicht zuzumuten ist, bis zum Auslaufen der Duldung getrennt zu leben. Art. 6 Abs. 1 GG verstärkt die Entfaltungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG im privaten Lebensbereich (siehe BVerfG, Beschluß vom 05.02.1981, BVerfGE 57, 170 f., 178 m.w.N.) und konkretisiert hier das Übermaßverbot, das dazu zwingt, Befreiungen von schematisierenden Belastungen zu erteilen, wenn die Folgen extrem über das normale Maß hinausgehen, das der Schematisierung etwa durch eine gesetzliche Regelung zugrundeliegt (BVerfG, Beschluß vom 05.04.1978, BVerfGE 48, 102 ff., 116).

So liegt der Fall hier. Zwar ist der Schutz der Familie bei kurzen, überschaubaren Trennungszeiten nicht berührt, denn es kommt häufiger vor, daß Familienangehörige nicht zusammenleben können. Im vorliegenden Fall ist aber die Schwelle der hinnehmbaren Belastungen überschritten, denn die Familie des Antragstellers ist mindestens noch bis Mai 1997 in Deutschland zu dulden. Dies ergibt sich aus dem Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für Landwirtschaft, Forsten und Naturschutz vom 30. April 1996, wonach die Rückführung der Familie des Antragstellers erst in der sogenannten zweiten Phase (1. Mai bis 31. August 1997) zulässig ist. Im übrigen steht noch nicht fest, ob diese Frist ebenso wie die Frist in der sogenannten ersten Phase überhaupt realisiert werden kann. Die Entscheidung der Beigeladenen, den Antragsteller als der ersten Phase zugehörig anzusehen, ist deshalb unverständlich, zumal im Freistaat Bayern dieselbe Erlaßlage gelten dürfte wie in Hessen. Schließlich bemüht sich der Antragsteller schon seit über einem Jahr - siehe seinen Antrag vom 4. Mai 1995 - um die Beendigung des Getrenntlebens.

Es kommt hier hinzu, daß die schwangere Ehefrau des Antragstellers laut Ärztlichem Attest vom 6. Mai 1996 an psychosomatischen Beschwerden leidet und die Unterstützung durch den Ehemann benötigt, da sie nach einer Fehlgeburt im vergangenen Jahr Angst um die jetzige Schwangerschaft hat. Diese besondere Situation ist auch der Antragsgegnerin nicht verborgen geblieben, die gleichwohl der Ehefrau des Antragstellers zumutet, einen Antrag auf Zuzug nach Bayern zu stellen, sofern sie die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Ehemann herstellen wolle. Für dieses Ansinnen hat der Senat kein Verständnis, da dem ärztlichen Attest wohl auch zu entnehmen ist, daß es für die Gesundheit der Ehefrau des Antragstellers nicht zuträglich wäre, diese aus ihren gewohnten Lebensverhältnissen herauszureißen. Frau D. hat dem Gericht mit Schreiben vom 13. März 1996 mitgeteilt, daß sie in Kassel Freunde habe, hier lebten auch einige Familienangehörige.

Es ist dem Antragsteller auch nicht zuzumuten, kurzfristig Deutschland zu verlassen, um dann nach Wiedereinreise in Hessen erneut eine Duldung zu beantragen. Mit der Ausreise würde nämlich die dem Antragsteller erteilte Duldung nach § 56 Abs. 4 AuslG erlöschen. Auch die Regelungen des Erlasses des Hessischen Ministeriums des Innern vom 3. April 1996 kämen dem Antragsteller nicht mehr zugute, da sie nur für Bürgerkriegsflüchtlinge gelten, die vor dem 16.12.1995 nach Deutschland eingereist sind.

Zum weiteren Verfahren weist der Senat darauf hin, daß eine Duldung auch von Amts wegen erteilt werden kann (Renner, Ausländerrecht, § 55 AuslG, Rdnr. 3). Die Vertreterin der Ausländerbehörde der Stadt Nürnberg hat gegenüber dem Berichterstatter in einem Telefongespräch am 17. Juni 1996 zum Ausdruck gebracht, daß selbstverständlich von seiten der Stadt Nürnberg keine Bedenken gegen die "Umverteilung" des Antragstellers nach Hessen bestünden.

Aus diesem Grunde erschien dem Senat auch die Anhörung der Stadt Nürnberg zu der in diesem Beschluß nachgeholten Beiladung entbehrlich, die nach § 65 Abs. 2 VwGO notwendig auszusprechen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes auf § 13 Abs. 1 und 20 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluß ist nach § 152 Abs. 1 VwGO und § 25 Abs. 2 GKG unanfechtbar.