Hessischer VGH, Beschluss vom 29.05.1995 - 13 TH 3165/94
Fundstelle
openJur 2012, 20693
  • Rkr:
Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet. Sie führt - unter Abänderung der Entscheidung der Vorinstanz - zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verfügung des Oberbürgermeisters der Antragsgegnerin vom 25. März 1993, mit der der Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt und ihm unter Fristsetzung die Abschiebung in sein Herkunftsland angedroht worden ist.

Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, daß der Aussetzungsantrag des Antragstellers zulässig, insbesondere gemäß § 80 Abs. 5 VwGO statthaft ist, und zwar sowohl hinsichtlich der kraft Gesetzes (§§ 80 Abs. 2 Nr. 3, 187 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 12 Hessisches Ausführungsgesetz zur VwGO) sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung als auch bezüglich der Versagung der begehrten Aufenthaltsgenehmigung. Dem Antragsteller wurde durch die Ablehnung der von ihm erstrebten Aufenthaltsgenehmigung nicht nur eine Begünstigung versagt, vielmehr wurde hierdurch - sofort vollziehbar (§ 72 Abs. 1 AuslG) - in eine zu seinen Gunsten bis dahin bestehende Rechtsposition belastend eingegriffen. Der Aufenthalt des Antragstellers galt nämlich bis zur Bescheidung seines Antrages fiktiv als geduldet, da er zur Zeit seiner Einreise gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG vom Erfordernis einer Aufenthaltsgenehmigung befreit war und rechtzeitig vor Vollendung seines 16. Lebensjahres bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung gestellt hat.

Der Eilantrag ist auch begründet.

Einem zulässigen Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist dann zu entsprechen, wenn eine Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen des Antragstellers an einer Aussetzung der Vollziehung einerseits und des öffentlichen Interesses an dem Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes andererseits unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfes ergibt, daß dem Interesse des betreffenden Antragstellers, von Vollzugsmaßnahmen verschont zu bleiben, der Vorrang gebührt. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn sich der von ihm angefochtene Verwaltungsakt schon nach der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig darstellt, da an der Vollziehung rechtswidriger Verwaltungsakte von vornherein kein öffentliches Interesse bestehen kann. Umgekehrt ist der Aussetzungsantrag dann abzulehnen, wenn die überschlägige tatsächliche und rechtliche Überprüfung ergibt, daß der beanstandete Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig und sein Vollzug eilbedürftig erscheint. Ergibt eine überschlägige tatsächliche und rechtliche Überprüfung, daß der angefochtene Verwaltungsakt weder offensichtlich rechtmäßig noch offensichtlich rechtswidrig ist, ist unter Abwägung der gegenseitigen Belange und unter Beachtung des sich abzeichnenden Verfahrensausganges in der Hauptsache darüber zu befinden, welchen der sich gegenüberstehenden Interessen im Einzelfall das größere Gewicht beizumessen ist.

In Anwendung dieser Grundsätze überwiegt das Aufschubinteresse des Antragstellers jedenfalls gegenwärtig das öffentliche Interesse an einer baldigen Beendigung seines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland.

Die Ablehnung einer Aufenthaltsgenehmigung durch die Antragsgegnerin erweist sich nämlich jedenfalls im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung des Senats als offensichtlich rechtswidrig. Auf diesen Zeitpunkt ist - was die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verfügung angeht - abzustellen, weil ein Widerspruchsbescheid noch nicht ergangen ist. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit folgt daraus, daß die Antragsgegnerin bislang von dem ihr in § 20 Abs. 3 Satz 1 AuslG eingeräumten Ermessen noch nicht Gebrauch gemacht hat, weil sie offenbar der Auffassung war, die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm lägen im Falle des Antragstellers nicht vor.

Gemäß § 20 Abs. 3 Satz 1 AuslG kann von der in § 20 Abs. 2 Nr. 1 AuslG für den Kindernachzug aufgestellten Voraussetzung, daß entweder beiden Elternteilen oder im Falle der Verwitwung dem überlebenden Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung erteilt worden ist, abgesehen werden, sofern die Eltern nicht oder nicht mehr miteinander verheiratet sind. Zwar konnte die Antragsgegnerin aufgrund der Sachlage, wie sie sich ihr gegenüber zur Zeit der Entscheidung über den Antrag des Antragstellers darstellte, davon ausgehen, daß im Falle des Antragstellers die Voraussetzungen des § 20 Abs. 3 Satz 1 AuslG nicht erfüllt waren. Denn daß die Ehe der leiblichen Eltern des Antragstellers bereits am 16. Juli 1992 vor dem Amtsgericht Nador (Marokko) geschieden und das Sorgerecht über den Antragsteller auf dessen Vater übertragen worden war, wurde erst durch Schreiben des früheren Bevollmächtigten des Antragstellers vom 27. Juli 1993 an das Regierungspräsidium aktenkundig.

Indes wird die Widerspruchsbehörde zu prüfen haben, ob die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Antragsteller auf der Grundlage des § 20 Abs. 3 Satz 1 AuslG in Betracht kommt. Denn sowohl zum Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers am 20. Juli 1992 als auch am Tage des Erstantrages am 28. August 1992 waren die Erteilungsvoraussetzungen des § 20 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 AuslG gegeben. Die Ehe der Eltern des Antragstellers war nämlich am 16. Juli 1992 geschieden sowie dem Vater des Antragstellers das Sorgerecht übertragen worden, und der am 14. September 1976 geborene Antragsteller hatte noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet.

Hinsichtlich der Altersgrenze des § 20 Abs. 2 Nr. 2 AuslG hat der 12. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs entschieden, daß in bezug auf den gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht befreiten Personenkreis maßgeblich auf den Zeitpunkt der erlaubnisfreien Einreise abzustellen ist. Es ergäbe sich nämlich eine vom Gesetz- und Verordnungsgeber nicht beabsichtigte Benachteiligung dieser Ausländer gegenüber von vornherein aufenthaltsgenehmigungspflichtigen, wenn auf einen späteren Zeitpunkt, etwa den der Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder gar den einer gerichtlichen Entscheidung abgestellt werde. Tatsächlich handele es sich nämlich bei einer solchen formal erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung um die Verlängerung der Genehmigung für einen bereits rechtmäßig begründeten Aufenthalt (Hess. VGH, Beschluß vom 10. März 1993 - 12 TH 2740/92 -, EZAR 622 Nr. 19; ebenso VGH Baden-Württemberg, Beschluß vom 26. Februar 1992 - 11 S 2545/91 -). Der beschließende Senat teilt sowohl diese Rechtsauffassung als auch die vom VGH Baden-Württemberg vertretene Ansicht, daß es anderenfalls die Behörde in der Hand hätte, die erfolgreiche Geltendmachung eines Nachzugsrechts gemäß § 20 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 AuslG allein dadurch zu vereiteln, daß sie erst nach Vollendung des 16. Lebensjahres über einen rechtzeitig gestellten Antrag befindet (VGH Baden-Württemberg, Beschluß vom 12. Juli 1994 - 11 S 2708/93 -).

Ist somit bereits im Hinblick auf das Alterserfordernis des § 20 Abs. 2 Nr. 2 AuslG auf den Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers abzustellen, so bedingt dies zugleich, daß dieser Zeitpunkt auch für die Beantwortung der Frage maßgebend ist, ob der Nachzug gemäß § 20 Abs. 3 Satz 1 AuslG zu einem im Bundesgebiet erlaubtermaßen sich aufhaltenden ledigen oder geschiedenen Elternteil gestattet werden kann. Es ist nämlich, wie der Senat bereits mit Beschluß vom 7. Januar 1992 (13 TH 1276/91) entschieden hat, nicht zulässig, hinsichtlich des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des § 20 Abs. 2 Nr. 1 AuslG bzw. der für eine Ausnahmeregelung gemäß Abs. 3 Satz 1 erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen einerseits und der in Abs. 2 Nr. 2 bestimmten Altersgrenze andererseits an unterschiedliche Zeitpunkte anzuknüpfen. Weder sind stichhaltige Gründe dafür ersichtlich noch entspricht es der Intention des Gesetzgebers, den für eine Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt hinsichtlich einzelner Erteilungsvoraussetzungen aufzuspalten und unterschiedlich festzusetzen.

Sind somit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 20 Abs. 3 Satz 1 AuslG im Falle des Antragstellers erfüllt, liegt die Entscheidung über den Antrag auf Erteilung der beantragten Aufenthaltsgenehmigung im Ermessen der Ausländerbehörde (vgl. z. B. Hess. VGH, Beschluß vom 7. Januar 1992, a.a.O.; Beschluß vom 10. März 1993, a.a.O.). Daß sich allein eine Ablehnung der beantragten Aufenthaltsgenehmigung als ermessensgerecht erweisen würde, ist zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde des Antragstellers nicht ersichtlich, so daß dem Eilantrag des Antragstellers sowohl hinsichtlich der Versagung der Aufenthaltsgenehmigung als auch - da es nunmehr an einer vollziehbaren Ausreisepflicht fehlt - bezüglich der Abschiebungsandrohung zu entsprechen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die Festsetzung des Streitwertes auf den §§ 14 Abs. 1 - analog -, 13 Abs. 1, 20 Abs. 3, 73 Abs. 1 Satz 3 GKG.

Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 2 Satz 2 GKG).