Hessischer VGH, Urteil vom 20.03.1989 - 12 UE 2192/86
Fundstelle
openJur 2012, 18741
  • Rkr:
Tatbestand

Der am ... in Ayinvert, Bezirk Midyat, Provinz Mardin, geborene Kläger zu 1) und die ... am ... - laut Paß in Ayinvert, laut Nüfus in Midyat - geborene Klägerin zu 2) sind Eheleute. Die am 1. April 1970 bzw. am 20. Juli 1972 in Istanbul geborenen Kläger zu 3) und 4) sind die gemeinsamen Kinder der Kläger zu 1) und 2). Sämtliche Kläger sind türkische Staatsangehörige syrisch-orthodoxen Glaubens. Der Kläger zu 1) verließ die Türkei am 24. Oktober 1978 über Edirne-Kapikule und reiste mit dem Bus u.a. über Bulgarien, Jugoslawien und Österreich am 26. Oktober 1978 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er war im Besitz eines am 21. September 1978 in Istanbul ausgestellten und für zwei Jahre gültigen türkischen Nationalpasses. Eine Vorsprache beim türkischen Generalkonsulat zum Zwecke der Verlängerung dieses Passes lehnte der Kläger zu 1) unter Hinweis auf mögliche nachteilige Folgen für in der Türkei verbliebene Familienmitglieder und Verwandte wegen seines Asylverfahrens mit anwaltlichem Schreiben vom 25. November 1981 ab. Die Kläger zu 2) bis 4) waren bereits am 9. Juni 1979 - mit dem Flugzeug aus Istanbul kommend - über Frankfurt am Main eingereist. Die Klägerin zu 2) verfügte über einen am 16. Mai 1979 in Istanbul ausgestellten und ebenfalls für zwei Jahre gültigen Nationalpaß, in dem auch die Kläger zu 3) und 4) eingetragen waren. Nach den in beiden Pässen enthaltenen Nüfuseintragungen sowie nach den Eintragungen in den Nüfen der Kläger zu 1) und 2) ist die Familie in dem Dorf Ayinvert (türkisch: Gülgöze), Bezirk Midyat, Provinz Mardin, registriert. Die Klägerin zu 4) hat am 7. Januar 1988 einen türkischen Staatsangehörigen geheiratet, der rechtskräftig als Asylberechtigter anerkannt ist; ihr wurde deshalb eine zunächst bis zum 24. Februar 1990 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.

Die Eltern ... des Klägers zu 1) waren bereits am 18. August 1980 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist; sie wurden rechtskräftig als Asylberechtigte anerkannt (VG Wiesbaden ...); ist Ende 1988 verstorben. Der am 12. Mai 1955 geborene Bruder des Klägers zu 1) und seine Familie reisten am 7. September 1980 ein; ihr Asylverfahren ist noch in zweiter Instanz rechtshängig (Hess.VGH ...). Der am 1. Mai 1960 geborene Bruder des Klägers zu 1) war am 16. September 1979 mit seiner Familie eingereist; sein und seiner Ehefrau Asylverfahren schwebt ebenfalls noch beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof (...); der Asylantrag ihres Kindes ist sinngemäß zurückgenommen, der zunächst ergangene ablehnende Bescheid des Bundesamts insoweit rechtskräftig aufgehoben worden (VG Wiesbaden ...). Der am 10. Juli 1966 geborene Bruder des Klägers zu 1), der zusammen mit den Eltern hierher gekommen war, ist rechtskräftig anerkannter Asylberechtigter (VG Wiesbaden ...). Die drei Schwestern des Klägers zu 1) sind verheiratet; sie heißen nunmehr bzw. und leben in P bei G und S sowie in Belgien. Die Eltern und der Klägerin zu 2) sowie ihre drei Brüder, und leben allesamt in Schweden; von ihren drei Schwestern wohnt eine in G, eine in der Schweiz und eine in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Bereits am 29. November 1978 hatte der Kläger zu 1) zur Niederschrift der Ausländerbehörde Asyl beantragt und hierbei als Religion "christl.-orthodox", als letzte Anschrift im Heimat-/Herkunftsland "Istanbul", als erlernten Beruf "Koch und Goldschmied" und als letzte Berufstätigkeit im Heimat-/Herkunftsland "Goldschmied" angegeben; unter der Rubrik "Sprachkenntnisse" war "türkisch und aramäisch" eingetragen worden. Im übrigen hatte der Kläger sein Asylbegehren wie folgt begründet: Er werde wegen seines christlichen Glaubens in der Türkei verfolgt. In Istanbul habe er einen Goldschmiedeladen betrieben; zweimal seien von Mohammedanern grundlos die Scheiben eingeschlagen worden. Er habe seine Waren auch in Ankara verkauft; auf der Fahrt dorthin hätten ihm Unbekannte seine Tasche mit Gold geraubt und ihn zusammengeschlagen; die Polizei habe die Täter zwar zunächst festgenommen, sie aber bald wieder freigelassen; sein Gold habe er nicht zurückbekommen; er nehme an, daß die Täter den Polizisten gesagt hätten, daß er Christ sei; Christen helfe die Polizei nämlich nicht. Er habe in Istanbul auch keine ausreichend große Wohnung für seine Familie finden können; immer wenn die Hauseigentümer gemerkt hätten, daß er Christ sei; habe er eine ablehnende Antwort erhalten. Am 23. Juli 1979 wurde bei der Ausländerbehörde auch die Niederschrift über die Asylbegehren der Kläger zu 2) bis 4) aufgenommen. Hierbei gab die Klägerin zu 2) als Religion "christlich orthodox" und als letzte Anschrift im Heimat-/Herkunftsland "Istanbul" an und ließ unter der Rubrik Sprachkenntnisse "türkisch, aramäisch" eintragen; außerdem wurde durch Ankreuzen klargestellt, daß sich das Asylbegehren auch auf die Kläger zu 3) und 4) erstreckt. Im übrigen bestätigte die Klägerin zu 2) das Vorbringen des Klägers zu 1) vom 29. November 1978, welches ihr der Dolmetscher vermittelt habe. Sie fühle sich in gleichem Maße wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt wie der Kläger zu 1) und darüber hinaus noch in besonderem Maße als Frau. Sie habe sich nämlich wegen der Mohammedaner nicht auf die Straße trauen können, weil diese Christen als vogelfrei ansähen und sie deshalb Gefahr liefen, vergewaltigt zu werden.

Anläßlich seiner Anhörung im Rahmen der Vorprüfung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 19. August 1980 in Nürnberg legte der allein erschienene Kläger zu 1) eine schriftliche Erklärung der Klägerin zu 2) vor, wonach sie ihn bevollmächtige, auch für sie auszusagen, und seine Aussage anerkenne. Der Kläger zu 1) ergänzte die Angaben bei der Ausländerbehörde wie folgt: Er habe fünf Jahre die Grundschule besucht; die Klägerin zu 2) sei nicht zur Schule gegangen. Er habe seit 17 Jahren in Istanbul gelebt, die Klägerin zu 2) seit ihrer Heirat im Jahre 1968. Während seines Militärdienstes in den Jahren 1970 bis 1972 sei er von seinen Vorgesetzten mißhandelt worden; als er sich beim nächsthöheren Vorgesetzten beschwert habe, sei er geschlagen, und ihm sei gesagt worden, er würde nicht benachteiligt, wenn er Moslem wäre. Drei Jahre vor der Ausreise habe er einen Goldschmiedeladen erworben, in dem ein weiterer Goldschmied selbständig tätig gewesen sei. Von ihrem Einkommen hätten sie gut leben können. Anfang 1978 sei sein bei ihm in Ausbildung befindlicher Bruder auf dem Nachhauseweg von Unbekannten mit der Pistole bedroht und aufgefordert worden, das mitgeführte Gold herauszugeben. Bei den Tätern könne es sich nur um Moslems gehandelt haben, da Christen sich nicht gegenseitig beraubten. Etwa im Mai 1978 sei das Geschäft nachts von Unbekannten geplündert worden, weil sie Christen seien. Sie hätten Anzeige erstattet; die Polizei habe aber nichts unternehmen können, weil sie die Täter nicht gekannt hätten. In einem anderen Fall habe ein von ihm beauftragter Vertrauensmann, der Gold habe verkaufen sollen, von dem Abnehmer kein Geld dafür bekommen, vermutlich weil sie Christen seien. Ferner habe er jetzt erfahren, daß ein Verwandter in der Türkei umgebracht worden sei, der ebenfalls Goldschmied gewesen sei. Als Christen würden sie überall belästigt; man verlange von ihnen, daß sie zum islamischen Glauben überträten. Unter diesen Umständen hätten sie in der Türkei nicht mehr leben können.

Mit Bescheid vom 14. Januar 1983 - zugestellt am 25. Februar 1983 - lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Asylanträge der Kläger ab. Zur Begründung wurde ausgeführt: Es sei nicht ersichtlich, daß die Christen in der Türkei allgemein in asylerheblicher Weise verfolgt wären und daß darüber hinaus im vorliegenden Fall für die Ausreise aus der Türkei politische Verfolgung ursächlich gewesen sei oder daß bei einer Rückkehr mit asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen gerechnet werden müsse. Weder gebe es in der Türkei eine gezielte staatliche Verfolgung von Angehörigen der christlichen Minderheit, noch könne von einer generellen Duldung, Untätigkeit oder gar Unterstützung des türkischen Staats bei Übergriffen Dritter die Rede sein, wenngleich die türkische Regierung nicht in jedem Fall die Sicherheit des Einzelnen garantieren könne. Die Folgen der früheren desolaten innenpolitischen Zustände hätten im übrigen nicht nur die christlichen Minderheiten, sondern die türkische Bevölkerung in ihrer Gesamtheit getroffen. Das Vorbringen, in Istanbul religiöser Verfolgung Dritter ausgesetzt gewesen zu sein bzw. aus diesem Grund dorthin nicht zurückkehren zu können, überzeuge nicht. Insbesondere habe sich durch den Machtwechsel die Sicherheitslage grundlegend gebessert, und deshalb bestehe auch für vom Lande nach Istanbul ziehende Christen die Möglichkeit, sich dort einen Arbeits- und Sozialkreis zu schaffen. Gegen die geltend gemachten Bedrohungen bzw. Übergriffe von Privatpersonen sei der Schutz des türkischen Staats in Anspruch zu nehmen. Daß den Klägern gezielt staatlicher Schutz verweigert worden sei, hätten sie nicht glaubhaft gemacht. Nach dem vorliegenden Informationsmaterial sei im übrigen davon auszugehen, daß auch Christen bei Anrufung der Gerichte in der Türkei zu ihrem Recht gelangen könnten. Gegen die behauptete Verfolgungsfurcht und insbesondere die Intensität der geltend gemachten Gefährdungen spreche überdies, daß der Kläger zu 1) zunächst allein ausgereist sei und gerade die weniger Schutzfähigen zurückgelassen habe. Aus dem weiteren Sachvortrag der Kläger ergäben sich ebenfalls keine Gesichtspunkte, die zu einer Anerkennung führen könnten. Für die Kläger zu 3) und 4) seien eigene Asylgründe ohnehin nicht dargetan.

Mit Bescheiden vom 24. Februar 1983 forderte der Oberbürgermeister der Universitätsstadt G die Kläger zu 1) und 2) zur Ausreise auf und drohte ihnen für den Fall, daß sie nicht innerhalb eines Monats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit dieser Bescheide und des Bescheids des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Geltungsbereich des Ausländergesetzes verließen, die Abschiebung an.

Mit Schriftsatz vom 23. März 1983, der am selben Tage einging, erhoben die Kläger gegen den Bundesamtsbescheid und die Ausreiseaufforderungen Klage.

Zur Begründung ihrer Asylverpflichtungsklage trugen sie durch ihre Bevollmächtigten vor: Sie gehörten zur Volksgruppe der Aramäer mit syrischer Glaubensrichtung. Die Aramäer würden aus ethnischen und religiösen Gründen von der moslemischen Bevölkerungsmehrheit verfolgt. Die türkischen Behörden gewährten hiergegen keinen Schutz, sondern beteiligten sich selbst an Verfolgungsmaßnahmen. Im übrigen bezögen sie sich auf ihr bisheriges Vorbringen. Die Anfechtungsklage gegen die Ausreiseaufforderungen müsse schon deshalb Erfolg haben, weil diese zum jetzigen Zeitpunkt - da der Ausgang des Asylverfahrens offen sei - noch nicht hätten ergehen dürfen. Die maßgeblichen Verhältnisse könnten sich nämlich bis zum Eintritt der Rechtskraft des asylrechtlichen Verfahrensteils ändern; jedenfalls sei die gesetzte Ausreisefrist von einem Monat unangemessen kurz.

In der mündlichen Verhandlung am 24. Juni 1986 bestätigten die Kläger zu 1) und 2) das bisherige Vorbringen. - Der Kläger zu 1) erklärte ergänzend: Er habe vor seiner Ausreise ungefähr 16 Jahre lang in Istanbul gelebt; dennoch sei sein Türkisch nicht erstklassig; das gelte auch für die Klägerin zu 2). Während seines Wehrdienstes sei er heftig schikaniert worden; man habe ihn zwangsbekehren wollen, und er habe immer nachts Wachdienst leisten müssen; auch habe er eine Zwangsbeschneidung befürchtet. Für Christen sei es schwer, in Istanbul eine Wohnung zu finden. Sie selbst hätten zunächst auf der Istanbul vorgelagerten Insel Büyükada gewohnt. Dort hätten türkische Staatsbürger griechisch-orthodoxen Glaubens ein Waisenhaus unterhalten. Er habe in der zugehörigen Schule als Koch gearbeitet. Als das Waisenhaus anläßlich der Zypernkrise im Jahre 1974 geschlossen worden sei, hätten sie zunächst bei Armeniern gewohnt, bis diese ihr Haus verkauften und Istanbul verließen. Er habe für ein Jahr in einer Textilfabrik gearbeitet. Dort sei er, als man seinen Glauben erfahren habe, ständig als Gottloser beschimpft worden; seine moslemischen Arbeitskollegen - außer ihm habe es nur noch einen Kurdisch sprechenden Christen gegeben - hätten mit ihm auch keinen privaten Kontakt haben wollen; er habe die Arbeit in der Fabrik deshalb freiwillig aufgegeben. Ein Freund habe ihn schließlich unter Hinweis darauf, daß er als Selbständiger besser seine Religion verbergen könne, überredet, mit ihm eine kleine Goldschmiedewerkstatt aufzumachen, in der sie ausschließlich Ketten hergestellt hätten. Einmal sei in der Nacht in sein Geschäft eingebrochen und Gold gestohlen worden. Er nehme an, daß Täter die Inhaber eines benachbarten Schusterladens gewesen seien, die auch nachts gearbeitet hätten. Als er diese angezeigt habe, hätten ihm die Polizisten erklärt, daß man den Nachbarn nichts nachweisen und deshalb einstweilen nichts unternommen werden könne. Die Nachbarn hätten ihm beim Verlassen der Polizeistation aufgelauert und derart geschlagen, daß er eine Platzwunde davongetragen und noch heute eine Narbe am Hinterkopf habe. Ein Freund habe ihn anschließend versorgt, ärztliche Hilfe habe er aus finanziellen Gründen nicht in Anspruch genommen. Bei der Schlägerei habe die von einem anderen Christen verständigte Polizei ein Eingreifen mit dem Bemerken abgelehnt, es werde wohl niemand umgebracht. Auch sei auf seine anschließende Anzeige keiner der Täter festgenommen worden. Diese hätten in der Folgezeit offen gedroht, ihn umzubringen. Daraufhin sei er allerdings nicht nochmals bei der Polizei gewesen, da dies schon zuvor ohne Erfolg geblieben sei. Im Jahre 1978 sei ein moslemischer Vertrauensmann, der ihm, dem Kläger zu 1), aus Ankara Goldringe und -reifen habe überbringen sollen, unterwegs ausgeraubt worden; die Täter seien ihm unbekannt und hätten nie ermittelt werden können. Auch sonst sei für sie, die Kläger, das Leben unter Moslems schwierig gewesen; man habe sie am Namen als Christen erkannt und nicht in Ruhe gelassen. Andere Läden von Christen hätten nur existieren können, weil die Inhaber sich sehr neutral und bedeckt gehalten hätten. Sie, die Kläger, seien vor allem in der moslemischen Fastenzeit als Ungläubige beschimpft worden, und während des Zypernkonflikts hätten die Moslems ihre Wut an ihnen ausgelassen. Eine weitere Schikane sei etwa gewesen, daß der Klägerin zu 2) anläßlich einer Mandeloperation eine stationäre Aufnahme ins Krankenhaus als Christin versagt worden sei. Der Kläger zu 3), der zur türkischen Schule gegangen sei und etwas Türkisch spreche, sei bisweilen ebenfalls als Ungläubiger beschimpft worden; ihm sei beim Einkaufen von Moslems ab und zu das Geld abgenommen worden; einmal habe man ihn sogar mit einem Messer bedroht. Eine Rückkehr ins Heimatdorf, wo damals noch ein zwischenzeitlich verstorbener Onkel gewohnt habe, sei nicht in Betracht gekommen. - Die Klägerin zu 2) erklärte: Es sei schon im Dorf zu Überfällen durch Moslems - beispielsweise zu Viehdiebstählen - gekommen. Auch in Istanbul habe es Schikanen gegeben, zumal sie an ihrem Vornamen als Christin zu erkennen sei. Einmal habe sie ihre Tochter mit Fieber ins Krankenhaus gebracht. Dort habe die Krankenschwester mit einem bereits defekten Thermometer das Fieber gemessen und sie danach beschuldigt, das Thermometer beschädigt zu haben. Auch seien sie, wenn sie im Bus Aramäisch sprachen, ständig hin- und hergestoßen sowie aufgefordert worden, Türkisch zu sprechen.

Die Kläger beantragten,

die Beklagte zu 1) unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 14. Januar 1983 zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen, sowie die Bescheide des Oberbürgermeisters der Universitätsstadt G vom 24. Februar 1983 aufzuheben.

Die Beklagte zu 1) beantragte,

die Klage abzuweisen.

Sie vertrat die Auffassung, im Anerkennungsverfahren vor dem Bundesamt sei zutreffend festgestellt worden, daß ein Anspruch auf Asylgewährung nicht bestehe.

Die Beklagte zu 2) beantragte unter Bezugnahme auf die angefochtenen Ausreiseaufforderungen ebenfalls,

die Klage abzuweisen.

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten äußerte sich nicht.

Das Verwaltungsgericht wies mit Urteil vom 24. Juni 1986 die Klagen unter Zulassung der Berufung ab und führte zur Begründung aus: Die Asylverpflichtungsklage der Kläger sei unbegründet, denn diese hätten keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte. Sie seien vor ihrer Ausreise weder vom türkischen Staat noch in diesem zurechenbarer Weise von Dritten politisch verfolgt worden. Soweit der Kläger zu 1) einen Überfall auf einen aus Ankara kommenden Vertrauensmann angeführt habe, sei - abgesehen von Widersprüchen im Sachvortrag - weder eine politische Motivation ersichtlich, noch sei dargetan, daß die polizeilichen Ermittlungen nachlässig und zögerlich erfolgten. Entsprechendes gelte für den nächtlichen Einbruch in sein Geschäft, auf den der Kläger zu 1) sich außerdem berufe. Auch wenn der Kläger von den von ihm der Tat Verdächtigten tatsächlich verprügelt worden sein sollte, erscheine hierfür Rache wegen der Anzeige bei der Polizei als Motiv und nicht die Religion des Klägers zu 1); das Nichteingreifen der Polizei bei der Schlägerei könne darauf beruhen, daß diese die Vorkommnisse nicht als hinreichend bedeutsam angesehen habe. Die des weiteren geltend gemachten Schikanen beim Militär lägen zeitlich so weit zurück, daß sie nicht ursächlich für die Ausreise gewesen seien. Soweit die Klägerin zu 2) sich darauf berufe, ihr sei eine stationäre Aufnahme in ein Krankenhaus versagt worden, könne dies medizinische Gründe gehabt haben. Die übrigen von ihr und in bezug auf den Kläger zu 3) angegebenen Umstände seien schon von ihrer Intensität her nicht asylerheblich. Eine Anerkennung der Kläger aus Gründen der Gruppenverfolgung komme gleichfalls nicht in Betracht, denn sie seien einer solchen weder zur Zeit ihrer Ausreise noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausgesetzt (gewesen). Ob eine Gruppenverfolgung syrisch-orthodoxer Christen im Osten der Türkei angenommen werden könne, sei insoweit unerheblich, weil die Kläger vor ihrer Ausreise 16 Jahre lang in Istanbul gelebt hätten. Es könne aber nicht davon ausgegangen werden, daß syrisch-orthodoxen Christen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Gruppenverfolgung in Istanbul drohe. Die allgemeine Verbesserung der Sicherheitslage habe sich auch zu ihren Gunsten ausgewirkt. Sie seien zwar gewissen administrativen Benachteiligungen ausgesetzt; es sei ihnen in Istanbul jedoch möglich, ihren Glauben auszuüben. Es lägen auch keine Hinweise vor, daß der türkische Staat bei Rechtsverletzungen von privater Seite syrisch-orthodoxen Christen den Rechtsschutz verweigere. Die Anfechtungsklage gegen die Ausreiseaufforderungen der Beklagten zu 2) sei ebenfalls unbegründet; diese seien rechtmäßig, und die Kläger hätten auch weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren irgendwelche Einwände hiergegen erhoben.

Gegen dieses am 11. Juli 1986 an sie abgesandte Urteil haben die Kläger mit Schriftsatz vom 18. Juli 1986 - eingegangen am 11. August 1986 - Berufung eingelegt. Da die Bescheide der Beklagten zu 2) vom 24. Februar 1983 gegenstandslos sind, weil die Kläger zu 1) und 2) nach dem endgültigen Abschluß ihres Asylverfahrens - ungeachtet des Ergebnisses - ohnehin Aufenthaltserlaubnisse aufgrund des Erlasses des Hessischen Ministers des Innern vom 23. Dezember 1985 (StAnz. 1986, S. 168) erhalten werden, haben die Kläger zu 1) und 2) sowie die Beklagte zu 2) den Rechtsstreit hinsichtlich des ausländerrechtlichen Verfahrensteils in der Hauptsache für erledigt erklärt.

Zur Begründung ihrer Asylbegehren berufen sich die Kläger auf die zugunsten syrisch-orthodoxer Christen ergangene Rechtsprechung und machen geltend: Bei der Abgabe ihrer Erklärungen vor dem Verwaltungsgericht habe es Übersetzungsschwierigkeiten gegeben. Die Kläger zu 1) und 2) seien bereits im Heimatdorf religiös verfolgt worden; insbesondere habe man ihnen Vieh und Erntegut gestohlen. Fast die gesamte christliche Dorfbevölkerung sei zwischenzeitlich ins Ausland geflohen, da die türkischen Behörden religiös motivierte Übergriffe von moslemischen Nachbarn tatenlos hingenommen hätten; derzeit lebten allenfalls noch 10 bis 20 christliche Familien in Ayinvert; Häuser und Ländereien der abgewanderten Christen hätten sich Moslems angeeignet; eine der drei christlichen Kirchen dürfe auf behördliche Anweisung nicht mehr benutzt werden, eine weitere sei in eine Moschee umgewandelt worden. Der Kläger zu 1) sei darüber hinaus während seiner Militärdienstzeit religiös verfolgt worden; er habe ständig Schikanen hinnehmen müssen, sei zu unangenehmen Diensten eingeteilt und zum Übertritt zum Islam aufgefordert sowie mit zwangsweiser Beschneidung bedroht worden; auf seine Beschwerde habe ein Vorgesetzter ihn geschlagen und ihm ebenfalls zum Glaubenswechsel geraten. Eine inländische Fluchtalternative hätten sie in Istanbul zwar gesucht, jedoch nicht gefunden. Vielmehr hätten sie dort die Situation ständiger Anfeindungen, Beleidigungen und Bedrohungen täglich erleben müssen. Zunächst hätten sie allerdings in einer griechisch-orthodoxen Gemeinde relativ unbehelligt leben können, seien später aber gezwungen gewesen, in einem moslemischen Wohnviertel zu leben, wo die Klägerin zu 2) die Wohnung nicht mehr habe verlassen können. Auch der Kläger zu 1) sei an seiner Arbeitsstelle ständigen Diskriminierungen und Schikanen ausgesetzt gewesen, so daß er sich schließlich selbständig gemacht habe. Nach Überfällen und Mißhandlungen habe er sein Geschäft jedoch aufgeben müssen. Er wisse aufgrund ständiger vorausgegangener Anfeindungen seitens seiner moslemischen Nachbarn, daß die genannten Übergriffe gezielte Aktionen gegen ihn als Christen gewesen seien, wobei die türkischen Behörden keine Maßnahmen zu seinem Schutz ergriffen hätten. Der bei der Vorprüfungsanhörung erwähnte Bruder des Klägers zu 1), der seinerzeit bei ihm zur Ausbildung gewesen und auf dem Heimweg überfallen worden sei, sei übrigens gewesen. Die Kläger zu 3) und 4) seien in der türkischen Schule zum islamischen Religionsunterricht gezwungen und ständig von Mitschülern und Lehrern wegen ihrer Religionszugehörigkeit geschlagen worden. Im Rückkehrfalle bestehe eine zumutbare Existenzmöglichkeit für sie weder in Istanbul - zumal sie kaum türkische Sprachkenntnisse hätten - noch im Südosten der Türkei. Ihre sämtlichen nahen Verwandten, insbesondere ihre Eltern und Geschwister, befänden sich im Bundesgebiet; sie hätten deshalb in der Türkei keinen verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt mehr. Die Klägerinnen zu 2) und 4) wären zudem einer akuten Entführungsgefahr ausgesetzt. Der Kläger zu 3) müsse überdies wegen seiner bevorstehenden Militärdienstzeit religiöse Verfolgung befürchten. Er könne - schon wegen der leidvollen Erfahrungen seines Vaters und seines Onkels - nicht darauf verwiesen werden, daß nicht jeder christliche Wehrpflichtige einer erheblichen Gefahr von Übergriffen ausgesetzt sei.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

hinsichtlich des asylrechtlichen Verfahrensteils in Abänderung des angefochtenen Urteils nach dem erstinstanzlichen Antrag zu erkennen.

Die Beklagte zu 1) und der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten haben sich zu der Berufung nicht geäußert.

Der Senat hat aufgrund des Beschlusses vom 3. Januar 1989 Beweis erhoben über die Asylgründe der Kläger durch Vernehmung der Kläger zu 1) bis 3) als Beteiligte durch den Berichterstatter als beauftragten Richter. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift vom 10. Februar 1989 verwiesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von diesen eingereichten Schriftsätze, den einschlägigen Vorgang des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - Geschäftszeichen ... - und die über die Kläger geführten Ausländerakten des Oberbürgermeisters der Universitätsstadt G - 3360 - (5 Hefter) Bezug genommen, ferner auf die über die Eltern und sowie den Bruder des Klägers zu 1) (Bundesamt ... und VG Wiesbaden ...) und auf die über seine Brüder (Bundesamt ..., VG Wiesbaden ... und Hess.VGH ...) und (Bundesamt ..., VG Wiesbaden ... und Hess.VGH ...) geführten Bundesamts- und Gerichtsakten. Diese sind ebenso Gegenstand der Beratung gewesen wie die nachfolgend aufgeführten Dokumente:

2. 11.04.1979Auswärtiges Amt an Bay. VGH3. Mai/Juni 1979pogrom Nr. 64 ("Verfolgte christliche Minderheiten in der Türkei" u.a.)4. 07.08.1979Dr. Harb-Anschütz an Bay. VGH5. 12.11.1979epd Dokumentation Nr. 49/79: "Christliche Minderheiten aus der Türkei"6. Nov. 1979Ev. Akademie Bad Boll, Materialdienst 2/80: "Christen aus der Türkei suchen Asyl"7. Mai 1980pogrom Nr. 72/73 ("Zur Lage der syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei" u.a.)8. 20.05.1980Patriarch Yakup III und Bischof Cicek vor dem VG Gelsenkirchen9. 15.10.1980Carragher an Bay. VGH10. 09.04.1981Msgr. Wilschowitz: "Die Situation der christlichen Minderheiten in der Türkei"11. 29.04.1981Reisebericht einer schwedisch-norwegischen Reisegruppe12. 02.05.1981Dr. Hofmann "Zur Lage der Armenier in Istanbul/Konstantinopel"13. 12.06.1981Prof. Dr. Kappert vor VG Hamburg14. 06.07.1981Staatssekretär von Staden (BT-Drs. 9/650)15. 20.07.1981IGFM an VG Wiesbaden16. 22.07.1981Vocke an VG Karlsruhe17. 04.08.1981Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden18. 24.11.1981RA Wiskandt an Bundesamt: "Situation der Christen in der Türkei"19. 21.01.1982Schweiz. Ev. Pressedienst Nr. 320. 03.02.1982Auswärtiges Amt an VG Minden21. 26.03.1982Auswärtiges Amt an VG Trier22. 07.04.1982Pfarrer Diestelmann: "Die Situation der syrisch-orthodoxen Christen ..."23. 21.04.1982Carragher zum Gutachten Wiskandt24. 28.04.1982Dr. Hofmann zum Gutachten Wiskandt25. 06.05.1982Diakonisches Werk EKD zum Gutachten Wiskandt26. 18.05.1982Ev. Gemeinde dt. Sprache in der Türkei an EKD27. Juni 1982CCMWE: "The Situation of the Christian Minorities of Turkey ..."28. 03.07.1982Anschütz/Harb, Protokoll HR (3. Fernsehprogramm)29. 26.07.1982Sürjanni Kadim an VG Minden30. 17.08.1982Dr. Harb-Anschütz an VG Minden31. 1983Kraft, in "Christ in der Gegenwart": "Fremde und Außenseiter"32. 28.02.1983RA Müller: "Zur Lage der Christen in der Türkei"33. 04.03.1983Pfarrer Weber: "Christen aus der Türkei suchen Asyl"34. Mai 1983Ev. Akademie Bad Boll, Protokolldienst 27/83: "Studienfahrt in die Türkei"35. 09.04.1984Oberkreisdirektor Gütersloh an RP Detmold36. 25.05.1984Auswärtiges Amt an VG Karlsruhe37. 12.06.1984epd Dokumentation Nr. 26/84: "Die Lage der christlichen Minderheiten in der Türkei ..."38. 26.06.1984Auswärtiges Amt an Bay. VGH39. 11.09.1984Auswärtiges Amt an Hess. VGH40. 14.09.1984Dr. Oehring an VG Minden41. 09.11.1984Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg42. 03.12.1984RA Müller, RA Wiskandt, Dr. Oehring und Erzbischof Cicek als sachverständige Zeugen vor dem Bay. VGH43. 04.02.1985Dr. Hofmann an VG Stuttgart44. 17.03.1985Prof. Dr. Wießner an VG Stuttgart45. 07.05.1985Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg46. 30.05.1985Dr. Oehring an VG Gelsenkirchen47. 22.06.1985RA Müller: "Reisebericht zur Lage der Christen in der Türkei"48. 07.10.1985Auswärtiges Amt an VG Ansbach49. 31.03.1986Sprenzel: "Situation der aramäisch sprechenden, syrisch-orthodoxen Christen in der (Ost) Türkei"50. 01.07.1986EKD an VG Hamburg51. 14.10.1986Prof. Dr. Wießner an VG Hamburg52. 10.11.1986Auswärtiges Amt an VG Hamburg53. 03.12.1986Auswärtiges Amt an VG Köln54. 06.01.1987Dr. Tasci vor VG Gelsenkirchen55. 07.04.1987Yonan: Gutachten56. 23.04.1987Yonan an Bundesamt; Stellungnahme57. 01.06.1987Auswärtiges Amt an VG Ansbach58. 30.06.1987Ev. Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei an VGH Baden-Württemberg59. 06.07.1987Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg60. 09.10.1987EKD an RA König61. 18.12.1987Auswärtiges Amt an OVG Bremen62. 15.01.1988Dr. Oehring an VGH Baden-Württemberg63. 20.01.1988Auswärtiges Amt - Lagebericht Türkei -64. April 1988Regine Erichsen: "Die Religionspolitik im türkischen Erziehungswesen von der Atatürk-Ära bis heute" in: Zeitschrift für Kulturaustausch 1988, 23465. 15.05.1988Taylan an VG Karlsruhe66. 25.05.1988Dr. Oehring an VG Düsseldorf67. 02.09.1988Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg68. 24.09.1988Dr. Binswanger an VG Karlsruhe69. 02.11.1988Taylan an Hess. VGH70. 17.01.1989Auswärtiges Amt an Hess. VGH71. 27.01.1989Dr. Binswanger an Hess. VGH

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