Hessisches LSG, Urteil vom 21.09.1977 - L 3 U 744/77
Fundstelle
openJur 2012, 17435
  • Rkr:
Tenor

Auf die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung desKlägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 31. Mai 1977aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung andieses Gericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt demSozialgericht vorbehalten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger verfolgt mit der Klage einen Anspruch auf berufshelferische Maßnahmen.

Mit Bescheid vom 27. September 1976 lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger berufshelferische Maßnahmen zu gewähren. Am 26. Oktober 1976 legte der Kläger dagegen ausdrücklich Widerspruch ein und überreichte eine fachärztliche Bescheinigung nach der er entgegen dem angefochtenen Bescheid als Masseur und Bademeister keine regelmäßige gewinnbringende Tätigkeit mehr ausüben könne. Die Verwaltung der Beklagten fragte den Kläger daraufhin, ob er für den Fall, dass die Widerspruchsstelle der Berufsgenossenschaft (BG) seinem Widerspruch nicht stattgeben wolle, mit dessen Abgabe als Klage an das zuständige Sozialgericht einverstanden sei. Der Kläger stimmte dem zu und unterzeichnete eine vorformulierte Erklärung mit folgendem Text:

„Für den Fall, dass die Widerspruchsstelle der BG dem Widerspruch nicht stattgeben will, bin ich mit seiner Zuleitung als Klage an das zuständige Sozialgericht gemäß § 85 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz einverstanden.” Die Verwaltung der Beklagten, die den Widerspruch für unbegründet hielt, trug die Sache ihrer Widerspruchsstelle in der Sitzung am 7. Dezember 1976 vor. Diese mit zwei Versichertenvertretern und zwei Arbeitgebervertretern besetzte Stelle fasste nach Erörterung der Streitigkeit folgenden Beschluss: „Dem Widerspruch des Herrn H. S. (Az.: 59/1/071924 (8)) wird nicht stattgegeben. Antragsgemäß wird die Sache gemäß § 85 Abs. 4 SGG an das zuständige Sozialgericht abgegeben.”

Am 10. Dezember 1976 hat die Beklagte das Widerspruchsschreiben mit Anlage, die Zustimmungserklärung des Klägers vom 11. November 1976 und den Beschluss der Widerspruchsstelle vom 7. Dezember 1976 bei dem Sozialgericht Gießer, (SG) eingereicht und beantragt, den als Klage zu behandelnden Widerspruch abzuweisen. Sie hat es abgelehnt einer Verfügung des SG nachzukommen, einen mit Rechtsmittelbelehrung versehenen Widerspruchsbescheid zu erteilen. Daraufhin hat das SG nach mündlicher Verhandlung auf den Antrag des Klägers, die Beklagte zur Bewilligung einer berufshelferischen Maßnahme in Form einer Umschulung zum Heilpraktiker zu verurteilen, und den Gegenantrag, die Klage abzuweisen, mit Urteil vom 31. Mai 1977 in dem Hauptsache entschieden:

„Es wird festgestellt, dass ein zulässiges Klageverfahren nicht in Lauf gesetzt worden ist.”

In seinen Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Klage sei unzulässig. Es sei kein ordnungsgemäßes Widerspruchsverfahren gemäß den §§ 78 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) durchgeführt worden. Mit dem Beschluss vom 7. Dezember 1976 habe die Widerspruchsstelle der Beklagten eine negative Sachentscheidung getroffen. Unter diesen Voraussetzungen sei kein Raum mehr zur Anwendung des § 85 Abs. 4 SGG. Die Widerspruchsstelle hätte gemäß § 85 Abs. 3 SGG einen Widerspruchsbescheid erteilen müssen. Die Beklagte sei nunmehr verpflichtet, gemäß § 85 Abs. 3 SGG den Widerspruchsbescheid nachzuholen.

Gegen dieses den Beteiligten am 18. Juli 1977 zugestellte Urteil haben die Beklagte am 22. Juli 1977 Berufung und der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 21. September 1977 Anschlussberufung bei dem Hess. Landessozialgericht eingelegt.

Die Beklagte vertritt die Auffassung, sie habe das Vorverfahren gemäß dem §§ 78 ff und 85 Abs. 4 SGG ordnungsgemäß durchgeführt. Auch § 85 Abs. 4 SGG setze voraus, dass die Widerspruchstelle eine Sachentscheidung treffe. Sie habe darüber zu entscheiden, ob der Widerspruch begründet sei.

Erst danach könne von den zwei gesetzlich: vorgesehenen Möglichkeiten des weiteren Verfahrens alternativ Gebrauch gemacht werden.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 31. Mai 1977 aufzuheben, die Klage abzuweisen und im Übrigen die Anschlussberufung zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten im Übrigen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 31. Mai 1977 und den Bescheid vom 27. September 1976 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen ihm die Umschulung zum Heilpraktiker zu gewähren,hilfsweise,die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen.

Gründe

Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und somit zulässig.

Sie hat – ebenso wie die unselbständige Anschlussberufung – insoweit Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache gemäß § 159 SGG an das SG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen war.

Zu Unrecht hat das SG sich einer Entscheidung über die gestellten Prozessanträge sowohl unter prozessrechtlichen Gesichtspunkten als auch der Sache nach völlig enthalten und stattdessen festgestellt, dass ein zulässiges Klageverfahren nicht im Lauf gesetzt worden sei.

Das SG hat übersehen, dass der Kläger jedenfalls in der mündlichen Verhandlung am 31. Mai 1977 einen Klageantrag gestellt hat, der auch protokolliert worden ist.

Über dieses Begehren hätte gemäß § 123 SGG eine Entscheidung ergehen müssen, selbst wenn das SG die – rechtsirrige – Meinung vertreten hat, mit dem zugeleiteten Widerspruch liege keine Klage vor. Schon hierin besteht ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG (vergl. BSG, Urteil vom 14.11.1961 – 11 RV 960/59 – in BSGE 15, 232).

Entscheidend ist darüber hinaus, dass der Widerspruch des Klägers vorschriftsmäßig nach § 85 Abs. 4 SGG dem SG zugeleitet worden ist und somit als Klage gilt. Nach dieser Vorschrift kann die Widerspruchsstelle, sofern sie in Fällen ihrer Zuständigkeit (§ 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG) dem Widerspruch nicht stattgeben will, diesen dem zuständigen Sozialgericht als Klage zuleiten, wenn der Widerspruchsführer vorher schriftlich zustimmt. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Mit der Zuleitung der Widerspruchsunterlagen am 10. Dezember 1976 ist die Klage beim SG rechtshängig geworden (§ 94 SGG i.V.m. § 85 Abs. 4 SGG). Die entgegen gesetzten Entscheidungsgründe des SG vermögen nicht zu überzeugen. Die Beklagte hat gemäß den §§ 78 ff SGG ein ordnungsgemäßes Widerspruchsverfahren durchgeführt und dieses Verfahren gemäß § 85 Abs. 4 SGG in zulässiger Weise durch die Zuleitung des Widerspruchs als Klage an das zuständige SG abgeschlossen. Dem steht nicht entgegen, dass der aus zwei Sätzen bestehende Beschluss der Widerspruchsstelle der Beklagten vom 7. Dezember 1976 in seinem ersten Satz die Formulierung enthält, dem Widerspruch werde nicht stattgegeben. Isoliert genommen mag hierin auch eine selbständige abschließende Entscheidung über den Widerspruch im Sinne von § 85 Abs. 2 und 3 SGG erblickt werden. Da Willenserklärungen aber im öffentlichen Recht ebenso wie im bürgerlichen Recht nach dem wirklichen Willen des Erklärenden ausgelegt werden müssen (entsprechend § 133 BGB), ist auch der zweite Satz des Beschlusses zur Auslegung heranzuziehen. Dieser abschließende Satz hat die Zuleitung an das SG gemäß § 85 Abs. 4 SGG zum Inhalt. Daraus ergibt sich, dass die Widerspruchsstelle sachlich nur ihrem Willen Ausdruck geben wollte, dem Widerspruch nicht stattzugeben. Einen weitergehenden Inhalt hat diese Entscheidung erkennbar nicht. Die Widerspruchsstelle der Beklagten hat das ihr von Gesetz eingeräumte Ermessen (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand: 26. Nachtrag 1977, Anm. 7 zu § 85 SGG) in rechtmäßiger Weise ausgeübt, als sie den Widerspruch mit vorliegender Zustimmung des Klägers als Klage an das SG weiterleitete. Unter den gegebenen Voraussetzungen und bei einer bereits vorliegenden Zustimmungserklärung des Widerspruchsführers gemäß § 85 Abs. 4 SGG steht es im freien Ermessen der Widerspruchsstelle, entweder einen mit schriftlichen Gründen versehenen Widerspruchsbescheid zu erlassen (§ 85 Abs. 2 und 3 SGG) oder stattdessen ohne Angaben von sachlichen Gründen den Widerspruch als Klage dem zuständigen Sozialgericht zuzuleiten (§ 85 Abs. 4 SGG). Wählt die Widerspruchsstelle den zweiten Weg, dann hat kein Widerspruchsbescheid gemäß § 85 Abs. 2 SGG zu ergehen. Dementsprechend fehlt ein im Vorverfahren ergangener Verwaltungsakt, der den ursprünglichen zusätzlich hätte gestalten können. Unter den Voraussetzungen eines nach § 85 Abs. 4 SGG abgeschlossenen Vorverfahrens muss § 95 SGG dahin ausgelegt werden, dass mangels eines Widerspruchsbescheides allein der ursprüngliche Verwaltungsakt Gegenstand der Klage ist. Diese aus dem Wortlaut des Gesetzestextes nicht auf den ersten Blick zu entnehmende Schlussfolgerung erklärt sich aus der Tatsache, dass § 95 SGG ursprünglich das alte vor dem 1. Januar 1975; vorgeschriebene Vorverfahren der §§ 78 ff SGG a.F. betraf, das ausschließlich durch Widerspruchsbescheid oder volle Abhilfe abzuschließen war (vgl. BSG, Urteil vom 15.6.1976 – 11 RA 112/75) SozR 1500 § 78 Nr. 4). Nach der Einfügung des Vorverfahrensabschlusses gemäß § 85 Abs. 4 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 (BGBl. I S. 1625 zwingt die neue Verfahrenssystematik kraft Gesetzes vom 1.1.1975 ab zu der obigen Auslegung des § 95 SGG.

Im Gegensatz zu der Ansicht des SG folgt aus § 95 SGG, dass der Streitgegenstand einer Klage gemäß § 85 Abs. 4 SGG in sachlich-rechtlicher Hinsicht nur den ursprünglichen Verwaltungsakt und nicht auch die Abhilfeverweigerungen im Vorverfahren betrifft. Das Gericht hat letztere nicht zusätzlich materiell-rechtlich nachzuprüfen, weder brauchen die Verwaltung des Versicherungsträgers noch die Widerspruchsstelle selbst dafür eine Begründung abzugeben. Es gibt keine Rechtsnorm, die Gegenteiliges vorschreibt. Auch der Gesetzeszweck steht mit der dargelegten Auffassung des Senats im Einklang.

Wie den Materialien entnommen werden kann, ist es das Ziel des § 78 SGG n.F., mit der Wahlmöglichkeit des Widerspruchsverfahrens auch in der Unfallversicherung zu vermeiden, d.h. der Versicherte zur Anfechtung bestimmter Verwaltungsakte ausschließlich auf die Möglichkeit angewiesen ist, Klage zu erheben. Gerade in diesem Verwaltungsbereich, in dem schon durch die Vielzahl der Bescheide und die zunehmende Mechanisierung Fehlerquellen unvermeidbar sind, soll dem Versicherten ein Berichtigungsverfahren ohne oder zumindest vor Inanspruchnahme der Gerichte möglich sein. Der Gesetzgeber erwartete eine „Filterwirkung” des Vorverfahrens zur Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit (vgl. die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes, BT-Drucks. 7/861, S. 9 zu Nr. 5). Zugleich soll das Gesetz aber zur Beschleunigung des Verfahrens zugunsten der rechtsuchenden Bürger dienen. Dem trägt die andere Möglichkeit Rechnung, die Anfechtungsklage auch ohne Vorverfahren unmittelbar zu erheben. Eine Synthese bietet das Verfahren nach § 85 Abs. 4 SGG. Mit ihm kann die Filterwirkung des Vorverfahrens ausprobiert und sofort – falls dieser Filter versagt – durch Abkürzung des Verfahrens noch eine gewisse Beschleunigung erreicht werden (vgl. die Begründung der Bundesregierung, a.a.O., S. 9 zu Nr. 7). So selbstverständlich es ist, dass diese Verfahrensvorschriften ihren guten Zweck nur erfüllen können, wenn alle Beteiligten in jedem Abschnitt des Vorverfahrens gewissenhaft mitwirken, so unfruchtbar erscheint die Vorstellung, mit derartigen Gesetzesvorschriften sollten oder könnten unwillige Funktionsträger der Sozialversicherung zur optimalen Nachprüfung angefochtener Verwaltungsakte gezwungen werden (vgl. Kortmann SGb 1975, 359, Drexl 1976, 51, Fritze und Schmiedinger SGb 1976, 52, Krause SGb 1976, 491). Weder durch den Zwang, die Zustimmung zur Zuleitung nach § 85 Abs. 4 SGG ausschließlich von der Widerspruchsstelle einholen zu lassen, noch durch die Pflicht, die Abhilfeverweigerung schriftlich zu begründen, könnte das erreicht werden. So unrealistisch weit geht der Gesetzeszweck auch nicht. Stattdessen gilt folgendes: Sofern alle vom Gesetz vorgesehenen Stellen des Versicherungsträgers, z.B. Verwaltung und Widerspruchsstelle, mit der Sache befasst worden und die übrigen Verfahrensvoraussetzungen des § 85 Abs. 4 SGG erfüllt sind, ist der Gesetzeszweck der Einbehaltung des „Filters” Vorverfahren erfüllt. Im Falle einer verweigerten Abhilfe kann nunmehr nach dem Ermessen der Widerspruchsstelle mit vorheriger Zustimmung des Widerspruchsführers der Beschleunigungszweck des Gesetzes voll zum Tragen kommen. Dies wird durch die unverzügliche Zuleitung des Widerspruchs an das SG erreicht. Sowohl die vorsorgliche Einholung der Zustimmungserklärung nach § 85 Abs. 4 SGG durch die Verwaltung als auch das Absehen von einer schriftlichen Begründung der Abhilfeverweigerung sind unter diesen Gesichtspunkten zulässig (vgl. Kaiser BG 1976, 195, 198, Peters-Sautter-Wolff, a.a.O.). Anderenfalls wäre der gesetzgeberische Zweck der Beschleunigung gefährdet.

Die vorsorgliche Einholung der Zustimmungserklärung durch die Verwaltung des Versicherungsträgers erspart eine weitere Vertagung durch die Widerspruchsstelle wie auch eine schriftliche Begründung der Abhilfeverweigerung durch diese die Zuleitung an das Gericht verzögert.

Da das SG trotz Vorliegens aller Sachurteilsvoraussetzungen in der Sache selbst nicht entschieden hat, war diese gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das SG wird davon auszugehen haben, dass das Vorverfahren ordnungsgemäß durchgeführt und das mit dem Widerspruch geltend gemachte Begehren nach Zuleitung gemäß § 85 Abs. 4 SGG als Klage bei ihm anhängig geworden ist. Es wird nunmehr über die Klage sachlich-rechtlich zu entscheiden haben. Bei dieser Entscheidung hat das SG auch über die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens einschließlich des Berufungsverfahrens zu befinden.

Die Entscheidung über die Zulassung der Revision folgt aus § 160 Abs. 2 SGG.

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