Hessisches LSG, Urteil vom 11.04.1973 - L 3 U 1067/71
Fundstelle
openJur 2012, 17217
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SozialgerichtsFrankfurt a.M. vom 24. September 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zuerstatten.

Im übrigen haben sich die Beteiligten keine außergerichtlichenKosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin, eine türkische Staatsangehörige, erlitt am 4. August 1969 in der Nähe von Sofia/Bulgarien als Mitfahrerin des von dem türkischen Arbeitskollegen … dem Beigeladenen zu 1., gesteuerten Personenkraftwagen – Pkw – bei einem Verkehrsunfall u.a. den Verlust des rechten Auges. Sie befand sich mit zwei weiteren türkischen Landsleuten auf dem Weg von Frankfurt a.M. nach Istanbul in die eheliche Wohnung, um dort ihren Jahresurlaub zu verbringen. Die Klägerin reiste erstmalig am 31. Mai 1966 in die Bundesrepublik Deutschland ein und arbeitete zunächst bei der Fa. … in … und anschließend bei der Fa. … in XY. Nach ihren Angaben wohnte sie zuerst im W. von XY. und später mit ihrer Schwester und zwei weiteren türkischen Arbeitnehmerinnen in einer drei Räume umfassenden Wohnung in XY. Nach dem Unfall vom 4. August 1969 kehrte sie aus ihrer Heimat Ende 1969/Anfang 1970 zurück und nahm die Arbeit bei ihrem letzten Arbeitgeber wieder auf. Am 14. August 1971 verließ sie Deutschland endgültig, um ihre drei schulpflichtigen Kinder und den in Istanbul in einer Weberei tätigen Ehemann im Haushalt zu betreuen. Während ihres Deutschlandaufenthaltes vom 31. Mai 1966 bis zum 14. August 1971 hielt sie sich dreimal in ihrer Heimat auf, nämlich im Sommer 1968, im August 1969 mit der anschließenden krankheitsbedingten Zeit bis Ende des Jahres 1969 und im Dezember 1970/Januar 1971.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25. Januar 1971 Entschädigungsansprüche der Klägerin aus Anlaß des Unfallereignisses vom 4. August 1969 ab. Zur Begründung gab sie an: Die Klägerin habe sich nicht auf einer versicherten Familienheimfahrt befunden. Ihr Lebensmittelpunkt habe sich in XY. und nicht mehr in Istanbul befunden, da sie sich in XY. bereits über drei Jahre aufgehalten habe und nach Beendigung des tariflichen Jahresurlaubs auf unbegrenzte Zeit nach Deutschland habe zurückkehren wollen. Den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse habe die von ihr mit Bekannten bewohnte Wohnung mit drei Räumen in XY. gebildet.

Gegen diesen am 25. Januar 1971 per Einschreiben abgesandten Bescheid hat die Klägerin am 10. Februar 1971 bei dem Sozialgericht Frankfurt a.M. Klage erhoben und vorgebracht: Sie sei nach Deutschland gekommen, um Geld verdienen zu können und die durch den Erwerb eines Hauses in Istanbul entstandenen Schulden abzutragen. Ihre drei Kinder und den in Istanbul arbeitenden Ehemann habe in der Zwischenzeit ihre Schwiegermutter versorgt. Ihr Lebensmittelpunkt habe sich daher nach wie vor in Istanbul und nicht in XY. befunden. Sie habe sich deshalb am 4. August 1969 auf einer versicherten Familienheimfahrt befunden.

Das Sozialgericht hat den türkischen Arbeitnehmer … und die … XY. beigeladen und mit Urteil vom 24. September 1971 die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin eine Verletztenrente in Höhe von 25 v.H. der Vollrente zu zahlen. Es hat die unfallbringende Fahrt der Klägerin im Pkw des Beigeladenen zu 1. als versicherte Familienheimfahrt angesehen.

Gegen das ihr am 5. Oktober 1971 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 3. November 1971 Berufung eingelegt. Sie beruft sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides und trägt ergänzend vor: Der Versicherungsschutz sei auch unter dem Gesichtspunkt des im Sozialversicherungsrecht geltenden Territorialprinzips zu versagen. Der Unfall habe sich nicht innerhalb der Bundesrepublik Deutschland sondern in Bulgarien ereignet.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 24. September 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin und die Beigeladene zu 2. beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Streit- und Unfallakten verwiesen.

Gründe

Der Senat konnte nach Lage der Akten entscheiden. Die nicht erschienenen Beteiligten sind in der ordnungsmäßig erfolgten Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung vom 11. April 1973 hierauf hingewiesen worden; die vertretene Beklagte hat Entscheidung nach Lage der Akten beantragt (§ 126 SGG).

Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist jedoch unbegründet. Das auf die zulässige Klage ergangene sozialgerichtliche Urteil ist nicht zu beanstanden. Der angefochtene Bescheid war aufzuheben; er ist rechtswidrig. Die Beklagte hat zu Unrecht die unfallbringende Fahrt der Klägerin im Pkw des Beigeladenen zu 1 nicht als versicherungsgeschützt angesehen. Die Klägerin hat sich nämlich auf der Fahrt von XY. nach Istanbul auf einer dem Versicherungsschutz unterliegenden Familienheimfahrt im Sinne des § 550 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung – RVO – a.F. (= § 550 Satz 3 RVO i.d.F. des Gesetzes über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18.3.1971 – BGBl. I 237) befunden.

Nach dieser Vorschrift schließt der Umstand, daß der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft hat, die Versicherung auf dem Weg von und nach der Familienwohnung nicht aus. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes – BSG – und dem Schrifttum gilt als ständige Familienwohnung eine Wohnung, die für nicht unerhebliche Zeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet (vgl. BSGE 1 S. 171, 173; 20, S. 110, 11; 25, S. 93, 95; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band II S. 486 h; Lauterbach, Unfallversicherung, Anm. 20 zu § 550 RVO). Maßgebend dafür ist die tatsächliche Gestaltung der Lebensverhältnisse an dem Ort, an dem sich der andere Ehepartner nicht nur vorübergehend aufhält (vgl. RVA EuM 48 S. 166 f; BSGE 2, S. 78, 80; Breithaupt 1966 S. 383; Brackmann a.a.O.; Lauterbach a.a.O., Anm. 23 a zu § 550 RVO). Hierbei ist von Bedeutung, welche Absicht mit dem Aufenthalt eines Ehepartners außerhalb der gemeinsamen Wohnung verbunden ist (vgl. BSG, Breithaupt a.a.O. und die Urteile vom 31.10.1972 zu den Aktenzeichen 2 RU 2/70, 2 RU 56/70 und 2 RU 137/70, mitgeteilt in SGb 1972 S. 484 und 485 Nr. 6 und 7).

Die Klägerin hielt sich nach ihren glaubhaften und von der Beklagten auch nicht bestrittenen Angaben in Deutschland allein zum Zwecke des zusätzlichen Geldverdienens auf.

Sie hatte mit ihrem Ehemann in Istanbul ein Haus für die gemeinsame fünfköpfige Familie erworben. Die hieraus entstandenen Schulden sollten durch ihren Verdienst in Deutschland mit abgetragen werden. Währenddessen ging der Ehemann am Ort der gemeinsamen ehelichen Wohnung als Weber seiner Arbeit nach. Seine Mutter versorgte ihn und die drei Kinder in Abwesenheit der Klägerin. Diese Umstände machen es deutlich, daß es nicht in der Absicht der Klägerin lag, ihre Familienwohnung in Istanbul aufzugeben und den Lebensmittelpunkt nach XY. zu verlagern. Insoweit unterscheidet sich der hiesige Fall maßgeblich von den Fällen, die das BSG am 31. Oktober 1972 (a.a.O.) entschieden hat. Dort hielten sich beide Ehepartner gemeinsam längere Zeit jeweils von ihrer spanischen Wohnung entfernt in Deutschland auf, wo sie eine Wohnung innehatten, während die Kinder in Spanien verblieben waren. Das gemeinsame eheliche Leben vollzog sich am Ort der Tätigkeit in Deutschland. Das war hier aber nicht der Fall. Daran ändert nichts, daß die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls zusammen mit Bekannten drei Räume einer in XY. gelegenen Wohnung bewohnte. Hierbei handelte es sich lediglich um eine in der Nähe ihres Arbeitsplatzes gelegene Unterkunft i.S. des § 550 Satz 2 RVO a.F.

Die Beklagte kann nicht damit gehört werden, der Charakter der Familienwohnung in Istanbul sei dadurch verloren gegangen, daß die Klägerin sie bewußt als gemeinsamen Lebensmittelpunkt für längere Zeit aufgegeben habe, um in Deutschland zu verdienen. Die Beklagte meint, daß dies darüber hinaus auch deshalb anzunehmen sei, weil die Klägerin längere Zeit, nämlich vom 1. Juni 1966 bis zum Sommer 1968 überhaupt nicht und bis August 1971 nur dreimal in der Türkei gewesen sei. Sie folgert hieraus, daß die Beziehungen zur ehelichen Wohnung nur noch lose gewesen seien. Dem stimmt der Senat nicht zu. Wie bereits dargetan, kommt es nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, auf die mit dem Aufenthalt der Ehefrau außerhalb der Familienwohnung erfolgte Absicht an. Diese lag hier nicht darin, die Familienwohnung in Istanbul aufzugeben. Die Beklagte verkennt die besonderen sozialen Gegebenheiten der Tätigkeit ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland und deren Bindungen an die engste Familie in der Heimat. Es ist ihnen, die für die deutsche Volkswirtschaft wertvolle Leistungen erbringen, in der Regel verwehrt, in kurzen Zeitabständen die eheliche Wohnung aufzusuchen. Die Entfernungen sind meist zu groß und das Fahrgeld zu hoch. Wollte man dem Standpunkt der Beklagten folgen, so würde dies bedeuten, daß ein ausländischer Arbeitnehmer im allgemeinen mit der Aufnahme einer Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland die Familienwohnung in seiner Heimat aufgibt. Damit würde ein Ausschlußtatbestand für den sonst bestehenden Unfallversicherungsschutz gemäß § 550 Satz 2 RVO a.F. begründet. Das ist indessen zu verneinen. Diese Bestimmung gilt auch für ausländische, in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer. Die Beklagte engt den Begriff der tatsächlichen Lebensverhältnisse unzulässig ein. Sie berücksichtigt nicht die dargelegten sozialen Bindungen des ausländischen Arbeitnehmers an seine Familie in der Heimat.

Im übrigen ist der Unfallversicherungsschutz nicht deshalb zu verneinen, weil sich die Klägerin auf einer Fahrt befunden hat, um in Istanbul ihren tariflichen Erholungsurlaub zu verbringen. Abgesehen davon, daß Familienheimfahrten stets der Erholung von der Arbeit dienen sollen, ist das Motiv für die Heimfahrt unbeachtlich. Der Unfallversicherungsschutz besteht allein deshalb, weil es sich um eine Familienheimfahrt handelt.

Die Beklagte kann auch nicht mit dem Hinweis gehört werden, der Unfallversicherungsschutz sei hier unter Anwendung des im Sozialversicherungsrecht geltenden Territorialprinzips zu versagen, da der Unfall sich außerhalb der Bundesrepublik Deutschland ereignet habe. Nach diesem in Literatur und Rechtsprechung allgemein anerkannten Prinzip (vgl. statt vieler; Lauterbach a.a.O., Anm. 4 a zu § 539 RVO; BSG E 33 S. 280, 284–286) erstreckt sich der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung – von hier nicht in Betracht kommendem supranationalem oder zwischenstaatlich vereinbartem Recht und den Anwendungsfällen der sog. „Ausstrahlungstheorie” abgesehen – nur auf Personen, die im Inland beschäftigt sind. Damit sind jedoch nur Arbeitsunfälle im Ausland vom Versicherungsschutz ausgenommen. Das Territorialprinzip ergreift nicht auch sogenannten Wegeunfälle i.S. des § 550 Satz 2 RVO a.F. Der Versicherungsschutz nach dieser Bestimmung besteht vielmehr ohne jede Einschränkung, also auch für Wege jenseits der Grenzen (vgl. Lauterbach a.a.O., Anm. 20 zu § 550 RVO). Er endet entgegen der Auffassung der Beklagten nicht an der deutschen Grenze, da die Familienheimfahrt als einheitlicher Lebensvorgang unteilbar ist.

Ein ausländischer Arbeitnehmer stünde sonst auch dann, wenn die Beklagte dessen heimatliche Wohnung als Familienwohnung anerkennen würde, auf einer Fahrt zu ihr außerhalb der Bundesrepublik Deutschland niemals unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, obwohl er notwendigerweise auf einer Familienfahrt das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verlassen muss. Die Frage des Bestehens des Versicherungsschutzes für Familienheimfahrten ist in diesen Fällen nicht anders zu beurteilen als die für den Versicherungsschutz eines Weges, den ein Versicherter zum ersten Mal zur Arbeitsaufnahme von der Familienwohnung zur Unterkunft am Arbeitsort oder täglich zur Arbeitsaufnahme an den Beschäftigungsort als sogenannter Grenzgänger zurücklegt. In beiden Fällen besteht Versicherungsschutz, ohne daß ein Fall der Ausstrahlung vorliegt (vgl. Lauterbach a.a.O., Anm. 24 und 4 zu § 550 RVO).

Das Bundessozialgericht hat ebenfalls bei dem vorliegenden Fall vergleichbaren Sachverhalten den Versicherungsschutz niemals unter dem Gesichtspunkt des Territorialprinzips verneint; es hat ihn nicht einmal erwähnt (vgl. BSG Urteile vom 31.10.1972, 2 RU 2/70, 56/72, 93/72 und 137/70).

Über das Ausmaß der zu entschädigenden Verletzung besteht unter den Beteiligten kein Streit. Die Klägerin hat das rechte Auge verloren. Der einseitige Augenverlust bedingt im allgemeinen einen Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von 25 v.H. (vgl. Liniger-Molineus, 8. Auflage, S. 201; Günther und Hymmen, Unfallbegutachtung, 5. Auflage, S. 59). Da insoweit die Beklagte durch das aufrecht zu erhaltende sozialgerichtliche Urteil lediglich zur Rentengewährung nach einer MdE um 25 v.H. verurteilt worden ist, wird sie noch den Leistungsbeginn und die Rentenhöhe festzustellen und darüber einen neuen Bescheid zu erteilen haben.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, da gesetzliche Zulassungsgründe nicht vorliegen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Insbesondere hat die Rechtsfrage, ob bei Familienheimfahrten ausländischer Arbeitnehmer das Territorialprinzip anzuwenden ist, keine grundsätzliche Bedeutung mehr, nachdem das Bundessozialgericht in seinen Entscheidungen vom 31.10.1972 (a.a.O.) zur gleichen Rechtsfrage diesen Gesichtspunkt nicht einmal für erwähnenswert befunden hat.

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