BVerfG, Beschluss vom 28.05.1998 - 1 BvR 329/98
Fundstelle
openJur 2012, 24612
  • Rkr:
Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung

angenommen.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer zu 1), eine

öffentlich-rechtliche Körperschaft mit dem Recht der

Selbstverwaltung, ist Träger von Einrichtungen für

psychisch Kranke und geistig Behinderte. Auf seinem Grundstück

richtete er 1993 ein normales Wohnhaus als sogenannte

"Außenwohngruppe" für sieben geistig behinderte

Männer ein, die bis dahin in einem Zentralheim lebten. Bei den

sieben Männern handelt es sich um die Beschwerdeführer zu

2) bis 8). Sie werden seit März 1993 aufgrund von

privatrechtlichen Heimverträgen in dem Haus, zu dem auch ein

Garten gehört, rund um die Uhr betreut.

Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist

Eigentümer des dem Grundstück des Beschwerdeführers

zu 1) benachbarten Grundstücks. Das Grundstück ist mit

einem Einfamilienhaus bebaut, in dem der Kläger des

Ausgangsverfahrens mit seiner Ehefrau wohnt. Weil er sich durch die

Äußerungsformen der Beschwerdeführer zu 2) bis 8)

in der Nutzungsmöglichkeit seines Grundstücks

beeinträchtigt fühlte, erhob er nach mehreren

fehlgeschlagenen außergerichtlichen Einigungsversuchen im

September 1993 gegen den Beschwerdeführer zu 1) Klage auf

Unterlassung der seiner Auffassung nach von dessen Grundstück

ausgehenden Störungen.

Das Landgericht wies die Klage im April 1996 ab, das

Oberlandesgericht gab ihr auf die Berufung des Klägers des

Ausgangsverfahrens im Januar 1998 durch das angegriffene Urteil

teilweise statt und verurteilte den Beschwerdeführer zu 1)

dazu, in der Jahreszeit zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober

durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, daß von den

auf seinem Grundstück untergebrachten geistig behinderten

Personen Lärmeinwirkungen wie Schreien, Stöhnen,

Kreischen und sonstige unartikulierte Laute an Sonn- und

gesetzlichen Feiertagen ab 12.30 Uhr, mittwochs und samstags ab

15.30 Uhr und an den übrigen Werktagen ab 18.30 Uhr auf das

Grundstück des Klägers des Ausgangsverfahrens dringen. Im

übrigen wurde die Klage abgewiesen. Begründet wurde die

Entscheidung im wesentlichen damit, daß dem Kläger des

Ausgangsverfahrens hinsichtlich der Lärmeinwirkungen

grundsätzlich ein Unterlassungsanspruch gemäß

§ 1004 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 906 Abs. 1 BGB

zustehe, da ihm, wie die Verwertung der von ihm vorgelegten

Tonbandaufnahmen und die Zeugenvernehmung ergeben hätten, auch

unter Berücksichtigung der Ausstrahlungswirkung des Art. 3

Abs. 3 Satz 2 GG die Lärmeinwirkungen nur in dem aus dem Tenor

ersichtlichen Umfang zugemutet werden könnten.

II.

Gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Köln

haben sowohl der Beschwerdeführer zu 1) als auch die am

Ausgangsverfahren nicht beteiligten Beschwerdeführer zu 2) bis

8) Verfassungsbeschwerde erhoben.

1. Der Beschwerdeführer zu 1) rügt die

Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG, da das Oberlandesgericht

erhebliche Beweisangebote nicht berücksichtigt habe. Er habe

in seiner Berufungserwiderungsschrift beantragt, "die

'Wesentlichkeit' der vom Kläger im Ausgangsverfahren

behaupteten Lärmemissionen durch

Sachverständigengutachten und durch richterlichen Augenschein

der Örtlichkeit klären zu lassen". Dies entspreche der

üblichen, weil am besten geeigneten Vorgehensweise bei der

Ermittlung der "Wesentlichkeit" beziehungsweise "Erheblichkeit" von

menschlichem Lärm. Das Oberlandesgericht habe diese

Beweisantritte nicht berücksichtigt und statt dessen unter

Verletzung von Grundrechten das vom Kläger des

Ausgangsverfahrens aufgenommene Tonband verwertet. Die Entscheidung

beruhe auch auf diesem Verstoß, da ihm auf diese Weise die

Möglichkeit genommen worden sei, das klägerische

Vorbringen zu Fall zu bringen.

2. Die Beschwerdeführer zu 2) bis 8)

rügen eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.

1 Abs. 1, des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und des Art. 3 Abs. 3 Satz 2

GG:

a) Indem das Gericht das ohne ihr Wissen vom

Kläger des Ausgangsverfahrens aufgenommene Tonband als

Beweismittel zugelassen, in öffentlicher Sitzung abgespielt

und bei seiner Entscheidung verwertet und auf diese Weise

Kommunikationsinhalte und Gefühlsäußerungen aus

ihrer engsten Privatsphäre zum Gegenstand öffentlicher

Erörterung gemacht habe, habe es ihr allgemeines

Persönlichkeitsrecht verletzt.

Zudem verstoße die angegriffene Entscheidung

auch in mehrfacher Hinsicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. So habe

das Gericht die Zulässigkeit der Verwertung des Tonbandes

damit begründet, daß ihre - der Beschwerdeführer zu

2) bis 8) - nichtverbalen Laute jedenfalls für

Außenstehende keinen Informationsgehalt hätten und daher

auch nicht mit einer bestimmten Person in Verbindung gebracht

werden könnten. Damit gebe das Gericht zu erkennen, daß

es ihre Äußerungen anders behandele als die anderer

Menschen. Da diese Ungleichbehandlung gerade an ihre Behinderung

anknüpfe, liege ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2

GG vor. Gegen diese Bestimmung habe das Gericht zudem dadurch

verstoßen, daß es im Rahmen der Beurteilung der

Wesentlichkeit der Beeinträchtigung auf die Lästigkeit

ihrer Äußerungsformen abgestellt habe. Auf die

Lästigkeit der Geräusche stelle die Rechtsprechung jedoch

nur ab, wenn deren Lautstärke unerheblich beziehungsweise

nicht verläßlich meßbar sei, wie dies zum Beispiel

bei Freizeitaktivitäten wie dem Tennisspiel und bei

Tiergeräuschen der Fall sei. Für die Beurteilung des

durch eigene stimmliche Laute eines Menschen hervorgerufenen

Lärms seien hingegen nach der Rechtsprechung

üblicherweise technische Meßwerte maßgebend, die

gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigen und

durch eigene tatrichterliche Wahrnehmung vor Ort zu würdigen

seien. Indem das Gericht - auch insoweit anknüpfend an ihre

Behinderung - die Lautstärke ihrer Artikulation wegen deren

besonderer Lästigkeit überhaupt nicht

berücksichtige, auf die Durchführung eines Ortstermins

verzichte und anstelle der Einschaltung eines Sachverständigen

ein auf rechtswidrige Weise erlangtes Tonband verwerte,

verstoße es daher ebenfalls gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2

GG.

Schließlich verletze das angegriffene Urteil

auch ihr durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschütztes Recht auf

Freiheit der Person, da sie durch das Urteil an der

uneingeschränkten Gartennutzung gehindert würden. Die

durch das Urteil auferlegte Verpflichtung führe

zwangsläufig dazu, daß der diensthabende Betreuer

zumindest den sich auf die im Tenor genannte Art und Weise

artikulierenden Bewohner im Haus einsperren müßte, da

andere Möglichkeiten, der durch das Gericht ausgesprochenen

Verpflichtung nachzukommen, nicht existierten.

b) Ihre Verfassungsbeschwerde sei auch

zulässig. Auch wenn sie weder als Partei noch sonst am

Verfahren beteiligt gewesen seien, würden sie sowohl durch die

Zulassung, das Abspielen und die Verwertung des Tonbandes als auch

durch die im Tenor des Urteils enthaltene Einschränkung der

Gartennutzung selbst, gegenwärtig und unmittelbar

beschwert.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur

Entscheidung angenommen, weil die Voraussetzungen des § 93 a

Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>). Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

1. Die Gehörsrüge des

Beschwerdeführers zu 1) ist unsubstantiiert, da sie den

Begründungsanforderungen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92

BVerfGG nicht genügt. Den Berufungserwiderungsschriftsatz, in

dem die nicht berücksichtigten Beweisangebote enthalten sein

sollen, hat der Beschwerdeführer zu 1) seiner

Verfassungsbeschwerde nicht beigefügt. Abgesehen davon ergibt

sich auch aus den beigezogenen Akten des Ausgangsverfahrens,

daß der Beschwerdeführer zu 1) weder auf der von ihm

angegebenen Seite noch auf einer anderen Seite des genannten

Schriftsatzes beantragt hat, "die Wesentlichkeit der vom

Kläger im Ausgangsverfahren behaupteten Lärmemissionen

durch Sachverständigengutachten und durch richterlichen

Augenschein der Örtlichkeit klären zu lassen".

2. Die Verfassungsbeschwerde der

Beschwerdeführer zu 2) bis 8) ist ebenfalls unzulässig.

Dabei kann dahinstehen, ob und gegebenenfalls inwieweit auch die

Beschwerdeführer zu 2) bis 8) durch das angegriffene Urteil

beschwert sind. Denn jedenfalls steht ihrer Verfassungsbeschwerde

der Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Dieser in § 90

Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz erfordert,

daß ein Beschwerdeführer über das Gebot der

Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach

Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen

Möglichkeiten ergreift, um die Korrektur der geltend gemachten

Grundrechtsverletzung durch die Fachgerichte zu erwirken. Der

Beschwerdeführer muß bereits im Ausgangsverfahren alle

prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen, um es gar nicht

erst zu dem Verfassungsverstoß kommen zu lassen oder um die

geschehene Grundrechtsverletzung zu beseitigen (vgl. BVerfGE 22,

287 <290 f.>; 81, 97 <102 f.>). Die

Verfassungsbeschwerde soll im Hinblick auf den umfassenden

Rechtsschutz durch die Fachgerichtsbarkeit nicht einen wahlweisen

Rechtsbehelf gewähren, sondern nur dann zulässig sein,

wenn sie trotz Erschöpfung der regelmäßigen

verfahrensrechtlichen Möglichkeiten zur Verhinderung einer

Grundrechtsverletzung erforderlich wird (vgl. BVerfGE 70, 180

<185 f.>). Dies ist nicht der Fall, wenn eine anderweitige

Möglichkeit besteht oder bestand, die Grundrechtsverletzung zu

beseitigen oder ohne Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts

im praktischen Ergebnis dasselbe zu erreichen (vgl. BVerfGE 22, 287

<290 f.>). Es ist daher geboten und einem

Beschwerdeführer auch zumutbar, vor der Einlegung einer

Verfassungsbeschwerde die Statthaftigkeit weiterer

einfachrechtlicher Rechtsbehelfe sorgfältig zu prüfen und

von ihnen auch Gebrauch zu machen, wenn sie nicht offensichtlich

unzulässig sind (vgl. BVerfGE 68, 376 <381>).

Vorliegend hätte für die

Beschwerdeführer zu 2) bis 8) noch bis zur Rechtskraft des

angegriffenen Urteils die Möglichkeit bestanden, sich im Wege

der Nebenintervention gemäß § 66 ZPO auf der Seite

des Beschwerdeführers zu 1) am Ausgangsverfahren zu beteiligen

und die ihnen als Nebenintervenienten zustehenden prozessualen

Mittel auszuschöpfen, um es gar nicht erst zu den von ihnen

behaupteten Grundrechtsverstößen kommen zu lassen.

Weshalb ihnen diese Möglichkeit verwehrt gewesen wäre,

ist weder überzeugend dargelegt, noch sonst ersichtlich.

Hinsichtlich der ihrer Auffassung nach unter Verstoß gegen

ihre Grundrechte erfolgten Verwertung des Tonbandes hätte

für sie unabhängig von einer Beteiligung als

Nebenintervenienten zudem die Möglichkeit bestanden, den

Kläger des Ausgangsverfahrens - gegebenenfalls im Wege

vorläufigen Rechtsschutzes - auf Herausgabe oder Löschung

der streitigen Tonbandaufnahmen in Anspruch zu nehmen (vgl. BGH,

NJW 1988, S. 1016 f.).

3. Von einer weiteren Begründung wird

abgesehen (§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.