LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Urteil vom 11.08.2011 - L 3 U 76/10
Fundstelle
openJur 2012, 15652
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 09. April 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Verletztenrente.

Der Kläger wurde 1972 unter Verleihung der Eigenschaft eines Beamten auf Lebenszeiten zum Verwaltungsoberinspektor ernannt. Er erlitt am 28. Dezember 1988 als Kurpatient während einer stationären Heilbehandlung einen von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall, bei welchem er sich eine Schulterverletzung zuzog. Die Beklagte lehnte damals die Gewährung einer Verletztenrente mit der Begründung ab, dass eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht erreicht werde. Der hiergegen gerichtete Widerspruch des Klägers und das anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin (S 69 U 31/91) sowie vor dem Landessozialgericht Berlin (L 3 U 58/93) blieben ohne Erfolg.

Am 14. Mai 1990 erlitt der Kläger einen von der Deutschen Rentenversicherung Bund anerkannten Dienstunfall, wegen dessen Folgen der Kläger bislang erfolglos in der Verwaltungsstreitsache VG 7 A 267.06 (Verwaltungsgericht Berlin) um die Gewährung eines Unfallausgleichs streitet.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten mit Schreiben vom 09. Februar 1995, ihm nun unter Berücksichtigung des Dienstunfalls vom 14. Mai 1990 eine Rente nach dem Arbeitsunfall vom 28. Dezember 1988 zu gewähren. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 18. Dezember 1996 Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Auf den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers vom 10. Januar 1997 trat die Beklagte in medizinische Ermittlungen ein (insbesondere fachchirurgisches Gutachten des Chirurgen Dr. H vom 17. September 1998 und HNO-ärztliches Zusatzgutachten des Arztes für HNO-Heilkunde Priv.-Doz. Dr. A vom 19. Februar 1999), welche hinsichtlich der Folgen nach dem Unfall vom 28. Dezember 1988 eine MdE von 20 v.H. und hinsichtlich der Folgen nach dem Unfall vom 14. Mai 1990 eine MdE von 10 v.H. ergaben.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02. Mai 2007 unter Hinweis auf das Fehlen einer Mindest-MdE aus dem Unfall vom 28. Dezember 1988 zurück. Ein durch die Folgen nach dem Unfall am 14. Mai 1990 vermittelter Stütztatbestand liege nicht vor, weil die darauf zurückgeführten Gesundheitsschäden vom Dienstherrn des Klägers nicht als Unfallfolge anerkannt worden seien.

Der Kläger hat sein Begehren mit der am 31. Mai 2007 zum Sozialgericht Berlin erhobenen Klage weiterverfolgt. Er ist der Meinung gewesen, dass das sozialgerichtliche Verfahren im Hinblick auf die noch nicht bestandskräftige Entscheidung über den Unfallausgleich hätte ausgesetzt werden müssen. Das Sozialgericht hat die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Berlin zum Aktenzeichen VG 7 A 267.06 beigezogen und das Verfahren zunächst bis zur Entscheidung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsstreits ausgesetzt.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 16. September 2009 die Gewährung einer Verletztenrente ab. Sie führte zur Begründung aus, dass die Folgen des Arbeitsunfalls vom 28. Dezember 1988 mit einer unfallbedingten MdE von 20 v.H. und diejenigen des Dienstunfalls vom 14. Mai 1990 mit einer unfallbedingten MdE von 10 v.H. zu werten seien. Zwar sei nun ab dem Tag des Dienstunfalls die Mindest-MdE von 25 v.H. gegeben. Jedoch werde die Verletztenrente nicht ausgezahlt, weil sie die entsprechenden Dienst- und Versorgungsbezüge des Klägers nicht übersteige.

Der Kläger hat im Hinblick auf die im Bescheid vom 16. September 2009 angegebenen MdE-Werte ein Teilanerkenntnis erklärt. Nachdem das Sozialgericht die Beteiligten unter dem 11. März 2010 zum beabsichtigten Erlass eines Gerichtsbescheids angehört hatte, hat es mit Gerichtsbescheid vom 09. April 2010 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass sich aus der Verweisung in § 61 Abs. 1 S. 1 des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) bzw. § 576 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf die im Beamtenversorgungsgesetz (BeamtVG) enthaltenen Vorschriften ergebe, dass der Betroffene zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Unfallereignisses grundsätzlich zum anspruchsberechtigten Personenkreis der Unfallfürsorge gehören müsse. Zwar sei der Kläger im Zeitpunkt des Unfallereignisses Beamter gewesen, jedoch überstiege die berechnete Verletztenrentenleistung nicht, wie es § 61 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 SGB VII verlange, die Versorgungsbezüge und greife auch nicht gemäß § 61 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB VII der Mindestbehalt ein, weil die nach dem Unfall vom 28. Dezember 1988 anzunehmende MdE von 20 v.H. nicht den dafür nach § 35 BeamtVG i.V.m. § 31 Abs. 1 und 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) vorgesehenen Mindestwert von 25 v.H. erreiche. Eine damit unter Umständen gegenüber sonstigen Versicherten der gesetzlichen Unfallversicherung verbundene Schlechterstellung habe das Bundessozialgericht verfassungsrechtlich nicht beanstandet.

Der Kläger hat gegen das ihm am 23. April 2010 zugestellt Urteil am 24. April 2010 Berufung eingelegt. Er ist der Meinung, dass es zu den elementaren Grundsätzen des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung gehöre, dass die MdE von mehreren Unfällen mit einer MdE von jeweils mindestens 10 v.H. addiert werde. Auch im sozialen Entschädigungsrecht sei, wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere Gesundheitsstörungen beeinträchtigt werde, eine die Gesamtauswirkung der Gesundheitsstörungen zusammenfassende MdE festzusetzen. Eine vollständige Versagung von Rentenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung für mehrfach verunfallte Beamte, die insgesamt eine MdE von mindestens 25 v.H. erreichten, widerspreche dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, welcher aus Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) folge und besage, dass ein den Bürger belastendes Handeln nicht nur einer gesetzlichen Grundlage bedürfe, sondern außerdem so ausgeübt werden müsse, dass dabei individuelle Rechte soweit wie möglich geschützt blieben und Eingriff in die Rechtssphäre des Einzelnen nur zulässig seien, soweit es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich sei. Es läge auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor, weil der Beamtenstatus des Verunfallten keine ausreichende Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung bei der Verletztenrentengewährung darstelle. Soweit das BSG früher keine verfassungsrechtlichen Bedenken angemeldet habe, könne dies schon wegen der deutlich veränderten beamtenversorgungsrechtlichen Regelungen keine Aktualität mehr beanspruchen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 09. April 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. Mai 2007 sowie den weiteren Bescheid vom 16. September 2009 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger unter Berücksichtigung des Unfalls am 14. Mai 1990 als Stützrententatbestand eine Rente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Der Senat hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 29. Dezember 2010 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten und die als Beistück zu den Gerichtsakten genommenen Auszüge aus den Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Berlin zu VG 7 A 267.06 verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.

Gründe

Zunächst kann der Berichterstatter aufgrund des Beschlusses des Senats vom 29. Dezember 2010 gemäß § 153 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Einzelrichter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern den Rechtsstreit entscheiden.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und beschweren den Kläger nicht. Der Kläger hat den von ihm geltend gemachten Anspruch auf Gewährung einer Rente nach dem Unfall vom 28. Dezember 1988 unter Zugrundelegung eines aus dem Dienstunfall vom 14. Mai 1990 folgenden Stützrententatbestands nicht. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG zunächst abgesehen, weil die Berufung aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Gerichtsbescheids als unbegründet zurückzuweisen ist.

Ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen:

Der Dienstunfall vom 14. Mai 1990 kann nach der einfachgesetzlichen Rechtslage nicht verletztenrentenbegründend – als Stützrententatbestand – berücksichtigt werden. Eine solche Auslegung überschritte die Wortlautgrenze des einschlägigen Fachrechts.

Bei der Auslegung der Norm bildet der aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, dem besonderen Sprachgebrauch des Gesetzes und dem allgemeinen juristischen Sprachgebrauch zu entnehmende Wortsinn den Ausgangspunkt und bestimmt zugleich die Grenze der Auslegung (Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 2007, S. 163 ff.). Dabei gehen dem allgemeinen Sprachgebrauch der besondere Sprachgebrauch des Gesetzes und der allgemeine juristische Sprachgebrauch vor (Larenz/ Canaris, a.a.O., S. 145, 164).

§ 56 Abs. 1 S. 2 und 3 SGB VII bzw. § 580 RVO beziehen ihrem klaren Wortlaut im Sinne des speziellen gesetzlichen Sprachgebrauchs nach („infolge mehrerer Versicherungsfälle“ bzw. „Folgen eines Versicherungsfalls“) nur von SGB VII bzw. RVO erfasste Versicherungsfälle als Stützrententatbestände mit ein.

Auch die Voraussetzungen einer analogen Anwendung von § 56 Abs. 1 SGB VII bzw. 580 RVO liegen nicht vor. Soweit sich überhaupt eine Regelunglücke annehmen lässt, liegt jedenfalls nichts für eine Planwidrigkeit oder Vergleichbarkeit der Interessenlage vor. Plan bzw. Zweck des SGB VII bzw. der RVO ist es, nach Eintritt von Arbeitsunfällen unter anderem die Versicherten durch Geldleistungen zu entschädigen, vgl. § 1 Nr. 2 SGB VII. Hierzu gehört von vornherein nur der nach dem SGB VII bzw. der RVO versicherte Personenkreis. Entsprechend diesem Zweck werden Beamte, für die gemäß §§ 30, 35 BeamtVG an die Stelle der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich die Unfallfürsorge tritt und welche mithin nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versicherungsfrei sind, gemäß § 61 SGB VII bzw. § 576 RVO in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nur in dem Maße mit einbezogen, wie sie stünden, wenn sie einen Dienstunfall erlitten hätten. Hiervon ausgehend widerspricht es gerade nicht dem Plan des SGB VII, außerhalb seines Versicherungsschutzes liegende Dienstunfälle auch nur als Stützrententatbestand mit einzubeziehen. Angesichts der fortbestehenden Unterschiede hinsichtlich der sozialen Schutzbedürftigkeit von verletzten Beamten einerseits und anderen Verletzten liegt auch keine Vergleichbarkeit der Interessenlage vor. Der Beamte, der trotz eines dienstlichen oder außerdienstlichen Unfalls dienstfähig bleibt, erleidet durch den Unfall im Allgemeinen keine wirtschaftlichen Einbußen, weil ihm nach den Grundsätzen des Beamtenrechts das ihm zustehende Gehalt in der bisherigen Höhe weiterzuzahlen ist, wohingegen ein anderer Verletzter, dessen Erwerbsfähigkeit durch einen Arbeitsunfall nicht unwesentlich gemindert ist, vielfach nur ein seiner beschränkten Erwerbsfähigkeit entsprechendes Abreitseinkommen wird erzielen können (BSG, Urteile vom 30. Oktober 1964 – 2 RU 114/62 -, BSGE 22, 54, 57 f., und vom 31. Oktober 1978 – 2 RU 87/79 -, zitiert nach juris Rn. 23). Warum diese Rechtsprechung nach Ansicht des Klägers keine Geltung mehr beanspruchen soll, erschließt sich dem Senat nicht. Insbesondere lässt sich der vorgenannten Rechtsprechung angesichts der Fortgeltung von Art. 33 Abs. 5 GG, wonach das Recht des öffentlichen Diensts nach wie vor unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln ist, Aktualität jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang nicht absprechen.

Hiernach liegt auch nichts für die Verfassungswidrigkeit von §§ 56, 61 SGB VII bzw. §§ 576, 580 RVO vor. Eine Aussetzung des Verfahrens und Vorlage ans Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG kommt nicht in Betracht. Anhaltspunkte für die Verfassungswidrigkeit der streitentscheidenden einfachgesetzlichen Vorschriften liegen nicht vor. Zunächst fehlt es an einem Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Gleichheitsgrundrecht. Der Senat vermag zwischen verletzten Beamten und sonstigen Verletzten bereits keine vergleichbaren Sachverhalte zu erkennen. Jedenfalls liegt in der oben angesprochenen unterschiedlichen sozialen Schutzbedürftigkeit ein sachgerechter Differenzierungsgrund, welcher unter Zugrundelegung der insofern weiten Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers selbst dann verfängt, wenn „für den dadurch betroffenen Personenkreis – auch unter Berücksichtigung eines im Laufe der letzten Jahrzehnte eingetretenen gewissen Wandels der Verhältnisse der Staatsdiener – möglicherweise nicht eine in jeder Beziehung zweckmäßige, gerechte und der Billigkeit entsprechende Regelung“ vorliegt (BSG, Urteil vom 30. Oktober 1964, a.a.O., S. 58). Davon abgesehen vermag der Senat im vorliegenden Kontext staatlichen Leistungsverwaltungshandelns keinen Grundrechtseingriff zu erkennen, welcher aus rechtsstaatlichen Gründen (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) unter anderem verhältnismäßig sein müsste. Die Ausführungen des Klägers zum Vorliegen eines rechtsstaatswidrigen, weil unverhältnismäßigen (belastenden) Eingriffsverwaltungshandelns erschließen sich daher von vornherein nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision ist mangels Revisionszulassungsgrunds gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht zuzulassen.