LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.06.2011 - 6 Sa 443/11
Fundstelle
openJur 2012, 15433
  • Rkr:

Der Sachzusammenhang zwischen Stundenlohn und Zuschlägen für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit wird durch eine Darstellung des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertrag in der "konkrete Geldbeträge" beispielhaft neben "sonstige günstigere Arbeitsbedingungen" genannt werden, nicht aufgehoben.

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des ArbG Frankfurt (Oder) vom 20.01.2011 - 2 Ca 1196/10 – im Kostenausspruch und insoweit geändert, wie die Beklagte zur Zahlung von 103,96 € nebst Zinsen verurteilt worden ist, und die Klage auch insoweit abgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger steht aufgrund eines Arbeitsvertrags vom 6. Juni 2006 (Abl. Bl. 11 d.A.) als Wach- und Werkschutzkraft in einem Arbeitsverhältnis zur Beklagten. Er wird zur Bewachung von Objekten in Berlin eingesetzt. Der Stundenlohn des Klägers belief sich gemäß Nr. 3 des Arbeitsvertrags auf 4,74 € brutto. Unter Nr. 19 waren ein Nachtzuschlag von 7 %, ein Sonntagszuschlag von 35 % und ein Feiertagszuschlag von 75 % vereinbart.

Nach § 3 Nr. 2.1 des für allgemeinverbindlich erklärten Entgelttarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe Berlin und Brandenburg vom 9. Oktober 2009 (ETV) betrug der Stundenlohn für Sicherheitsmitarbeiter im Objektschutz in Berlin ab 1. November 2008 wie schon zuvor 5,50 € und ab 1. Januar 2010 6,25 €. Gemäß § 6 Abs. 1 ETV waren auf den Stundenlohn nach § 3 folgende Zuschläge zu zahlen:

        ab 01.11.2009ab 01.01.2010Nachtzuschlag:12 %    5 %   Sonntagszuschlag:40 %   25 %   Feiertagszuschlag:75 %   50 %   § 2 Nr. 2 ETV sah unter der Überschrift „Tarifvorrang“ vor, dass für alle Ansprüche der Arbeitnehmer, die diesen aufgrund schriftlicher Individualarbeitsvertragsregelung – in Form eines einheitlichen Arbeitsvertrages oder einer schriftlichen Ergänzung – hinsichtlich eines konkreten Geldbetrages, Urlaubsgewährung oder sonstiger günstigerer Arbeitsbedingungen gewährt würden, zu ihren Gunsten das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG gelte.

Das Arbeitsgericht Frankfurt (Oder) hat die Beklagte unter Abweisung der weitergehende Klage verurteilt, an den Kläger für März und April 2010 die Differenz zwischen den von der Beklagten abgerechneten tariflichen und vom Kläger mit Schreiben vom 28. Juni 2010 verlangten arbeitsvertraglichen Zuschlägen in rechnerisch unstreitiger Höhe von 103,96 € brutto nebst Rechtshängigkeitszinsen zu zahlen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, bei dem im Arbeitsvertrag geregelten Zuschlägen handele es sich um „sonstige günstigere Arbeitsbedingungen“ i.S.d. § 2 Nr. 2 ETV. Durch die Angabe der Beispiele eines „konkreten Geldbetrages“ und „Urlaubsgewährung“ hätten die Tarifvertragsparteien klarstellen wollen, dass der sonst praktizierte Sachgruppenvergleich nicht gewollt sei. In Anbetracht der Kodifizierung des Günstigkeitsprinzip in § 4 Abs. 3 TVG hätte es einer Regelung wie der des § 2 Nr. 2 ETV gar nicht gedurft. Da die Zuschläge in Nr. 19 des Arbeitsvertrags unter der Überschrift „Besondere Vereinbarungen“ und nicht zusammen mit dem Stundenlohn unter eine verbindenden Überschrift geregelt seien, bezögen sie sich auf den jeweiligen Stundenlohn des Klägers, der seit dem 1. Januar 2010 nach § 3 Nr. 2.1 ETV 6,25 € betrage.

Gegen dieses ihr am 25. Januar 2011 zugestellte Urteil richtet sich die am 25. Februar 2011 eingelegte und am 26. April 2011 nach entsprechender Verlängerung der Begründungsfrist begründete Berufung der Beklagten. Sie meint, für das Verständnis von § 2 Nr. 2 ETV sei auch dessen Überschrift „Tarifvorrang“ zu berücksichtigen. Die im ETV vorgesehenen Zuschläge seien gerade auf die tariflichen Stundenlöhne nach § 3 zu zahlen. Diese seien in einem Maße erhöht worden, dass sich trotz der Absenkung der Zuschläge eine deutliche Einkommensverbesserung ergeben habe. So hätte der Kläger für März 2010 auf der Grundlage seines Arbeitsvertrags lediglich 1.342,94 € brutto verdient, während sie ihm nach dem ETV ausweislich der Abrechnung für diesen Monat (Abl. Bl. 148 d.A.) 1.736,26 € brutto gezahlt habe. Nr. 2 des § 2 ETV dürfe nicht isoliert betrachtet werden. Auch stellten die Zeitzuschläge keine Arbeitsbedingungen, sondern Arbeitsfolgen dar. Schließlich wären die Besitzstandsregelungen in § 11 ETV überflüssig, wenn die Tarifvertragsparteien den Beschäftigten ohnehin sämtliche Vorteile aus abweichenden arbeitsvertraglichen Vereinbarungen hätten erhalten wollen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage unter Änderung des angefochtenen Urteils abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Ausführungen im angefochtenen Urteil für zutreffend und meint, dem eindeutigen Wortlaut des § 2 Nr. 2 ETV könne dessen Überschrift nicht entgegengehalten werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils und die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Gründe

1. Die innerhalb der verlängerten Begründungsfrist ordnungsgemäß begründete Berufung der Beklagten ist auch in der Sache begründet.

Der Kläger hat für März und April 2010 keinen Anspruch auf restlichen Lohn. Für die von ihm in diesen beiden Monaten nachts und sonntags geleisteten Arbeitsstunden standen ihm gemäß § 6 Abs. 1 ETV i.V.m. §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 4 TVG Zuschläge i.H.v. 5 bzw. 25 % auf der Grundlage eines Stundenlohns von 6,25 € gemäß § 3 Nr. 2.1 ETV zu. Die unter Nr. 19 im Arbeitsvertrag des Klägers getroffene Regelung eines Nachtszuschlags i.H.v. 7 % und eines Sonntagszuschlags i.H.v. 35 % stellte keine vom ETV zu Gunsten des Klägers abweichende Abmachung i.S.d. § 4 Abs. 3 TVG dar.

1.1 Es konnte dahinstehen, ob die unter Nr. 19 des Arbeitsvertrags vereinbarten Prozentsätze für die diversen Zuschläge durch die günstigeren Prozentsätze im ETV ab 1. November 2009 endgültig beseitigt oder nur bis zu deren Absenkung ab 1. Januar 2010 verdrängt worden waren (vgl. BAG, Urteil vom 10.02.1999 – 2 AZR 422/98BAGE 91, 22 = AP KSchG 1969 § 2 Nr. 52 zu II 2 d der Gründe), was letztlich eine Auslegungsfrage ist (Wiedemann/Wank, TVG, 7. Aufl. 2007, § 4 R 370 ff.).

1.2 Jedenfalls dürfen die Zuschläge im Arbeitsvertrag und im ETV nicht isoliert einander gegenübergestellt werden, sondern sind in einen sog. Sachgruppenvergleich einzubeziehen (dazu BAG, Urteil vom 05.08.2009 – 10 AZR 634/08AP TzBfG § 4 Nr. 21 R 27), der auch die jeweiligen Stundenlöhne berücksichtigt, was ebenfalls eine Frage der Auslegung von Arbeitsvertrag und Tarifvertrag ist (vgl. BAG, Urteil vom 23.05.1984 – 4 AZR 129/82BAGE 46, 50 = AP BGB § 339 Nr. 9 Bl. 840R).

1.2.1 Obwohl die Zuschläge im Arbeitsvertrag vom 6. Juni 2006 nicht unter derselben Nummer wie der Grundlohn des Klägers geregelt sind, stellen diese doch aufgrund dessen, dass der Grundlohn die Bezugsgröße für die lediglich mit Prozentsätzen aufgeführten Zuschläge abgibt, eine im Zusammenhang zu sehende Bestimmung der Gesamtvergütung für die auch nachts, sonntags und an Feiertagen zu leistende Arbeit des Klägers dar. Dies entspricht auch der für eine Vertragsauslegung gemäß § 157 BGB zu berücksichtigenden Verkehrsanschauung (BAG, Urteil vom 23.05.1984 – 4 AZR 129/82BAGE 46, 50 = AP BGB § 339 Nr. 9 Bl. 841; Wiedemann/Wank, TVG, 7. Aufl. 2007, § 4 R 372).

1.2.2 Ein solcher Sachzusammenhang ergab sich auch für die Regelung der Stundenlöhne in § 3 ETV und die darauf sogar ausdrücklich Bezug nehmende Regelung der Zuschläge in § 6 ETV. Dass dieser Zusammenhang durch § 2 Nr. 2 ETV hat aufgehoben werden sollen, war nach den für Tarifverträge geltenden Grundsätzen der Auslegung von Gesetzen (dazu BAG, Urteil vom 05.02.2009 – 6 AZR 114/08BAGE 129, 284 = AP TVöD § 8 Nr. 6 R 23) nicht erkennbar. Vielmehr handelte es sich um einen bloßen Hinweis auf das zu Gunsten der Arbeitnehmer geltende Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG. Ein solcher Hinweis war auch durchaus sinnvoll, um den Normadressaten bewusst zu machen, dass sie weitergehende Ansprüche aus ihren Einzelverträgen durchaus auch weiterhin erheben können. Aus der beispielhaften Erwähnung eines „konkreten Geldbetrages“ konnte nicht geschlossen werden, dass dieser von den Lohnzuschlägen als „sonstiger günstigerer Arbeitsbedingungen“ ausnahmsweise getrennt zu betrachten sein sollte. Dagegen sprach zudem, dass sich Nr. 1 des § 2 ETV ebenfalls in einer Unterrichtung über die Rechtslage bei Ansprüchen aus nachwirkenden Tarifverträgen und aus Betriebsvereinbarungen erschöpfte.

Der Annahme einer gezielten Auflösung des Sachzusammenhangs zwischen Grundlohn und Zuschlägen stand weiterhin die Tarifgeschichte entgegen. Während im ETV vom 28. Februar 2008 keine entsprechende Regelung zu finden war, hatten seine beiden Vorläufer vom 7. März 2003 und 26. Juli 2006 eine solche enthalten. Ein Wille, damit die Arbeitsbedingungen jeweils unterschiedlich zu gestalten, kam darin nicht zum Ausdruck.

Schließlich durfte nicht übersehen werden, dass die Tarifvertragsparteien die deutliche Erhöhung der Stundenlöhne synchron zur Absenkung der Zuschläge geregelt und beides damit erkennbar aufeinander abgestimmt hatten.

1.3 Auch auf der Rechtsfolgenseite hätte dem Kläger nur teilweise Erfolg beschieden sein können. Selbst wenn man mit dem Arbeitsgericht davon ausginge, dass im ETV der Sachzusammenhang zwischen Stundenlöhnen und Zuschlägen aufgehoben worden sein sollte, führte dies doch lediglich dazu, den arbeitsvertraglichen Stundenlohn des Klägers nebst der arbeitsvertraglichen Zulage dem tarifvertraglichen Stundenlohn gegenüber zu stellen. Danach hätten dem Kläger lediglich für seine Arbeitsstunden am Sonntag mit (4,74 x 135 % =) 6,40 € noch jeweils (6,40 ./. 6,25 =) 0,15 € zugestanden, insgesamt mithin (0,15 x 48 =) 7,20 €, während sich durch die deutlich geringeren Nachtzuschläge keine Veränderung ergeben hätte.

2. Als unterlegene Partei hat der Kläger gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO die gesamten Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ZPO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Auslegung des ETV für eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen zuzulassen.