OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.03.2011 - OVG 12 B 12.10
Fundstelle
openJur 2012, 14862
  • Rkr:
Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. November 2008 wird geändert. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 19. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 2008 in der Gestalt der Entscheidung vom 19. November 2008 verpflichtet, die Wirkung der gegenüber dem Kläger verfügten Ausweisung vom 17. August 1998 auf den Tag der freiwilligen Ausreise zu befristen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der im Oktober 1964 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt die Befristung der Sperrwirkung seiner Ausweisung auf den Tag seiner Ausreise.

Der Kläger zog im September 1980 zu seinem im Bundesgebiet lebenden und hier seit 1971 als Arbeitnehmer tätigen Vater. Seine Schulbildung wurde ihm im Land Berlin als Realschulabschluss anerkannt. Er nahm an einem Sprach- und einem Berufsbildungskurs teil und erhielt zuletzt im Jahr 1990 eine Aufenthaltsberechtigung. Nach seiner Eheschließung war er im Betrieb seiner Ehefrau tätig sowie Inhaber einer Gaststätte. Der Kläger ist Vater von zwei deutschen Kindern, die 1990 sowie 1995 geboren sind. Im Jahr 2004 trennte sich der Kläger von seiner Ehefrau. Nach der Scheidung im Jahr 2008 blieb er gemeinsam mit ihr sorgeberechtigt. Die Eltern des Klägers und seine sechs Geschwister leben ebenfalls in Berlin.

1996 verurteilte das Landgericht Berlin den in dieser Sache 1995 nach Begehung der Tat festgenommenen Kläger wegen gemeinschaftlicher Einfuhr und tateinheitlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Der Kläger befand sich bereits kurze Zeit nach Strafantritt im offenen Vollzug, war als Hausarbeiter für die Senatsverwaltung für Justiz tätig und besuchte als Freigänger regelmäßig seine Familie.

Mit Bescheid vom 17. August 1998 wies das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten den Kläger aus dem Bundesgebiet aus, wobei es die an sich vorliegende zwingende Ausweisung wegen besonderen Ausweisungsschutzes zur Regelausweisung herabstufte. Zur Begründung heißt es u.a.: „Der Sachverhalt, der Ihrer Ausweisung zugrunde liegt, lässt befürchten, dass von Ihnen auch künftig erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen werden.“ Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Senatsverwaltung für Inneres mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 1999 zurück. Im November 1999 stellte der Kläger, den der Beklagte aus der Haft heraus abschieben wollte, einen Asylantrag und führte ein Asylverfahren durch, das 2005 rechtskräftig zu seinen Lasten abgeschlossen wurde.

Mit Schreiben vom 8. Juni 1999 sowie im Juli 1999 stellte der Kläger einen Befristungsantrag, den er Ende 2004 wiederholte und an den er im April 2005 erinnerte. Anfang 2000 war der Kläger vorzeitig aus der Strafhaft entlassen worden. Nachdem der Beklagte zunächst mitgeteilt hatte, dass die Akte der Senatsverwaltung für Inneres vorliege und er unaufgefordert auf die Angelegenheit zurückkomme, gab er unter dem 6. Juli 2006 bekannt, dass er die Entscheidung über die Befristung bis zur Ausreise des Klägers aussetze.

Mit Bescheid vom 19. April 2007 befristete die Ausländerbehörde die Sperrwirkung der Ausweisung auf drei Jahre ab dem Tag der Ausreise. Der Zweck der Ausweisung sei noch nicht erfüllt. Bei einer auf § 53 Nr. 2 AufenthG (früher § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG) gestützten Ausweisung sei ein strenger Maßstab anzulegen. Familiäre Gründe stünden dem nicht entgegen. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. März 2008 zurück und änderte den Ausgangsbescheid zu Lasten des Klägers dahingehend ab, dass die Befristung unter die Bedingung der freiwilligen Ausreise bis zum 1. Juni 2008 gestellt wurde. Unterbleibe die Ausreise, so müsse von einem atypischen Fall ausgegangen werden, der eine unbefristete Ausweisung rechtfertige. Die Ausweisung sei zwingend gewesen und aufgrund eines Betäubungsmitteldeliktes erfolgt. Der Kläger sei nach seiner Entlassung aus der Strafhaft untergetaucht und halte sich illegal im Bundesgebiet auf.

Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger im Wesentlichen geltend gemacht: Bei der Befristung sei von einem Regelfall auszugehen. Auf generalpräventive Gründe dürfe die Ausländerbehörde nicht abstellen, weil dem Kläger im Zeitpunkt der Ausweisung ein Recht aus Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - zugestanden habe. Spezialpräventive Gründe für eine Aufrechterhaltung der Sperrwirkung lägen nicht mehr vor. Er sei seit 1995 nicht mehr straffällig geworden, habe im damaligen Strafverfahren ein Geständnis abgelegt und sei von weiterer Untersuchungshaft gegen Meldeauflagen verschont worden. Schon Ende Mai 1997 habe er Vollzugslockerungen erhalten und sei im Außenkommando bei der Senatsverwaltung für Justiz zur Arbeit eingesetzt worden. Anfang 2000 sei die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Nach Ablauf der Bewährungszeit habe die Strafvollstreckungskammer die restliche Freiheitsstrafe im März 2003 erlassen. Er habe 2006 bei dem türkischen Generalkonsulat einen Pass beantragt, jedoch wegen des von dem Beklagten eingezogenen Nüfus keinen Pass bekommen. Die Ausländerbehörde habe ihm mitgeteilt, dass man vor dort aus einen Pass für ihn beantragen werde. Während des Asylverfahrens sei er nicht untergetaucht, sondern habe wegen eines Autounfalles nicht zur Anhörung erscheinen können. Seine Ehefrau habe mit einem Wirbelbruch im Krankenhaus gelegen, und er habe sich um die Kinder gekümmert. Der Beklagte habe die familiäre Beziehung zu seinen Kindern unzureichend gewürdigt.

Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Berlin am 19. November 2008 die angegriffenen Bescheide geändert. Er hat die aufschiebende Bedingung aufgehoben und die Wirkung der Ausweisung auf ein Jahr ab Ausreise befristet. Dies sei im Hinblick auf die Schwere und Art der Tat angemessen. Hinzu komme die beharrliche Weigerung des Klägers, seiner Ausreiseverpflichtung nachzukommen. Der Kläger könne für ein Jahr unter Zuhilfenahme moderner Kommunikationsmittel den Kontakt zu seinen Kindern aufrechterhalten.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage, die weiterhin auf eine Verpflichtung des Beklagten zur Befristung der Ausweisung auf den Tag der Ausreise zielte, mit Urteil vom 19. November 2008 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der mit der Ausweisung verfolgte ordnungsrechtliche Zweck sei hier erreicht. Der Kläger habe durch die von ihm begangene Tat einen zwingenden Ausweisungsgrund gesetzt. Aufgrund der dabei zutage getretenen erheblichen kriminellen Energie sei es nicht zu beanstanden, dass der Beklagte eine Wiederholungsgefahr indiziert sehe. Der Kläger halte sich seit der Ablehnung des Asylantrags illegal im Bundesgebiet auf und sei seit 2002 nicht mehr im Besitz eines gültigen Passes. Er habe daher den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG verwirklicht und die ihm nach § 82 AufenthG obliegende Mitwirkungspflicht verletzt. Dies zeige, dass er weiterhin nicht bereit sei, die deutsche Rechtsordnung zu akzeptieren. Die vorübergehende Trennung von seinen Kindern verstoße nicht gegen Art. 6 Abs. 1 GG, weil der Kläger insoweit nicht den Nachweis einer unzumutbaren Härte erbracht habe.

Mit der von dem Senat zugelassenen Berufung wiederholt und vertieft der Kläger sein bisheriges Vorbringen. Er macht erneut geltend, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgehe. Bis zum Abschluss des Asylverfahrens im Jahr 2005 sei sein Aufenthalt wegen § 55 AsylVfG nicht unrechtmäßig gewesen. Im Übrigen habe die Ausländerbehörde nichts unternommen, um gegen ihn ausländerrechtlich vorzugehen und seinen Aufenthalt zwangsweise zu beenden. Das Verhalten des Klägers sei Folge des Streites um die Befristung gewesen. Weder der Beklagte noch das Verwaltungsgericht hätten die persönlichen und familiären Belange hinreichend berücksichtigt.

Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. November 2008 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 19. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 2008 in der Gestalt der Entscheidung vom 19. November 2008 zu verpflichten, die Wirkung der gegenüber dem Kläger verfügten Ausweisung vom 17. August 1998 auf den Tag der freiwilligen Ausreise zu befristen,

2. die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angegriffene Urteil für rechtmäßig. Der ordnungsrechtliche Zweck der Ausweisung sei noch nicht erreicht. Der Kläger habe eine Straftat von erheblichem Gewicht begangen, die die zwingenden Ausweisungstatbestände des § 53 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG verwirkliche. In diesem Zusammenhang müsse auch berücksichtigt werden, dass sich der Kläger seit längerem seiner bestehenden Ausreisepflicht widersetze. Seit 2002 sei er nicht mehr im Besitz eines gültigen Reisedokumentes, obwohl dessen Beschaffung ohne weiteres möglich sei. Aufgrund der Passlosigkeit sei mit Abschluss des Asylverfahrens der Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 AufenthG verwirklicht. Darin habe das Verwaltungsgericht zutreffend eine fortgesetzte Störung der öffentlichen Sicherheit und den mangelnden Willen des Klägers zur Befolgung der nationalen Rechtsordnung gesehen.

Dass der ordnungsrechtliche Zweck der Ausweisung noch nicht erreicht worden sei, zeigten nicht nur die fehlenden Passbeschaffungsbemühungen, sondern auch der rechtsmissbräuchlich gestellte Asylantrag. Es komme nicht darauf an, ob durch den Kläger zukünftig weitere gewichtige Straftaten drohten, die mit den der Ausweisung zu Grunde liegenden Verstößen vergleichbar seien. Vielmehr müsse darauf abgestellt werden, ob der Ausgewiesene zukünftig zu einer umfassenden Einhaltung der Rechtsordnung bereit sei. Anderenfalls habe dies zur Folge, dass an das zukünftige Verhalten von Personen, die schwerwiegende Strafrechtsverstöße begangen hätten, geringere Anforderungen gestellt würden als an Personen, die nur wegen weniger gewichtiger Strafrechtsverstöße ausgewiesen worden seien. Der Kläger dürfe nicht für die jahrelange absichtliche Verzögerung seiner Ausreiseverpflichtung privilegiert werden. Anderenfalls werde der Sinn und Zweck der Ausweisung und der sich daran anschließenden Sperrfrist unterlaufen. Derjenige Ausländer, der sich fortgesetzt im Widerspruch zur Rechtsordnung verhalte, dürfe nicht deutlich besser behandelt werden, als derjenige, der seiner Ausreisepflicht nachkomme. Dies erfordere, dass man den mit der Sperrfrist verfolgten spezialpräventiven ordnungsrechtlichen Zweck als noch nicht erreicht ansehe.

Die Dauer der Sperrfrist stelle sich als verhältnismäßig dar. Sie bleibe unter dem Zeitraum, den die maßgeblichen, der Ermessenslenkung dienenden Verwaltungsvorschriften vorsähen. Den familiären Belangen sei Genüge getan, das ältere Kind habe mittlerweile das 18. Lebensjahr vollendet. Dem Kläger stehe derzeit noch ein absehbarer Anspruch auf Wiedereinreise zu seinem minderjährigen deutschen Sohn gem. §§ 27 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu. Nach alledem sei weiterhin von einer Gefährlichkeit des Klägers auszugehen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Streitakte sowie die von dem Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge (3 Bände Ausländerakten) Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.

Gründe

Die Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, denn die versagenden Bescheide sind rechtswidrig. Der Kläger hat auf die von ihm begehrte weitere Befristung auf den Tag der freiwilligen Ausreise einen Anspruch, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Rechtsgrundlage der Befristungsentscheidung ist § 11 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Satz 1 und Satz 2 AufenthG. Danach wird die Sperrwirkung der Ausweisung (Einreiseverbot, Verbot der erneuten Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) auf Antrag in der Regel befristet, wobei die Bemessung der Frist grundsätzlich im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde steht.

Die Dauer der mit einer Ausweisung verfügten Sperrwirkung richtet sich im Hinblick auf deren Akzessorietät nach dem mit der Ausweisung verfolgten zulässigen konkreten Zweck (vgl. dazu auch VGH München, Beschluss vom 26. März 2009 – 19 ZB 09.498 -, juris, Rn. 2; VGH Mannheim, Urteil vom 26. März 2003, InfAuslR 2003, 333). Die Sperrwirkung darf grundsätzlich nur so lange fortbestehen, wie es der Ausweisungszweck erfordert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. April 1984, BVerwGE 69, 137, 141; Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage, § 11 Rn. 23; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 11 AufenthG Rn. 25 ff., 30). Ist der Zweck erreicht, so ist das der Ausländerbehörde eingeräumte Befristungsermessen in der Regel auf Null reduziert, und eine zeitliche Befristung kommt selbst dann nicht mehr in Betracht, wenn der Ausländer noch nicht ausgereist ist (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 11. August 2000, BVerwGE 111, 369).

Bei der Beantwortung der Frage, ob der mit der Maßnahme verfolgte spezialpräventive oder generalpräventive Ausweisungszweck erfüllt ist, muss die Ausländerbehörde eine Gefahrenprognose treffen, bei der sie alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt und sachgerecht abwägt. Hierzu zählen auch das Verhalten des Ausländers nach der Ausweisung und der Ausweisungsgrund (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2007, BVerwGE 129, 243).

Gemessen daran hat der Kläger einen Anspruch darauf, dass der Beklagte die Wirkung der Ausweisung – wie beantragt – auf den Tag der freiwilligen Ausreise befristet. Das dem Beklagten insoweit zustehende Ermessen ist auf Null reduziert, weil der hier allein zulässige spezialpräventive Zweck der Ausweisung erfüllt ist. Es ist nicht mehr zu erwarten, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Klägers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 31. August 2004 – 1 C 25/03 -. BVerwGE 121, 356 = juris Rn. 16).

Der Kläger ist 1998 wegen des ihm gemäß § 48 Abs. 1 AuslG zustehenden besonderen Ausweisungsschutzes aus schwer wiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen worden, wobei die zwingende Ausweisung im Sinne von § 47 Abs. 1 AuslG nach § 47 Abs. 3 Satz 1 zur Regel-Ausweisung herabgestuft worden war. Die Ausweisung durfte im Hinblick auf das dem Kläger unstreitig zustehende Recht aus Art. 7 ARB Nr. 1/80 nur aus spezialpräventiven Gründen erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 2005, BVerwGE 124, 243). Die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige allein im Ermessenswege ausgewiesen werden dürfen, ist allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt entwickelt worden (vgl. insoweit BVerwG, Urteil vom 3. August 2004, BVerwGE 121, 315 ff.). Im Hinblick auf das ihm zustehende Assoziationsrecht hätte der Kläger danach nur im Ermessenswege und nur dann ausgewiesen werden dürfen, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung dargestellt hätte, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührte. Eine strafrechtliche Verfehlung durfte nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellte und auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutete (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 - C-349/06 – Polat, NVwZ 2008, 59 Rn. 28 ff.; BVerwG, Urteil vom 2. September 2009, NVwZ 2010, 389). Es spricht einiges dafür, dass auch diese Voraussetzungen vor allem im Hinblick auf die Art der Straftat (Handeltreiben mit Betäubungsmitteln) und auf deren erhebliches Gewicht, das sich u.a. in dem verhängten Strafmaß von vier Jahren Freiheitsstrafe manifestiert, vorlagen.

Die im Zeitpunkt der Ausweisung 1998 unter Berücksichtigung besonderen Ausweisungsschutzes gestellte Prognose, dass im Hinblick auf das gravierende Drogendelikt eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Klägers ernsthaft drohte und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausging (vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Urteil vom 28. Januar 1997 - 1 C 17/94 -, juris Rn. 19 = InfAuslR 1997, 296), ist nicht bestätigt worden und lässt sich jetzt nicht mehr aufrecht erhalten. Der Kläger war den Feststellungen des Urteils des Landgerichts Berlin vom 21. Mai 1996 zufolge bis zur Begehung der Straftat im August 1995 in wirtschaftlicher, sprachlicher und sozialer Hinsicht in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert. Er unterhält bis heute schutzwürdige familiäre Beziehungen zu seinen Kindern und lebte bis 2004 in ehelicher Lebensgemeinschaft mit deren Mutter. Vor der Begehung des Betäubungsmitteldelikts im Sommer 1995 war er strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Dies ist auch seit seiner Festnahme vor rund 15 ½ Jahren nicht mehr der Fall gewesen. Dem Kläger wurden während seiner Inhaftierung bereits 1997 und somit sehr frühzeitig Vollzugslockerungen u.a. als Freigänger gewährt. Die Anfang 2000 mit Aussetzung der restlichen Strafvollstreckung (§ 57 StGB) auferlegte Bewährungszeit ist schon vor vielen Jahren erfolgreich abgelaufen; die ausgesetzte restliche Freiheitsstrafe wurde vor 8 Jahren erlassen. Vor diesem Hintergrund können dem Kläger die hohe kriminelle Energie, die sich seinerzeit in der begangenen Straftat manifestiert hat, und deren erheblicher Unwertgehalt nicht mehr vorgehalten werden. Der Zweck der Ausweisung, mit der der Beklagte einer Wiederholungsgefahr begegnen wollte (und allein durfte), ist inzwischen erreicht.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kommt einem unterstellten Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK hier kein so erhebliches Gewicht zu, dass der Kläger mit dem Beklagten weiterhin für gefährlich gehalten und der Zweck der 1998 verfügten Ausweisung als noch nicht erfüllt angesehen werden dürfte. Es kommt in rechtlicher Hinsicht insoweit nicht allein auf die Frage an, ob der Kläger nach der Ausweisung erneut in irgendeiner Weise straffällig geworden ist, sondern entscheidend ist vielmehr, ob eine eventuell erneut begangene Straftat die im Zeitpunkt der Ausweisung gestellte Gefahrenprognose bestätigt, d.h. ob die prognostizierte Gefährlichkeit fortbesteht und deshalb eine Aufrechterhaltung der Sperrwirkung erforderlich ist. Die Gefahrenprognose ist wiederum im Zusammenhang mit der rechtlichen Grundlage zu sehen, die zu der Ausweisung des Ausländers geführt hat. Geringfügigen strafrechtlichen Verfehlungen muss hier zumindest eine Indizwirkung dafür zukommen, dass der Ausweisungszweck noch nicht erfüllt ist und die Begehung weiterer – auch erheblicher - Straftaten erwartet werden kann.

Anders als der Beklagte meint bedeutet dies keine unzulässige Privilegierung bestimmter Ausländer, denn schließlich hängt auch die Möglichkeit einer Ausweisung von der Verfestigung des Aufenthaltsstatus und der konkreten Situation des Ausländers ab. So hätte der Kläger im Gegensatz etwa zu einem Ausländer ohne verfestigten Aufenthaltsstatus und ohne Bindungen im Bundesgebiet nicht wegen einer geringfügigen Straftat ausgewiesen werden können. Dass bestimmte Ausländer auf einfachere Weise ausgewiesen werden können als andere, entspricht dem gesetzlichen Befund und bedeutet keine unzulässige Ungleichbehandlung.

Gemessen daran geben etwaige aufenthaltsrechtliche Verstöße durch den Verbleib des Klägers im Bundesgebiet sowie etwaige fehlende Bemühungen um Ausstellung eines Passes im Hinblick auf ihre Art und ihr Gewicht keinen greifbaren Anhaltspunkt dafür, dass der Zweck der 1998 verfügten Ausweisung noch nicht erfüllt ist. Dies hat auch der Beklagte in seinem Widerspruchsbescheid vom 26. März 2008 offensichtlich so gesehen, denn er hat als Zweck der Ausweisung u.a. die Verhinderung weiterer vergleichbarer Straftaten genannt.

Soweit das Bundesverwaltungsgericht das Vorliegen eines Ausnahmefalles von der regelmäßig zu erfolgenden Befristung für möglich gehalten hat, wenn ein Ausländer nicht freiwillig ausgereist ist und – ggf. mehrfach - abgeschoben werden musste, oder wenn ein Ausländer illegal wieder einreist (BVerwG, Urteil vom 11. August 2000, BVerwGE 111, 369), ist diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Abgesehen davon, dass es – wie auch das Bundesverwaltungsgericht betont – stets auf die Umstände des Einzelfalles ankommt, ist der Kläger nicht abgeschoben worden und versucht auch nicht mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit und unbeeindruckt von der Ausweisung, sich ein Bleiberecht im Bundesgebiet zu verschaffen. Der Beklagte hat auch keinen weiteren Versuch unternommen, den Kläger abzuschieben. Nach alledem ist eine Aufrechterhaltung der Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen nicht geboten. Von dem Kläger geht die im Zeitpunkt der Ausweisung bejahte Gefahr nicht mehr aus.

Unabhängig davon haben weder das Verwaltungsgericht noch der Beklagte hinreichend geklärt, ob und in welchem Ausmaß der Kläger tatsächlich in strafrechtlich relevanter Weise gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Zum einen ist insofern zu berücksichtigen, dass eine etwaige Strafbarkeit bis zum Abschluss des Asylverfahrens im Jahr 2005 nicht bestanden haben dürfte. Zum anderen spricht einiges dafür, dass dem Kläger im Hinblick auf seine familiäre Situation und das ihm für beide Kinder zustehende und tatsächlich ausgeübte Sorgerecht ein Duldungsanspruch nach – heute - § 60 a AufenthG zustand. Insoweit kommt es nicht allein darauf an, ob die minderjährigen Kinder auf eine Unterstützung durch den Kläger angewiesen waren, sondern auf die Intensität der zu keinem Zeitpunkt unterbrochenen familiären Beziehungen. Unter diesen Umständen hätte dem Kläger sogar trotz der Ausweisung eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden können, ohne dass die Sperrwirkung hierdurch beseitigt worden wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. April 2010, BVerwGE 136, 284). Der 1995 geborene Sohn des Klägers, mit dem er bis 2004 in Haushaltsgemeinschaft gelebt hatte, war bei Abschluss des Asylverfahrens erst zehn Jahre alt, und die familiären Bindungen zu dem Kläger waren schon damals - wie die Tochter des Klägers in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und nachvollziehbar bekundet hat - von erheblichem Gewicht. Hinzu kommt, dass der Geburt des Sohnes während der Untersuchungshaft des Klägers eine Zäsurwirkung zukommt, denn der Kläger ist danach strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten. Die familiäre Beziehung wurde auch während der Inhaftierung des Klägers gelebt, weil er sehr bald in den offenen Vollzug verlegt wurde und seine Familie regelmäßig besuchte.

Im Übrigen hat der Beklagte den bereits 1999 gestellten Befristungsantrag erst nach rund acht Jahren beschieden, und die ursprünglichen Bescheide, die der Beklagte erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zu Gunsten des Klägers geändert hat, waren im Hinblick auf die Dauer der Befristung und die dann mit dem Widerspruchsbescheid vom 26. März 2008 - dreizehn Jahre nach Begehung der Straftat - verfügte Verneinung eines Regelfalles im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG offensichtlich rechtswidrig. Unter all diesen Umständen kann es dem Kläger hier nicht im Befristungsverfahren vorgehalten werden, der Ausweisungszweck sei noch nicht erfüllt, weil der Kläger nicht freiwillig ausgereist sei.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1VwGO. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig, § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Es war dem Kläger nicht zuzumuten, das Widerspruchsverfahren ohne anwaltlichen Beistand durchzuführen.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

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