SG Potsdam, Urteil vom 07.12.2010 - S 36 R 121/09
Fundstelle
openJur 2012, 14277
  • Rkr:

Der Begriff Arbeitsentgelt im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 AAÜG ist unter Berücksichtigung des in §§ 14, 17 SGB IV i.V.m. § 1 Arbeitsentgeltverordnung in der am 01. August 1991 geltenden Fassung verwirklichten Grundsatzes der Parallelität von Steuer- und Beitragspflicht auszulegen.

Verpflegungsgeld, Reinigungszuschlag und Schichtzuschlag der Mitarbeiter der Zollverwaltung der ehemaligen DDR sind bis 31. Dezember 1990 keine überführungsfähigen Arbeitsentgeltbestandteile, weil hierfür nach den im Zuflusszeitpunkt geltenden Bestimmungen des Steuerrechts keine Steuerpflicht bestand.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

3. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung von Verpflegungsgeld, Reinigungszuschlag und Schichtzuschlag als weitere Arbeitsentgelte nach dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG).

Der Kläger war bei der Zollverwaltung der DDR beschäftigt. Das Dienstverhältnis wurde mit Wirkung vom 03. Oktober 1990 mit der Bundesfinanzverwaltung der Bundesrepublik Deutschland fortgesetzt.

Die Besoldung des Klägers erfolgte während der Beschäftigung bei der Zollverwaltung der DDR entsprechend der jeweils gültigen Besoldungsordnung. Der Kläger erhielt ausweislich der vorliegenden Unterlagen eine Besoldung für den Dienstgrad, für die Dienststellung sowie das Dienstalter (sog. Dienstbezüge). Hiervon wurden monatlich 10 % für das Sonderversorgungssystem sowie die Lohnsteuer abgezogen. Als weitere Zahlungen erhielt der Kläger unter anderem Wohngeld, Verpflegungsgeld sowie den Reinigungszuschlag.

Mit Überführungsbescheid vom 16. Juli 1998 stellte die Oberfinanzdirektion Berlin als Zusatzversorgungsträger die nachgewiesenen Zeiten der Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem der Angehörigen der Zollverwaltung der DDR sowie die entsprechenden Arbeitsentgelte fest. Hierbei berücksichtigte die Beklagte die Dienstbezüge des Klägers für den Dienstgrad, die Dienststellung sowie das Dienstalter und außerdem das Wohngeld, die Hauptstadtzulage sowie den Grenzzuschlag. Nicht berücksichtigt worden sind dagegen das Verpflegungsgeld, der Reinigungszuschlag und die Schichtzulage. Der Überführungsbescheid ist bestandskräftig geworden.

Am 30. Oktober 2007 stellte der Kläger einen Überprüfungsantrag und begehrte mit Blick auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. August 2007, B 4 RS 4/06 R (Jahresendprämien) die Überprüfung des Überführungsbescheides und die Feststellung weiterer Zahlungen als Arbeitsentgelt.

Mit Überprüfungsbescheid vom 15. September 2008 lehnte die Beklagte die Überführung weiterer Arbeitsentgelte ab. Es bestehe kein Anspruch auf Berücksichtung weiterer Zahlungen bei der Feststellung des während der Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem der Zollverwaltung der ehemaligen DDR erzielten Arbeitsentgelts. Die vom Kläger geltend gemachten weiteren Zahlungen hätten lediglich einen Aufwendungsersatzcharakter. Sie wären daher weder ihrem Charakter entsprechend nach bundesdeutschem Rechtsverständnis rentenversicherungspflichtiges Entgelt, noch seien sie nach der Versorgungsordnung der Zollverwaltung der ehemaligen DDR beitragspflichtig gewesen.

Der Kläger hat am 17. Oktober 2008 Widerspruch erhoben, welchen die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06. Februar 2009 als unbegründet zurückwies. Der Arbeitsentgeltbegriff nach § 6 Abs. 1 AAÜG nehme zwar auch Bezug auf § 14 des SGB IV. Jedoch habe der Gesetzgeber mit dem Klammerzusatz, welcher auf § 256 a Abs. 2 des SGB IV verweise, ausdrücklich einen Bezug zu dem dem Grunde nach versicherbaren rentenrechtlichen Verdienst der Versicherten der Sozialversicherung herstellen wollen. Daraus folge, dass Leistungen, welche dem Grunde nach nicht rentenrechtlich versicherbar gewesen seien und auch nach dem Versorgungsrecht keine Bedeutung gehabt hätten, nicht überführt werden könnten. Der Gesetzgeber habe innerhalb des AAÜG für ehemals Sonderversorgte keinesfalls einen Entgeltbegriff zugrunde legen wollen, mit welchem diesen höhere rentenrechtliche Rangstellen vermittelt würden, als dem von § 256 a SGB VI erfassten Personenkreis. Des Weiteren verwies die Beklagte nochmals auf den Aufwendungsersatzcharakter des Verpflegungsgeldes. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. August 2007 betreffe lediglich die Jahresendprämien. Eine Übertragung dieses Urteils auf die vorliegenden Sachverhalte sei ausgeschlossen.

Der Kläger hat am 26. Februar 2009 Klage erhoben. Er vertritt die Auffassung, dass es sich bei dem Verpflegungsgeld, dem Reinigungszuschlag sowie der Schichtzulage um überführungspflichtige Arbeitsentgelte handele.

Es sei bereits nicht erkennbar, nach welchen Kriterien die Beklagte die überführten und nicht überführten Besoldungsbestandteile unterschieden habe. Denn überführt worden seien nicht nur die Dienstbezüge (Vergütung für Dienstgrad, Dienststellung und Dienstalter) sondern auch die Fremdsprachenzulage, die Überstundenzulagen für Kraftfahrer, die Hauptstadtzulage, die Ärztezulage sowie die Lehrerzulage, des Weiteren die Zuschläge für den Grenzdienst und für die Führung eines Diensthundes sowie das Wohngeld als so genannte „weitere Zahlungen“ nach der Besoldungsordnung der Zollverwaltung der DDR. Nicht als weitere Zahlungen in diesem Sinne überführt worden seien dagegen das Verpflegungsgeld, das Bekleidungsgeld, der Haarpflegezuschuss sowie der Reinigungszuschuss. Von den als Zuschlägen bezeichneten Bestandteilen der Besoldung sei der Bordzuschlag, der Schichtzuschlag sowie der Röntgenzuschlag nicht überführt worden. Sachgerechte Gründe für diese Differenzierung seien nicht erkennbar.

Weiter vertritt der Kläger die Auffassung, dass die Bezugnahme der Beklagten auf § 256 a Abs. 2 SGB VI fehlgehe. Dies folge aus dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. August 2007, B 4 RS 4/06 R. Würde man den Klammerzusatz in § 6 AAÜG wie die Beklagte verstehen, dann währen die Sonderversorgten auf die Rechtsposition aus der Sozialversicherung und der freiwilligen Zusatzrente beschränkt. Dies verfehle jedoch den Zweck, den im Einigungsvertrag gewährleisteten Schutz der in den Versorgungssystemen erworbenen Rechtspositionen zu garantieren. Ausweislich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 28. April 1999, 1 BvL 22/95 sowie 34/95 seien Sonderversorgte so zu behandeln, als hätten sie die Verdienste in der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichert.

Die Qualifikation der vom Kläger zusätzlich geltend gemachten Besoldungsbestandteile als Arbeitsentgelte werde nicht durch die Arbeitsentgeltverordnung ausgeschlossen. Denn ob Einnahmen lohnsteuerfrei in diesem Sinne seien, bestimme sich für die AAÜG – Versorgungsberechtigten nach der Rechtslage, welche im Zeitpunkt des Inkrafttretens des AAÜG am 01. August 1991 bestanden habe, vgl. vorzitiertes Bundessozialgerichtsurteil vom 23. August 2007, Rd. Nr. 35 des Abdrucks. Die bisher nicht berücksichtigten Besoldungsbestandteile seien nicht steuerfrei nach dem Einkommenssteuergesetz. Ab 01. Januar 1991 sei die Einkommenssteuer auf das Verpflegungsgeld dann auch erhoben worden.

Die Auffassung der Beklagten weiche zudem von der für alle Versorgungsträger verbindlichen Auslegung des Arbeitsentgeltbegriffs durch das BMAS, vgl. Schreiben vom 31. Januar 1995, ab.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Überführungsbescheides vom 16. Juli 1998 in der Gestalt des Überprüfungsbescheides vom 15. September 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2009 zu verurteilen, für den Kläger als weiteres Arbeitsentgelt im Sinne des § 8 AAÜG auch die Zahlung desVerpflegungsgeldesbzw. des entsprechenden Sachbezuges bei kostenloser Verpflegungfür den Zeitraum

a)vom 16. mai 1966 bis 30. September 1968 in Höhe von monatlich 130,50 Mark (täglich 4,35 Mark gemäß Nr. 5.31 der Besoldungsordnung 1965),b)vom 1. Oktober 1968 bis 31. Dezember 1977 in Höhe von monatlich 132,30 Mark (täglich 4,35 Mark gemäß Nr. 5.31 der Besoldungsordnung 1965 und Nr. 5.21 der Besoldungsordnung 1973),c)vom 1. Januar 1978 bis 31. August 1986 in Höhe von monatlich 136,97 Mark (täglich 4,50 Mark gemäß Nr. 5.31 der Besoldungsordnung 1965 und Nr. 5.21 der Besoldungsordnung 1973),d)vom 1. September 1986 bis 31. August 1987 in Höhe von monatlich 129,36 Mark (täglich 4,25 Mark gemäß Nr. 4.21 der Besoldungsordnung 1986),e)vom 1. September 1987 bis 31. Dezember 1990 in Höhe von monatlich 136,97 Mark (täglich 4,50 Mark gemäß Nr. 4.21 der Besoldungsordnung 1986),des Schichtzuschlagesvom 1. Oktober 1970 bis 31. Dezember 1971 in Höhe von jährlich 560,00 Mark (monatlich 46,66 Mark gem. Nr. 4.21 der Besoldungsordnung 1965, Nr. 4.21 der Besoldungsordnung 1973 sowiedes Reinigungszuschussesab 1. Januar 1969 bis 31. Dezember 1990 in Höhe von monatlich 3,50 Mark (Nr. 5.30 der Besoldungsordnung 1973 und Nr. 4.4 der Besoldungsordnung 1986) zu bescheinigen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer bisherigen Rechtsauffassung fest. Weiter führte die Beklagte aus, dass der Beitragspflicht in der Sozialversicherung der DDR nur die „Dienstbezüge“ der Zollbediensteten der ehemaligen DDR unterlegen hätten, nicht aber die hier streitigen Zulagen. Eine Berücksichtigung als zu überführende Arbeitsentgelte komme von vornherein nur in Betracht, soweit es um Verdienste gehe, die auch nach DDR-Recht renten- oder versorgungsrechtliche Auswirkungen gehabt hätten. Die hier streitigen Besoldungsbestandteile hätten mangels Beitragsleistung hierfür jedoch keinerlei Versorgungsrelevanz gehabt.

Außerdem müsse der Arbeitsentgeltbegriff nach dem Sinn und Zweck des AAÜG interpretiert werden. Bereits nach dem Wortlaut seien danach Zulagen keine Arbeitsentgelte. Das AAÜG wolle systembedingte, nicht auf Arbeit und Leistung beruhende höhere Verdienste ausschließen. Wenn man nur auf das bundesrechtliche Steuerrecht abstellen würde, wäre das Überführungsprogramm des AAÜG ad absurdum geführt. Zulagen, die sich nach dem Recht der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR in keiner Weise auf die Versorgungshöhe ausgewirkt hätten, seien von einem vom Einigungsvertrag verbürgten Bestands- bzw. Vertrauensschutz nicht umfasst, vgl. Bundessozialgericht Urteil vom 02. August 2000, B 4 RA 41/99 R Rd. Nr. 22.

Ein privilegierter Entgeltbegriff sei nicht der Wille des Gesetzgebers gewesen. Auch das BMAS betrachte sein Schreiben vom 31. Januar 1995 inzwischen als gegenstandslos. Die Bescheinigung des Wohngeldes als Arbeitsentgelt sei allein aus Praktikabilitätsgründen erfolgt. Hieraus könne kein Anspruch auf Überleitung auch des Verpflegungsgeldes sowie des Reinigungszuschusses oder der Schichtzulage abgeleitet werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässige Klage ist unbegründet. Der Überführungsbescheid vom 16. Juli 1998 in der Gestalt des streitgegenständlichen Überprüfungsbescheides sowie des Widerspruchsbescheides ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht, § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.

Dem Kläger steht gegen die Beklagte als für das Sonderversorgungssystem der Anlage 2 Nr. 3 zum AAÜG zuständigen Versorgungsträger kein Anspruch auf Feststellung des Verpflegungsgeldes, des Reinigungszuschlags oder des Schichtzuschlages als weitere Arbeitsentgelte nach § 6 Abs. 1 AAÜG zu. Rechtsgrundlage für das Begehren ist § 44 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 SGB X. Danach hat die Beklagte einen Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen, wenn bei seinem Erlass unter anderem das Recht unrichtig angewandt worden ist. Diese Voraussetzung sind hier nicht erfüllt, denn die von der Beklagten im Überführungsbescheid vom 16. Juli 1998 getroffenen Feststellungen über die Höhe der erzielten Arbeitsentgelte, die jeweils einzelne feststellende Verwaltungsakte im Sinne des § 31 SGB X sind, sind rechtmäßig.

Gemäß § 8 Abs. 1 AAÜG hat die Beklagte als zuständiger Versorgungsträger in einem dem Vormerkungsverfahren ähnlichen Verfahren durch jeweils einzelne Verwaltungsakte bestimmte Feststellungen zu treffen. Nachdem sie zuvor den persönlichen Anwendungsbereich des AAÜG bejaht und die Zeiten der Zugehörigkeit zum Versorgungssystem, welche fiktive Pflichtbeitragszeiten zur bundesdeutschen Rentenversicherung begründen, festgestellt hat, ist die Beklagte verpflichtet, auch das während dieser Zeiten erzielte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen festzustellen, vgl. § 8 Abs. 1 Satz 2 AAÜG. Welche Arbeitsverdienste (Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen) den Zugehörigkeitszeiten zu einem Versorgungssystem der DDR zuzuordnen sind, bestimmt sich nach § 6 Abs. 1 Satz 1 AAÜG. Danach ist den Pflichtbeitragszeiten nach diesem Gesetz für jedes Kalenderjahr als Verdienst (§ 256 a Abs. 2 SGB VI) das erzielte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu Grunde zu legen.

Nach gerichtlicher Überzeugung sind dabei das Verpflegungsgeld, der Reinigungszuschlag sowie der Schichtzuschlag nicht zu berücksichtigen, da es sich nicht um Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen in diesem Sinne handelt. Eine gesetzliche Definition des Arbeitsentgeltbegriffs ist im AAÜG nicht enthalten. Der Inhalt des unbestimmten Rechtsbegriffes ist somit durch Auslegung zu ermitteln. Maßgeblich hierfür sind den allgemeinen Auslegungsregeln folgend der Wortlaut der Vorschrift, ihre systematische Stellung sowie ihr Sinn und Zweck unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte sowie des gesetzgeberischen Willens.

31Nach Auffassung der Kammer stimmen die Begriffe „ Arbeitsentgelt“ und „ Arbeitseinkommen“ in § 6 Abs. 1 Satz 1 AAÜG mit den entsprechenden Begriffen in §§ 14, 15 des SGB IV überein, vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 23. August 2007, B 4 RS 4/06 R, zitiert nach Juris RdNr. 24 ff.; Sozialgericht Berlin, Urteil vom 05. August 2010, S 30 R 4853/09, zitiert nach Juris Seite 5 des Abdrucks; sowie Sozialgericht Leipzig, Urteil vom 28. Juli 2010, S 24 R 1318/08, zitiert nach Juris RdNr. 22 und Sozialgericht Dresden, Urteil vom 18. Januar 2010, S 24 R 1218/08. Danach gehören zum Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf sie besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Ausnahmen hiervon sind in der Arbeitsentgeltverordnung (ArEV) geregelt. Darin ist in § 1 bestimmt, dasssteuerfreie Einnahmen,laufende Zulagen, Zuschläge, Zuschüsse sowie ähnliche Einnahmen, die zusätzlich zu Löhnen oder Gehältern gewährt werden,nichtdem Arbeitsentgelt zuzurechnen sind. Es sind vom Versorgungsträger somit grundsätzlich alle dem Versicherten im Zugehörigkeitszeitraum zugeflossenen Einnahmen zu berücksichtigen, welche der weiten Definition des Arbeitsentgelts gem. § 14 Abs. 1 SGB IV entsprechen, sofern sie nicht steuerfrei gewesen sind.

Danach könne die vorbezeichneten, hier streitigen Besoldungsbestandteile nicht zum Arbeitsentgelt im Sinne des § 6 Abs. 1 AAÜG gezählt werden, denn Lohnsteuer wurde auf sie bis Ende 1990 nicht entrichtet. Dies gilt nach Überzeugung der Kammer auch wenn die speziell in der DDR gezahlten Besoldungsbestandteile Verpflegungsgeld, Reinigungszuschlag und Schichtzuschlag nach dem zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des AAÜG am 01. August 1991 geltenden Einkommenssteuergesetzes der Bundesrepublik Deutschland steuerpflichtig gewesen währen. Denn die am 1. August 1991 geltenden beitragsrechtlichen Vorschriften des Bundesrechts (§§ 14, 15 und 17 SGB IV i. V. m. der ArEV) sind für die Auslegung des Arbeitsentgeltbegriffs nach § 6 Abs. 1 AAÜG nicht wörtlich, sondern nur entsprechend der darin verwirklichten Grundsätze - insbesondere des Grundsatzes der Parallelität von Steuer- und Beitragspflicht - anzuwenden, vgl. Sozialgericht Leipzig, Urteil vom 28. Juli 2010, a. a. O., Rn. 50. Die Übertragung der vom Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 23. August 2007 zu den Jahresendprämien getroffenen Auslegungen auf den vorliegenden Sachverhalt würde auch nach Überzeugung der Kammer diesem in der Bundesrepublik Deutschland geltenden und in §§ 14, 15 und 17 SGB IV i. V. m. den Vorschriften der ArEV zum Ausdruck gebrachten Grundsatz der Parallelität von Steuer- und Beitragspflicht zuwider laufen. Nach Auffassung der Kammer sind daher Arbeitsentgelte im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 AAÜG alle Geld- und geldwerten Sachleistungen, die dem Versicherten im ursächlichen Zusammenhang mit einer abhängigen Beschäftigung in der Zeit der Zugehörigkeit zu dem betreffenden Versorgungssystem zugeflossen sind, sofern hierauf, entsprechend den im Zuflusszeitpunkt geltenden steuerrechtlichen Bestimmungen, Lohnsteuer gezahlt wurde.

Gegen die einschränkungslose Anwendung bundesdeutschen Steuerrechts auf den vorliegenden Sachverhalt zur Bestimmung des Arbeitsentgeltscharakters der hier umstrittenen Zahlungen spricht nach Auffassung der Kammer insbesondere, dass der bundesdeutsche Steuergesetzgeber zum maßgeblichen Zeitpunkt 1. August 1991 zu den vorliegenden Sachverhalten, d. h. für vor diesem Zeitpunkt zugeflossene Besoldungsbestandteile der Mitarbeiter der Zollverwaltung der DDR, mangels eigener Zuständigkeit gar keine Regelungen getroffen hat bzw. treffen wollte und konnte. Es hinge damit vom bloßen Zufall ab, ob die im Beitrittsgebiet bereits entstandenen Tatbestände überhaupt von Steuerbefreiungstatbeständen des am 01. August 1991 geltenden bundesdeutschen Steuerrechts erfasst werden. Das zwangsläufige Regelungsdefizit im Bundessteuerrecht vom 01. August 1991 hinsichtlich der Steuerbefreiung von in der DDR gezahlten Besoldungsbestandteilen führt in der Konsequenz zudem zu einer schier uferlosen Ausweitung dessen, was der jeweilige Versorgungsträger als Arbeitsentgelt gem. § 6 Abs. 1 Satz 1 AAÜG feststellen soll. Hierzu würden ausweislich des vorliegenden Sachverhalts dann auch recht umfangreiche Sachleistungen zählen, welche den Sonderversorgten im Beitrittsgebiet gewährt worden sind.

Eine andere Auslegung verstieße nach Überzeugung der Kammer zudem gegen den Einigungsvertrag Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet H gesetzliche Rentenversicherung, Abschnitt III. Ziffer 9. Buchstabe b) Ziffer 1, worin die Grundsätze der Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen bestimmt sind. Danach sind Ansprüche und Anwartschaften nach Art, Grund und Umfang den Ansprüchen und Anwartschaften nach den allgemeinen Regelungen der Sozialversicherung in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebietunter Berücksichtigung der jeweiligen Beitragszahlungenanzupassen, wobei

- ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und

- überhöhte Leistungen abzubauen sind

-sowie eine Besserstellung gegenüber vergleichbaren Ansprüchen und Anwartschaften aus anderen öffentlichen Versorgungssystemen nicht erfolgen darf.

Danach ist bereits zweifelhaft, ob die Auffassung des Bundessozialgerichts zutreffen kann, dass es für die Bestimmung des Arbeitsentgelts nach § 6 Abs. 1 AAÜG nicht darauf ankommt, welcher Bestandteil davon versorgungswirksam verbeitragt worden ist und dass dem ausdrücklichen Verweis auf § 256a Abs. 2 SGB VI insoweit keinerlei einschränkende Bedeutung zukommen soll. Jedenfalls verbietet Ziffer 1 dritte Alternative der vorzitierten Vorschriften des Einigungsvertrages bei der Anpassung der Ansprüche und Anwartschaften aus Versorgungssystemen ausdrücklich eine Besserstellung gegenüber vergleichbaren Ansprüchen und Anwartschaften aus anderen öffentlichen Versorgungssystemen. Diese ausdrücklichen Vorgaben des Einigungsvertrages steht einer strikten Anwendung der beitragsrechtlichen Bestimmungen des Bundesrechts in der am 01. August 1991 geltenden Fassung bei der Auslegung des Arbeitsentgeltbegriffes gem. § 6 AAÜG entgegen, da dies zu einer nicht gerechtfertigten Besserstellung der Sonderversorgten führen würde. Denn bei wörtlicher Anwendung des am 1. August 1991 geltenden Steuerrechts würde der fiktive Vorleistungswert der ehemals Sonderversorgten zur bundesdeutschen Rentenversicherung nicht sachgerecht wiedergegeben. Die streitgegenständlichen Besoldungsbestandteile waren in der DDR weder steuer- noch beitragspflichtig oder sonst in irgendeiner Weise versorgungswirksam. Eine dem entgegen stehende Überführung würde eine nicht gerechtfertigte Besserstellung der Sonderversorgten im Vergleich zu den übrigen Versicherten darstellen. Unter Zugrundelegung des in § 1 der Arbeitsentgeltverordnung in der am 01. August 1991 geltenden Fassung verwirklichten Grundsatzes der Parallelität von Steuer- und Beitragspflicht ist es bei der Bildung fiktiver Pflichtbeitragszeiten nach dem AAÜG daher geboten, die im Zuflusszeitpunkt nicht besteuerten Entgelte auch gleichsam nicht als fiktiv beitragspflichtige Arbeitsentgelte zu behandeln, vgl. Sozialgericht Leipzig, Urteil vom 28. Juli 2010, a. a. O. Rdnr. 45.

Dass damit faktisch auch auf Rechtsvorschriften der DDR zur Auslegung eines Rechtsbegriffs zurückgegriffen wird, steht dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen, denn auch das Bundessozialgericht greift im Zusammenhang mit der Feststellung des Anwendungsbereichs des AAÜG auf Rechtsvorschriften der DDR als sekundär fortgeltendes Recht zurück, vgl. u. a. Bundessozialgericht, Urteil vom 9. April 2002, B 4 RA 3/02, zitiert nach Juris, Rn. 34 und Urteil vom 15. Juni 2010, B 5 RS 9/09 R, zitiert nach Juris, Rn. 22 sowie Sozialgericht Leipzig, a. a. O., Rn. 49 m. w. N.. Gründe dafür, dass ein solcher Rückgriff bei der Auslegung des Begriffes „Arbeitsentgelt“ im Sinne des § 6 Abs. 1 AAÜG hier ausgeschlossen sein soll, sind nicht ersichtlich. Die Kammer erhebt insoweit auch nicht das Steuerrecht der DDR zu Bundesrecht, denn ist geht hier allein darum, wie ein in der ehemaligen DDR begründeter Sachverhalt unter Berücksichtigung eines beitragsrechtlichen Grundsatzes des am 1. August 1991 geltenden Bundesrechts zu bewerten ist, vgl. Sozialgericht Leipzig, a. a. O., Rn. 49. Dass die maßgeblichen steuerrechtlichen Vorschriften der DDR elementar rechtsstaatswidrig waren, ist nicht erkennbar.

Eine andere Bewertung ist auch nicht unter Berücksichtigung des Gesetzgebungsverfahrens zum 2. AAÜG – Änderungsgesetzes vom 23. März 2001 zur Ergänzung des § 6 AAÜG (BT-Drs.14/5640) gerechtfertigt. Soweit der Ausschuss für Arbeit und Soziales in diesem Zusammenhang die „Verwirklichung“ der bis dahin ergangenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts „ohne Abstriche“ befürwortet (BT-Drs.14/6063, Seite 24) und die von der Bundesregierung favorisierte Bezugnahme auf versorgungsrechtlichen Bestimmungen des DDR Rechts (BT-Drs.14/5640, Seite 7) ablehnt, hat der Gesetzgeber allenfalls seinem Willen Ausdruck verliehen, dass die Auslegungen des Entgeltbegriffs im § 6 Abs. 1 AAÜG weiterhin nach Bundesrecht, also vor allem nach Maßgabe des § 14 SGB IV vorgenommen werden und – wie es ausdrücklich heißt – die bisherige „bewährte Praxis“ fortgeführt werden soll, vgl. Sozialgericht Leipzig, a. a. O., Rn. 48. Die Anerkennung der in der DDR steuerfreien Entgeltbestandteile entsprach aber gerade nicht einer „bewährten Praxis“ der Versorgungsträger. Die Überführungspraxis war und ist insoweit vielmehr uneinheitlich und folgt gerichtlich nicht vollständig nachvollziehbaren Maßstäben.

Der Umstand, dass die Beklagte das Wohngeld und auch andere, in der DDR ebenfalls nicht steuerpflichtige Besoldungsbestandteile als Arbeitsentgelt überführt hat, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Vor dem Hintergrund der zur vorliegenden Problematik in großer Zahl anhängigen Klageverfahren wird hierdurch vielmehr das Fehlen einer „bewährten Praxis“ besonders deutlich. Nach dem oben dargestellten Verständnis des Arbeitsentgeltbegriffs ist auch das Wohngeld kein Arbeitsentgelt im Sinne von § 6 Abs. 1 AAÜG. Eine zu Unrecht erfolgte Überführung nach DDR-Recht steuerfreier Besoldungsbestandteile begründet keinen Anspruch auf Anerkennung auch des Verpflegungsgeldes, des Reinigungszuschlages und des Schichtzuschlages als weitere Arbeitsentgelte, denn ein Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht ist ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits. Die Sprungrevision ist gem. § 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen, da die Kammer von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 23. August 2007, B 4 RS 4/06 R) abweicht und das Urteil auf dieser Abweichung beruht.