KG, Beschluss vom 30.10.2008 - 4 Ws 104/08, 1 AR 519/08 - 4 Ws 104/08
Fundstelle
openJur 2012, 9544
  • Rkr:

Einem Zeugen steht ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zu, wenn er während eines einheitlichen Gesamtgeschehens sowohl Opfer von Straftaten war (hier sexueller Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen) als auch sich während und nach diesem Zeitraum an entsprechenden Straftaten des Haupttäters beteiligt hat; denn es besteht die konkrete Gefahr, dass ihn seine Angaben - als Opfer - durch denselben Haupttäter und die gleichen Tatumstände zumindest mittelbar belasten können.

Tenor

Auf die Beschwerde des Zeugen …, wohnhaft in …B.Straße, wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30.September 2008 aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweitentstandenen notwendigen Auslagen des Zeugen fallen der LandeskasseBerlin zur Last.

Gründe

Bei dem Landgericht Berlin ist zurzeit das Hauptverfahren gegen den Angeklagten anhängig. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm mit der Anklageschrift vom 18. Juni 2008 u.a. vor, sich in Berlin zum Nachteil des Zeugen … in der Zeit vom 15. August 2002 bis zum 14. August 2005 in 600 Fällen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie in der Zeit vom 15. August 2005 bis März 2007 in 10 Fällen wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen, davon in sieben Fällen in Tateinheit mit Verbreitung pornographischer Schriften strafbar gemacht zu haben, §§ 176, 176 a Abs. 2 Nr. 1, 182 Abs. 1 Nr. 1, 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Anklageschrift verwiesen. Das Landgericht hat in der seit dem 17. Juli 2008 laufenden Hauptverhandlung am 8. August 2008 mit der Vernehmung des Zeugen begonnen. Nachdem sich der Zeuge zu Beginn seiner am 30. September 2008 fortgesetzten Vernehmung auf ein ihm zustehendes umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen und weitere Angaben verweigert hatte, hat das Landgericht durch den angefochtenen Beschluss gegen den Zeugen Beugehaft bis zur Dauer von sechs Monaten, längstens bis zur Beendigung des landgerichtlichen Verfahrens, angeordnet und ihm die durch die Zeugnisverweigerung verursachten Kosten auferlegt. Die nach § 304 Abs. 2 StPO zulässige Beschwerde des Zeugen hat im Einvernehmen mit der Generalstaatsanwaltschaft Erfolg.

Die Strafkammer hat die Beugehaft gegen den Beschwerdeführer nach § 70 Abs. 1 und 2 StPO zu Unrecht angeordnet, denn er hat seine (weitere) Aussage aufgrund des ihm zustehenden umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts nach § 55 StPO berechtigt verweigert.

Nach § 55 StPO kann jeder Zeuge als Ausdruck der durch das Grundgesetz garantierten Menschenwürde und Selbstbelastungsfreiheit (vgl. BVerfG StV 1999, 71 f) die Auskunft auf Fragen verweigern, bei deren wahrheitsgemäßer Beantwortung er bestimmte Tatsachen angeben müsste, die unmittelbar oder mittelbar einen Anfangsverdacht für das Vorliegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit und damit die Aufnahme von Ermittlungen gegen ihn oder einen Angehörigen nach § 52 Abs. 1 StPO begründen würden. Da die Schwelle des Anfangsverdachts im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO niedrig liegt, ist auch das Bestehen einer entsprechenden konkreten Gefahr bereits weit im Vorfeld einer direkten Belastung zu bejahen (vgl. BVerfG NJW 2003, 3045, 3046; BVerfG NStZ 2002, 378, 379; BGH NJW 1999, 1413; OLG Düsseldorf VRS 111, 45 ff; LR-Dahs, StPO 25. Aufl., § 55 Rdn. 10). Zu einem Recht der Verweigerung des Zeugnisses in vollem Umfang, auf das sich der Beschwerdeführer beruft, wird das Auskunftsverweigerungsrecht nur ausnahmsweise, und zwar dann, wenn die gesamte Aussage des Zeugen mit seinem vielleicht strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass nichts mehr übrig bleibt, was er ohne die Gefahr eigener Strafverfolgung bezeugen könnte, eine Trennung mithin nicht möglich ist (vgl. BGH NJW-Spezial 2008, 568, 569; BGH StV 2002, 604; BGH StV 1987, 328; BGH NStZ 1986, 181; Senat, Beschlüsse vom 19. Juli 2001 – 4 Ws 109/01 – und 22. März 1999 – 4 Ws 73/99 - ; KG, Beschluss vom 5. März 2004 – 5 Ws 58/03 - ).

Das Landgericht ging vor dem Hintergrund, das der Zeuge seiner polizeilichen Aussage vom 4. Januar 2008 zufolge im Alter von 14 bzw. 15 Jahren dem Angeklagten mindestens fünf Jungen im Alter von ungefähr 11 Jahren – und darüber hinaus auch anderen Männern weitere Jungen - gegen ein Entgelt zugeführt hat und gegen ihn deshalb seit der Vernehmung ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, von einem Auskunftsverweigerungsrecht dieses Zeugen ab seinem 14. Lebensjahr aus. Für den vorherigen Zeitraum lehnt das Landgericht hingegen ein solches Recht ab, da dem Zeugen mangels Strafmündigkeit für diesen Zeitraum keine Strafverfolgung drohen würde und ein Schluss von etwaigen Missbrauchshandlungen des Angeklagten gegen den Zeugen auf ein mögliches späteres strafbares Verhalten des Zeugen durch seine Vermittlungstätigkeit nicht möglich sei.

Damit hat das Gericht, dem hinsichtlich des Bestehens eines Auskunftsverweigerungsrechts ein weiter Beurteilungsspielraum zusteht (vgl. BGH, Beschluss vom 6. August 2002 – 5 StR 314/02 -; KK-Senge, StPO 6. Aufl., § 55 Rdn. 4 m.w.N.), den Entscheidungsmaßstab zu eng gefasst.

6Für die Abgrenzung, unter welchen Voraussetzungen eine relevante mittelbare Selbstbelastung im Sinne von § 55 StPO besteht, ist anerkannt, dass bereits mögliche Erkenntnisse aus der Zeugenaussage ausreichen, die als „Teilstücke in einem mosaikartig zusammengesetzten Beweisgebäude“ (vgl. BGH NJW 1999, 1413 f) belastender Natur sind (vgl. KG, Beschluss vom 14. Februar 2008 – 3 Ws 31/08 -). Danach können insbesondere detailliierte Angaben zu früheren bereits rechtskräftig abgeurteilten Straftaten des Zeugen bzw. zu Tatvorwürfen nach einem rechtskräftigen Freispruch (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juli 2005 – 2 StE 8/03-2 - ) aufgrund des so engen Zusammenhangs mit möglichen weiteren, vergleichbaren Straftaten die Gefahr der Selbstbelastung auslösen, weil die Aussage zu dem früheren Geschehen von indiziell belastender Bedeutung sein kann (vgl. BVerfG NStZ 2002, 378, 379; BGH NJW-Spezial 2008, 568, 569; BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 326/06 -; BGH, Beschluss vom 2. Juni 2005 – StB 8/05 - ; BGH, Beschluss vom 27. Juni 2002 – 4 StR 28/02 -; BGH NJW 1999, 1413 f ; OLG Düsseldorf VRS 111, 45 ff; OLG Dresden, Beschluss vom 14. Januar 2003 – 1 Ws 274/02 -; OLG Zweibrücken StV 2000, 606 ).

7Nichts anderes kann für den vorliegenden Fall gelten, indem vom Zeugen genaue Angaben über die gegen ihn gerichteten Taten verlangt werden, wenn es möglich erscheint, dass er sich unter genau diesen Umständen und Maßgaben im späteren Geschehensablauf strafbar gemacht haben könnte. Der besonders enge, einer Aufspaltung der Aussage in nicht selbstbelastende Abschnitte entgegenstehende Zusammenhang ergibt sich vorliegend daraus, dass es sich jeweils – d.h. bezogen auf die dem Zeugen zur Last zu legenden Taten - um denselben Haupttäter handeln, das Geschehen sich zeitlich und räumlich ohne Unterbrechung fortgesetzt haben und es sich auch um dieselben Delikte handeln soll. Es kommt erschwerend hinzu, dass der Zeuge – legt man seine polizeiliche Aussage zugrunde - die Vermittlung von Jungen mit den gleichen Anwerbemethoden, deren Opfer er zuvor wurde, entgeltlich betrieben hat und es dabei auch um dieselben sexuellen Praktiken, die er selbst erlitt und den Vermittelten offenbarte, ging. Dieser enge Zusammenhang wird vorliegend sogar noch deutlicher dadurch, dass der Zeuge im Alter von 14/15 Jahren zeitweise gleichzeitig bzw. jeweils abwechselnd sowohl (noch) Opfer als auch (schon) Beteiligter an Straftaten gewesen sein soll. Vollständigkeitshalber ist noch anzuführen, dass der Zeuge über das vom Angeklagten und den anderen Männern bevorzugte „Opferbild“ – kleine Jungen im Alter von zehn oder elf Jahren - befragt sich mittelbar auch insofern belasten würde, weil er sich selbst, als er aufgrund seines Alters und seiner Größe für den Angeklagten zunehmend uninteressant wurde, bei der Vermittlung von Jungen genau an diese Vorstellung gehalten haben soll.

8Im Übrigen besteht vorliegend nicht nur die Gefahr eines Ermittlungsverfahrens gegen den Zeugen, sondern ein solches ist bereits seit Januar 2008 eingeleitet. Demzufolge ist er während seiner polizeilichen Vernehmung vom 4. Januar 2008 auch mehrmals nicht nur als Zeuge gemäß § 55 StPO, sondern auch als Beschuldigter gemäß § 136 StPO belehrt worden. Aufgrund des engen Zusammenhangs wäre daher – sieht man von den jugendgerichtlichen Besonderheiten nach § 26 GVG, §§ 41 Abs. 1 Nr. 4, 103 Abs. 1 JGG einmal ab - auch nach § 3 StPO für den Fall, dass die Ermittlungen gegen den Zeugen abgeschlossen und hinreichender Tatverdacht zu bejahen wäre, auch eine gemeinsame Anklage in Betracht gekommen. Der Umstand, dass bereits ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, führt wie bei einer rechtskräftigen Verurteilung nur wegen eines Teils des Gesamtgeschehens von vornherein zu einem einengenden Maßstab bezüglich einer möglichen Selbstbelastung. Danach ist dem durch das bereits laufende Ermittlungsverfahren erhöht schutzwürdigen Zeugen ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nur dann zu versagen, wenn die Gefahr der Selbstbelastung und damit weiterer Verfolgung zweifellos ausgeschlossen ist (vgl. BVerfG NStZ 2002, 378, 379; BGH NJW 1999, 1413, f; OLG Düsseldorf VRS 111, 45 ff; OLG Köln, NStZ-RR 2005, 269, 270). Dies ist nach den vorherigen Ausführungen gerade nicht der Fall, vielmehr könnte sich die – mittelbar - selbstbelastende richterliche Vernehmung des Zeugen dahingehend belastend auswirken, dass seine polizeiliche Aussage beweisrechtlich gestützt und um etliche Details verdichtet wird. Die Ausnahmekonstellation, dass trotz – mittelbar - drohender Selbstbelastung kein Auskunftsverweigerungsrecht besteht, weil mögliche neue bzw. bestärkende Erkenntnisse den Strafverfolgungsbehörden bereits früher aus anderen Quellen sicher bekannt sind, eine Strafverfolgung bisher nicht erfolgte und auch eine entsprechende Gefahr sicher nicht besteht (vgl. BVerfG NStZ 2003, 666; OLG Dresden, Beschluss vom 23. September 2003 – 2 Ws 328/03 -; Meyer-Goßner, a.a.O., § 55 Rdn. 2), ist hier bereits wegen des weiterhin anhängigen Ermittlungsverfahrens gegen den Zeugen nicht einschlägig. Schließlich kann der Umstand, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung auf einige Fragen bereits geantwortet haben soll, an dieser Beurteilung nichts ändern. Denn ein Zeuge kann sich jederzeit – auch bezogen auf einzelne Fragen – unabhängig von seinen Beweggründen auf ein ihm zustehendes Auskunftsverweigerungsrecht mit der Folge berufen, dass früher gemachte Angaben in Kenntnis des Auskunftsverweigerungsrechts ihm gegenüber verwertbar bleiben (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 55 Rdn. 11). Dies gilt aber nur dann, wenn der Zeuge nach zutreffender Belehrung über Grund und Umfang dieses Rechts ausgesagt hat (vgl. BGHSt 38, 214, 224, 225; OLG Celle, NStZ 2002, 386, 387; OLG Karlsruhe StraFO 2002, 291; BayObLG NZV 2001, 525; BayObLG NJW 1984, 1246; Rogall in SK-StPO, § 55 Rdn. 79). Ergänzend ist anzuführen, dass Aussagen eines Zeugen trotz fehlerhafter Belehrung nach § 55 StPO im Verfahren gegen den Beschuldigten dagegen verwertbar sind, weil eine mögliche Verletzung des § 55 StPO nicht den Rechtskreis des Beschuldigten betrifft (vgl. BGHSt 11, 213, 219; BGHSt 38, 302, 304; BGH, Beschluss vom 20. Januar 2004 – 1 StR 319/03 - ).

9Nach alledem stellt das vom Landgericht zuerkannte Auskunftsverweigerungsrecht für die Zeit ab der Strafmündigkeit des Zeugen eine künstliche juristische Aufspaltung eines tatsächlich eng zusammenhängenden, nicht trennbaren Gesamtgeschehens dar, so dass dem Zeugen auch für die Zeit vor seiner Strafmündigkeit ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zusteht. Er hätte danach in aller Konsequenz auch den Namen des Täters, der ihn missbraucht haben soll, verschweigen dürfen, weil er diesem im späteren, zu keinem Zeitpunkt unterbrochenen Geschehensablauf vergleichbar deliktisch zugearbeitet haben soll.

Soweit die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung weitere Gründe für ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht vorgetragen haben (drohende Strafverfolgung nach § 171 gegenüber den Eltern des Zeugen bzw. §§ 153, 164 StGB durch die Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung), sind diese mangels konkreter Anhaltspunkte nicht gegeben, eine bloß denktheoretisch mögliche Gefährdung reicht nicht aus (vgl. KK-Senge, a.a.O., § 55 Rdn. 4).

Soweit die Strafkammer von einem Ordnungsgeld ersatzweise Ordnungshaft nach § 70 Abs. 1 StPO abgesehen hat, weist der Senat zur Klarstellung darauf hin, dass deren Verhängung bei unberechtigter Verweigerung des Zeugnisseszwingendals Ungehorsamsfolge (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Mai 1984 – 4 Ws 142/84 -; KG, Beschluss vom 31. Oktober 2006 – 3 Ws 532/06 -) und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ohne oder zugleich mit der Anordnung von Beugehaft zu erfolgen hat (vgl. BVerfGE 76, 363 ff, 391; KG, Beschluss vom 20. Dezember 1996 – 3 Ws 644-645/96 -). Die wirtschaftlichen Verhältnisse wie auch die Bedeutung der Aussage für das Verfahren können bei der Bemessung der in einem Strafverfahren insgesamt nur einmal zu verhängenden Folge berücksichtigt werden (vgl. Senat, Beschluss vom 22. März 1999 – 4 Ws 73/99 -; KG, Beschluss vom 20. Dezember 1996 – 3 Ws 644-645/96 -; OLG Köln, NStZ-RR 2005, 232; Meyer-Goßner, a.a.O., § 70 Rdn. 16).

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.