LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Urteil vom 19.09.2008 - L 1 KR 132/07
Fundstelle
openJur 2012, 9250
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nichtzu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Lidoderm, ein Heftpflaster mit dem Wirkstoff Lidocain.

Sie ist 1968 geboren und leidet als Folge eines Arbeitsunfalls unter starken lokalen Schmerzen im Bereich des rechten Fußrückens. Eine Rehabilitationsmaßnahme in einer psychosomatischen Einrichtung wurde nach ca. drei Wochen abgebrochen, weil sich die Klägerin in zahnärztliche Behandlung begeben musste.

Sie beantragte am 6. Januar 2005 formlos die Übernahme der Kosten für das Pflaster Lidoderm. Zum damaligen Zeitpunkt wie heute war das Arzneimittel nur als Importarzneimittel in deutschen Apotheken erhältlich. Es besaß und besitzt in den USA (nur) eine Zulassung bei postherpetischer Neuralgie (Postzoster; Folgewirkung bei Gürtelrose). Auf Anfrage der Beklagten schrieb der die Klägerin behandelnde Facharzt für Anästhesiologie Dr. G, die Klägerin leide unter Algodystrophie des rechten Fußrückens lateral. Die Behandlung mit den Schmerzmitteln Tramal-ret. und Lyrica hätten zu einer Linderung der Schmerzen insgesamt geführt, jedoch nicht am Fußrücken. Eine lokale Therapie sei angeraten. Eine weitere systemische Therapie mit starker Dosissteigerung würde an der speziellen Symptomatik nichts ändern und nur weitere Probleme erzeugen.

Die Beklagte lehnte nach Befragung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) den Antrag mit Bescheid vom 10. Mai 2005 ab. Lidoderm verfüge weder in Deutschland noch in der Europäischen Union über eine Zulassung.

Die Klägerin erhob Widerspruch. Eine Kälte- oder Physiotherapie würden ihre Erkrankung weder bessern noch lindern.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 22. Juli 2005 zurück. Ein Ausnahmefall, in welchem ausnahmsweise ein Arzneimittel außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes eingesetzt werden dürfe, liege nicht vor. Der MDK habe in seiner Stellungnahme vom 22. Mai 2005 die Kostenübernahme nicht empfohlen, weil für Lidoderm keine ausreichend gesicherte Datenlage vorliege.

Hiergegen hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Potsdam (SG) erhoben.

Sie leide unter ständigen Schmerzen im rechten Sprunggelenk. Ihre Lebensqualität sei nachhaltig beeinträchtigt. Eine andere Therapie als die Pflaster gebe es nicht. Mit diesen könne sie ihr Leben einigermaßen meistern. Ab dem unteren Drittel des Unterschenkels bis zu den Zehenspitzen sei sie taub. Sei könne den Fuß nicht normal aufsetzen und sei auf eine Manschette angewiesen, die das Sprunggelenk umfasse.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 26. Oktober 2006 abgewiesen. Es fehle bereits am Erfordernis einer ärztlichen Verordnung. Ein Versicherter habe zudem gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) Anspruch auf die Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit diese nicht nach § 34 SGB V oder durch die Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen seien. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V könne der Vertragsarzt Arzneimittel, die an sich aufgrund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen seien, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen. Eine solche fehle hier. Der behandelnde Arzt Dr. G habe nur zweimal ein Kassenrezept ausgestellt. Es könne davon ausgegangen werden, dass es am Vorliegen der Voraussetzungen nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V mangele.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit dem im Schriftsatz vom 13. Dezember 2006 unter der Überschrift „Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe Entwurf der Berufung“ erhobenen Berufung. Sie hat ihr Vorbringen wiederholt. Der behandelnde Arzt halte die Anwendung des Medikamentes für unumgänglich. Mittlerweile habe die Tablettendosis erheblich gesteigert werden müssen. Die gesundheitlichen Einbußen seien inakzeptabel. Die Verwendung des Wirkstoffes in frei erhältlichen Salben habe bei ihr keine Wirkung gezeigt. Auf Veranlassung des Senats hat der MDK mit Datum vom 25. Oktober 2007 eine gutachterliche Stellungnahme abgegeben. Danach sei Lidoderm oder ein wirkstoffidentisches Arzneimittel in Form von Pflastern bis dahin nicht in Deutschland oder aufgrund einer dezentralen europaweiten Zulassung zugelassen. Es sei aufgrund der veröffentlichten klinischen Studien und systematischen Reviews nicht davon auszugehen, dass ein lidocainhaltiges Arzneimittel in Pflasterform für die bei der Klägerin vorgesehene Anwendung zugelassen werde. Die für eine allgemeinere Zulassung für neuropathische Schmerzen erforderlichen Prüfstudien seien nicht durchgeführt. Auch seien die aktuellen Warnhinweise der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zu berücksichtigen. FDA warne vor einer Anwendung bei Kindern, bei Patienten mit Lebererkrankungen und vor möglichen Interaktionen mit antirheumatischen Medikamenten und vor dermatologischen Nebenwirkungen. Im konkreten Fall beschränkten sich alternative zugelassene Behandlungsmöglichkeiten keinesfalls auf die Einnahme von Schmerzmitteltabletten. Zugelassene Arzneimittel seien unter anderem auch das Antiepileptikum Lyrica, Neurontin sowie zur längerfristigen Schmerztherapie im Rahmen eines Gesamtkonzepts auch das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin. Dem medizinischen Standard entsprächen auch nichtmedikamentöse Maßnahmen, Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie und geeignete Hilfsmittel wie physikalische Anwendungen und Bewegungstherapie im Rahmen eines schmerztherapeutischen Gesamtkonzepts. Zur Identifizierung und Behandlung psychosomatischer Aspekte oder behandlungsbedürftiger psychiatrischer Begleit- oder Folgeerkrankungen könne ein Arzt für Anästhesiologie seine Patientin an einen spezialisierten Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie verweisen.

Mittlerweile ist ein entsprechendes Pflaster mit identischem Wirkstoff in Deutschland zugelassen (Versatis Lidoderm 5 %).

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 26. Oktober 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, bei ärztlicher Verordnung die Kosten für das Arzneimittel Lidoderm bzw. für Lidocain-Pflaster zu tragen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt. Auf die eingereichten Schriftsätze wird ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Die Berufung hat keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Der Klägerin steht weder ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V zu, noch ist die Beklagte verpflichtet, ungeachtet ärztlicher Verordnung die Klägerin mit dem begehrten Arzneimittel Lidoderm zu versorgen bzw. mit Versatis 5%.

Grundsätzlich sind Arzneimittel mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung nach § 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz AMG fehlt (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], zuletzt Urteil vom 28. Februar 2008 - B 1 KR 15/07 R - Rdnr. 20 mit Bezugnahme auf BSGE 96 153). Das ist hier der Fall. Versatis 5 % und (in den USA) Lidoderm sind zur Behandlung nur der postzosterischen Neuralgie zugelassen, jedoch nicht für eine Schmerzbehandlung bei Algodystrophie (im Bereich des lateralen Fußrückens rechts), dem Leiden der Klägerin.

Eine zulassungsüberschreitende Anwendung eines Schmerzpflasters mit dem Wirkstoff Lidocain auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung (so genannter Off-Label-Use) kommt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nur in Betracht, wenn es (kumulativ) um die Behandlung einer schwerwiegenden - also lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden - Erkrankung geht, keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 - B 1 KR 15/07 R - mit weiteren Nachweisen).

Hier scheidet ein Off-Label-Use nach Maßgabe der Kriterien des BSG bereits daran, dass nach der Überzeugung des Senates andere Therapien verfügbar sind:

Der gutachterliche Stellungnahme durch den MDK ist zu entnehmen, dass die Alternative nicht lediglich in der (hochdosierten) Behandlung mit Schmerzmitteltabletten besteht. Zur Behandlung peripherer neuropathischer Schmerzen stehen zugelassene Arzneimitteln zur Verfügung, nämlich Arzneimittel mit den Wirksubstanzen Pregabalin, Gabapentin sowie zur längerfristigen Schmerztherapie im Rahmen eines Gesamtkonzeptes das das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin. Medizinischem Standard entsprechen auch nichtmedikamentöse Maßnahmen (Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie und Heilmittel wie physikalische Anwendungen und Bewegungstherapie) im Rahmen eines schmerztherapeutischen Gesamtkonzepts. Ein solches gibt es- wie bereits auch im Erörterungstermin erörtert- bei der Klägerin nicht. Eine Rehabilitationsmaßnahme in einer psychosomatischen Einrichtung ist abgebrochen worden.

Ein Off-Label-Use nach Maßgabe der BSG-Rechtsprechung scheitert weiter daran, dass nicht aufgrund allgemeiner Datenlage ersichtlich ist, dass begründete Aussicht besteht, mit dem Schmerzpflaster einen Behandlungserfolg zu erzielen. Dazu reicht es nämlich keinesfalls, dass die Anwendung der Pflaster im konkreten Einzelfall ohne Nebenwirkungen Erfolg zeigt. Erforderlich ist vielmehr, dass entweder die Erweiterung der Zulassung des Arzneimittels beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeitsrespektive ein klinisch relevanter Nutzen bei vertretbaren Risiken belegt oder alternativ außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (vgl. BSG a.a.O. Rdnr. 23 mit Bezugnahme auf BSG 89, 184, 192).

Wie sich aus der gutachterlichen Stellungnahme des MDK ergibt, gibt es aktuell keine Studien, welche den Anforderungen des wissenschaftlichen Komitees der Europäischen Zulassungsbehörde EMEA für den Nachweis eines klinisch relevanten Nutzens bei vertretbaren Risiken für ein Arzneimittel bei der Behandlung eines neuropathischen Schmerzsyndroms genügt (vgl. Leitlinienentwurf zur klinischen Prüfung von Arzneimitteln zur Behandlung eines neuropathischen Schmerzes vom 26. Januar 2006, zitiert im Gutachten Seite 2). Bei dem peripheren neuropathischen Schmerzsyndrom auf der Grundlage einer Algodystrophie (Morbus Sudeck) handelt es sich der sachverständigen Aussage zufolge auch nicht um eine seltene Erkrankung, bei welcher sich die Behandlung einer systematischen Erforschung entzieht und bei der eine erweiterte Leistungspflicht der Krankenkassen nach Auffassung des BSG in Betracht zu ziehen wäre (vgl. BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 1 KR 17/07 R - Rdnr. 17 mit Bezug auf BSGE 93, 236 - Visodyne).

Ein Klageerfolg folgt auch nicht direkt aus den Grundrechten der Klägerin aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) und aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip. Es bedarf zwar einer besonderen Rechtfertigung vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit - insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung - durch gesetzliche Bestimmungen oder durch die fachgerichtlichte Auslegung und Anwendung vorenthalten werden (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], B. v. 6. Dezember 2005 - 1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 Rdnr. 54). Auch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist bei der Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechtes in Erfüllung der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen, mit zu beachten (BVerfG, a.a.O. Rdnr. 56). Allerdings sind die Krankenkassen nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2008 - 1 BvR 1778/05 - Rdnr. 4 mit Bezugnahme auf BVerfGE 115, 25, 45 f). Die gesetzliche Krankenversicherung muss dem Versicherten Leistungen nur nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskataloges (§ 11 SGB V) unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellen, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V, der vorsieht, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben, ist verfassungsgemäß (BVerfGE, a.a.O.). Der Ausschluss von Arzneimitteln, welche nur in anderen Ländern und dort nur für eine andere Indikation zugelassen sind, ist nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht umfasst, wenn die Arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 1 KR 30/06 R -).

Diese abstrakt generelle Einschränkung der von der Verfassung eingeräumten Rechte führt nach Auffassung des Senats auch im konkreten Einzelfall nicht zu einem unverhältnismäßigen Ergebnis. Es ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass die Behandlung mit anderen Arzneimitteln und/oder durch die nach Ansicht des MDK gebotene umfassende Schmerztherapie auf Dauer für die Beklagte zu deutlich höheren Kosten führen würde. Es ist weiter nicht ersichtlich, dass die Klägerin durch die Versagung der Pflaster mit dem Wirkstoff Lidocain aus rein formalistischen wirtschaftlichen oder prinzipiellen Gründen unnötig „leiden“ muss oder auch ansonsten die Leitlinie des Gesetzes, einen umfassenden Krankenschutz zu gewähren, unzumutbar ins Gegenteil verkehrt würde.

Die Nebenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 SGG vorliegen.