FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.08.2006 - 2 K 5010/01
Fundstelle
openJur 2012, 4056
  • Rkr:
Tatbestand

Der Kläger betreibt seit 1987 ein Unternehmen der ambulanten Krankenpflege, mit dem er seit 1988 auch für die gesetzlichen Krankenkassen tätig wird.

Nach Durchführung einer Außenprüfung gelangte der Beklagte zu der Auffassung, dass der Kläger in den Streitjahren, soweit seine Leistungen nicht in der sog. Behandlungspflege bestanden, der Umsatzsteuerpflicht unterliege. Davon ausgehend erließ der Beklagte am 7. Oktober 1997 erstmalige Umsatzsteuerbescheide 1990 und 1991, gegen die der Kläger Einspruch einlegte. Im Rahmen des Einspruchsverfahrens setzte der Beklagte wegen Fehlern bei der Ermittlung der Umsatzhöhe die Umsatzsteuer auf XXX DM für 1990 und XXX DM für 1991 herab. Den weitergehenden Einspruch wies er mit Einspruchsentscheidung vom 9. Dezember 1998, die bestandskräftig wurde, zurück.

Am 15. August 2000 beantragte der Kläger im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 3. Februar 2000 V R 1/98 (Kügler, Sammlung der Entscheidungen des BFH -BFHE- 191, 76, Umsatzsteuer-Rundschau -UR- 2000, 250) den Erlass der festgesetzten Umsatzsteuer 1990 und 1991.

Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31. August 2000 ab, gegen den der Kläger am 7. September 2000 Einspruch einlegte, ohne ihn weitergehend zu begründen. Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 14. Dezember 2000 zurück. Zur Begründung führte er an, dass keine Gründe für einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen vorlägen. Dies würde voraussetzen, dass die Steuerbescheide auf einem offensichtlichen und eindeutigen Rechtsirrtum des Finanzamts beruhen würden und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder zumutbar gewesen wäre, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zur Wehr zu setzen. Selbst wenn man sich der Auffassung des Klägers anschließen würde, nach der die Umsatzsteuerbescheide 1990 und 1991 rechtswidrig wären, würde es jedenfalls an einem offensichtlichen und eindeutigen Rechtsirrtum der Finanzbehörde fehlen. Es sei für den Kläger auch nicht unzumutbar gewesen, sich gegen die Steuerfestsetzung in einem Klageverfahren zur Wehr zu setzen. Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht auf Bl. 11 - 13 der Streitakte -StrA- Bezug.

Daraufhin hat der Kläger am 8. Januar 2001 Klage erhoben.

Zur Begründung macht er geltend, es sei seinerzeit für ihn unzumutbar gewesen, gegen die Einspruchsentscheidung vom 9. Dezember 1998 Klage zu erheben. Denn bis zum Vorlagebeschluss in BFHE 191, 76, UR 2000, 250 habe eine ständige und gefestigte Rechtsprechung des BFH bestanden, dass allein Leistungen der Behandlungspflege umsatzsteuerfrei seien, zuletzt mit Urteil vom 25. März 1999 V R 29/97 (Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH -BFH/NV- 1999, 1388). Materiell-rechtlich sei nunmehr geklärt, dass dem Kläger die Umsatzsteuerbefreiung zugestanden habe. Denn ausweislich einer Bescheinigung der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz vom 19. Oktober 2005 (Bl. XX StrA), handele es sich beim Kläger um eine anerkannte Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinne des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern -6. Richtlinie-, sodass auch die nicht in Behandlungspflege bestehenden Leistungen des Klägers umsatzsteuerfrei seien. Dem Kläger stehe auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage ein Schadensersatzanspruch zu, der ihm einen Anspruch auf Korrektur der Umsatzsteuerbescheide 1990 und 1991 vom 7. Oktober 1997 verschaffe. Dieser Anspruch sei durch Gewährung des begehrten Erlasses zu erfüllen. Grundlage dieses Schadensersatzanspruchs sei ein qualifizierter Verstoß gegen die Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften -EuGH- aus Art. 177 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft -EWG-Vertrag- (später: Art. 234 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft -EG-Vertrag-). Denn der BFH habe es in Verkennung seiner Vorlagepflicht unterlassen, in den ihm in den neunziger Jahren vorliegenden Verfahren die Frage der Umsatzsteuerpflicht der Grundpflege dem EuGH vorzulegen. Deshalb sei es für den Kläger unzumutbar gewesen, sich gegen die Einspruchsentscheidung vom 9. Dezember 1998 zur Wehr zu setzen. Aufgrund dieser Folgewirkung sei es gerechtfertigt, entsprechend dem EuGH-Urteil vom 30. Januar 2004 C-453/00 - Kühne & Heitz (Neue Juristische Wochenschrift -NJW- 2004, 1439) die rechtswidrigen Umsatzsteuerfestsetzungen durch den begehrten Erlass zu korrigieren. Jedenfalls sei es unzutreffend, ihn allein auf die Korrekturvorschriften des nationalen Rechts zu verweisen. Vielmehr müsse das Interesse an der Rechtssicherheit mit dem Interesse an der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts abgewogen werden. Danach sei im Streitfall dem Interesse des Klägers Vorrang einzuräumen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Klägervortrags nimmt das Gericht auf Bl. XXX, XXX, XXX StrA Bezug.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 31. August 2000 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. Dezember 2000 den Beklagten zu verpflichten, die festgesetzte Umsatzsteuer 1990 in Höhe von XXX € und die festgesetzte Umsatzsteuer 1991 in Höhe von XXX € zu erlassen

hilfsweise,

das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit den im Schriftsatz vom 8. August 2006 formulierten Fragen vorzulegen,

hilfsweise,

die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist im Wesentlichen auf die Gründe seiner Einspruchsentscheidung. Ferner ist er der Auffassung, dass das EuGH-Urteil in NJW 2004, 1439 keine eigene Rechtsgrundlage für eine Änderung der beanstandeten Umsatzsteuerfestsetzungen darstelle. Es müssten vielmehr im Einzelfall die Voraussetzungen der §§ 172 ff. Abgabenordnung -AO- bzw. des § 227 AO geprüft werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens nimmt das Gericht auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze und der beigezogenen Akten Bezug. Dem Gericht haben je eine Umsatzsteuer- und Gewerbesteuerakte vorgelegen, die vom Beklagten für den Kläger unter der St-Nr. XXX geführt werden.

Gründe

Die Klage ist unbegründet. Die Ablehnung des begehrten Erlasses verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 101 Finanzgerichtsordnung -FGO-).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Entscheidung über einen Erlassantrag eine Ermessensentscheidung darstellt. Behördliche Ermessensentscheidungen kann das Gericht nach § 102 FGO nur daraufhin überprüfen, ob eine Ermessensüberschreitung, Ermessensunterschreitung oder ein Ermessensfehlgebrauch vorliegt. Für solche Ermessensfehler ist im Streitfall nichts ersichtlich.

I. 1. Nach § 227 Abs. 1 AO können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen oder erstattet werden, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Steuern, die - wie hier die Umsatzsteuer für die Streitjahre - bestandskräftig festgesetzt worden sind, können nach ständiger Rechtsprechung des BFH jedoch nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich gegen deren Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen. Dabei liegt mangelnde Unzumutbarkeit in diesem Sinn aber nicht schon dann vor, wenn die Einlegung von Rechtsbehelfen im Hinblick auf eine - später geänderte - höchstrichterliche Rechtsprechung oder wegen entschuldbarer Rechtsunkenntnis unterblieben ist (vgl. BFH-Urteil vom 11. August 1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, Bundessteuerblatt -BStBl- II 1988, 512).

2. Im Streitfall fehlt es bereits an der ersten Voraussetzung. Die (bestandskräftigen) Umsatzsteuerfestsetzungen für 1990 und 1991 waren nicht offensichtlich und eindeutig unrichtig. Für die Frage, ob eine Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist - und deshalb ein Erlass in Betracht kommt - ist maßgeblich, ob das Finanzamt bei der Steuerfestsetzung (damals) die Rechtslage richtig beurteilt hat (vgl. BFH-Urteile vom 17. September 1986 II R 56/83, BFH/NV 1988, 217; vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460 jeweils m.w.N.). Der Umstand allein, dass eine durch bestandskräftigen Steuerbescheid oder durch rechtskräftiges Urteil festgesetzte Steuer in Widerspruch zu einer späteren Rechtsprechung steht, rechtfertigt noch nicht den Erlass der Steuer (vgl. BFH-Urteil in BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460).

Die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre ergingen im Jahr 1997 und wurden dem Grunde nach mit Einspruchsentscheidung vom 9. Dezember 1998 bestätigt. Sie entsprachen - wie auch der Kläger einräumt - der damals herrschenden Rechtsansicht sowie der Rechtsprechung des BFH (vgl. Beschlüsse vom 29. Mai 1991 V B 14/91, UR 1992, 147; vom 16. Dezember 1993 V B 124/93, BFH/NV 1995, 652; vom 10. Juni 1997 V B 62/96, BFH/NV 1998, 224; Urteil vom 25. März 1999 V R 29/97, BFH/NV 1999, 1388). Der BFH ging dabei davon aus, es sei nicht ernstlich zweifelhaft, dass die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 14 Satz 1 Umsatzsteuergesetz -UStG- grundsätzlich nur für Leistungen der Behandlungspflege in Betracht komme. Nicht steuerbefreit seien auf dem Gebiet der Hauskrankenpflege erbrachte Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung. Der BFH hat ferner eine unmittelbare Berufung der ambulanten Pflegedienste auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie mit der Begründung abgelehnt, dieser Bestimmung könne nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit entnommen werden, dass ein ambulanter Pflegedienst als anerkannte Einrichtung mit sozialem Charakter anzuerkennen oder jedenfalls derartigen Einrichtungen im Sinne des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g gleichzusetzen sein würde. Abweichende Finanzgerichtsentscheidungen sind nicht ersichtlich.

Erst später, nämlich mit Beschluss vom 3. Februar 2000 (V R 1/98, BFHE 191, 76, UR 2000, 250), hat der BFH - im Anschluss an den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts            -BVerfG- vom 10. November 1999 (2 BvR 2861/93, Sammlung der Entscheidungen des BVerfG -BVerfGE- 101, 151, BStBl II 2000, 160), wonach es das Gleichbehandlungsgebot verbiete, allein nach der Rechtsform zu unterscheiden, ob eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG in Betracht komme - dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsersuchens unter anderem die Fragen vorgelegt, ob die Umsatzsteuerbefreiung insgesamt oder teilweise die Umsätze einer Kapitalgesellschaft durch ambulante Krankenpflege erfasse, die von geprüften Krankenschwestern und Krankenpflegern erbracht werde, sowie ob die bezeichneten Leistungen unter Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie fielen und sich ein Steuerpflichtiger auf diese Bestimmung berufen könne.

Im Hinblick auf die zuvor ergangene anders lautende Rechtsprechung (Nachweise s.o.) kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass es zum Zeitpunkt der Festsetzung der Umsatzsteuer offensichtlich und eindeutig gewesen wäre, dass sich ein Steuerpflichtiger auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie berufen kann. Erst mit Urteil vom 10. September 2002 C-141/00 - Kügler (Slg. 2002, I-6833, UR 2002, 513) hat der EuGH auf die Vorlage des BFH hin entschieden, dass Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung, die körperlich oder wirtschaftlich hilfsbedürftigen Personen von einem ambulanten Pflegedienst erbracht werden, eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie darstellen können. Der EuGH hat außerdem erstmals entschieden, dass sich ein Steuerpflichtiger vor einem nationalen Gericht auf diese Steuerbefreiung berufen kann, um sich einer nationalen Regelung zu widersetzen, die mit dieser Bestimmung unvereinbar ist.

Im Übrigen hatte der EuGH mit Urteil vom 11. August 1995 C-453/93 - Bulthuis-Griffioen (UR 1995, 476) entschieden, dass eine natürliche Person keine Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinne des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie sein könne. Von dieser Rechtsprechung ist der EuGH erst mit Urteil vom 7. September 1999 C-216/97 - Gregg (UR 1999, 419) wieder abgerückt. Ausgehend von der im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung vom 9. Dezember 1998 existierenden EuGH-Rechtsprechung wäre daher auch aus diesem Grunde eine Anerkennung des Klägers als Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinne des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie nicht in Betracht gekommen.

Das FA durfte mithin - jedenfalls bis zum Ergehen der EuGH-Entscheidung vom 10. September 2002 C-141/00 - Kügler (Slg. 2002, I-6833, UR 2002, 513) - ohne offensichtlichen und eindeutigen Rechtsfehler davon ausgehen, dass die Umsätze der Klägerin nicht steuerbefreit waren, soweit sie die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung betrafen.

3. Im Streitfall fehlt es darüber hinaus an der weiteren Voraussetzung für den Erlass, dass es dem Kläger nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen wäre, sich gegen die Fehlerhaftigkeit der Steuerfestsetzung zu wehren. Die mangelnde Erfolgsaussicht führt nicht dazu, die Einlegung des Rechtsbehelfs als unzumutbar anzusehen (BFH-Urteil in BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512).

II. Die Umsatzsteuerfestsetzungen gegen die Klägerin waren auch nicht deshalb offensichtlich und eindeutig unrichtig, weil ein (zur Entschädigung verpflichtender) qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorlag.

1. Das Gemeinschaftsrecht erkennt einen Entschädigungsanspruch an, sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert, und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (vgl. EuGH-Urteile vom 18. Januar 2001 C-150/99, - Stockholm Lindöpark, Slg. 2001, I-493, Umsatz- und Verkehrsteuer-Recht -UVR-/2001, 108; vom 30. September 2003 C-224/01, - Köbler, Slg. 2003, I-10239, Der Betrieb -DB- 2003, 2331). Bei der Frage, ob ein qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegt, sind alle Gesichtspunkte des Einzelfalls zu berücksichtigen. Zu diesen Gesichtspunkten gehören u.a. das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes und die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums. Ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des EuGH offenkundig verkennt (vgl. EuGH-Urteile in Slg. 2003, I-10239, DB 2003, 2331, Rz. 51 ff.; vom 13. Juni 2006         C-173/03 - TDM, veröffentlicht im Internet unter www.curia.eu.int/de, Europäisches Wirtschafts- & Steuerrecht -EWS- 2006, 314, Rz. 32).

2. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Die Vorgaben in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie waren vor Ergehen des EuGH-Urteils vom 10. September 2002 in der Rs. C-141/00 Kügler (Slg. 2002, I-6833, UR 2002, 513) und damit im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung nicht eindeutig. Das Gericht verweist auf die Ausführungen unter I. 2.

3. Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, der BFH habe seine offenkundige Vorlagepflicht verkannt, in der Folge die mangelnde Erfolgsaussicht für eine Klage des Klägers heraufbeschworen und damit eine Ursache für den eingetretenen Schaden gesetzt. Das Gericht lässt dahingestellt, ob ein Steuerpflichtiger, der nicht selbst Beteiligter eines Gerichtsverfahrens war, in dem die Vorlage zum EuGH in Betracht kam, sich auf die Folgewirkungen einer Verletzung der Vorlagepflicht berufen kann (ablehnend wohl Leonard/Szczekalla, UR 2005, 420 [433]). Selbst wenn daraus dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch für den Kläger erwachsen könnte, wäre dieser im Streitfall zu verneinen.

Zwar kann auch ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht einen europarechtlich fundierten Schadensersatzanspruch begründen (vgl. EuGH-Urteil in Slg. 2003, I-10239, DB 2003, 2331, Rz. 118 ff.). Dieser Schadensersatzanspruch setzt jedoch voraus, dass das Gericht die Vorlagepflicht aus Art. 177 EWG-Vertrag/Art. 234 EG-Vertrag offenkundig verkannt hat (EuGH-Urteile in Slg. 2003, I-10239, DB 2003, 2331, Rz. 53 ff., 120 ff.; vom 16. März 2006 C-234/04 - Schlank & Schick, NJW 2006, 1577). Es war jedoch nicht offensichtlich unzutreffend, dass der BFH davon ausging, ein so auslegungsbedürftiger Begriff wie der der Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinne des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie könne unzweifelhaft keinen Anspruch verleihen, sich als Steuerpflichtiger unmittelbar darauf berufen zu können. Für dieses Verständnis sprach schon, dass Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie die Anerkennung als soziale Einrichtung forderte. Es war jedenfalls nicht offensichtlich unvertretbar, dass der BFH insoweit höhere Anforderungen stellte, als dies ausgehend von der heutigen Rechtsprechung (vgl. z. B. BFH, Urteil vom 22. April 2004 V R 1/98, BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849) zutreffend erscheint. Ferner konnte der BFH nach Ergehen des EuGH-Urteils in UR 1995, 476 bis zum Ergehen des EuGH-Urteils in UR 1999, 419 davon ausgehen, dass eine natürliche Person wie der Kläger nicht als Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinne des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie in Betracht kam.

III. 1. Schließlich ergibt sich nichts zugunsten des Klägers aus dem EuGH-Urteil in NJW 2004, 1439. Die dortigen Ausführungen gelten im Hinblick auf die Feststellung des vorlegenden Gerichts, dass eine Änderung der angegriffenen Verwaltungsentscheidung nach dem nationalen Verfahrensrecht dem Grunde nach in Betracht kam. Dies gilt nicht in gleicher Weise für das deutsche Verfahrensrecht, das diese Möglichkeit im Streitfall nur unter den oben unter I. erörterten engen, im Streitfall nicht vorliegenden Voraussetzungen kennt.

2. Eine Analogie zu §§ 48, 49 Verwaltungsverfahrensgesetz (oder den im Wesentlichen gleichlautenden §§ 130, 131 AO) kommt nicht in Betracht, weil der Gesetzgeber mit den §§ 172 ff. AO ein besonderes, auf die Bedürfnisse der Steuerfestsetzungen abgestimmtes Korrektursystem bereitgestellt hat.

3. Das Gericht folgt dem Kläger nicht dahingehend, die Verweisung auf die Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts sei zu eng und müsse durch eine umfassende Abwägung zwischen dem Interesse an der Rechtssicherheit einerseits und dem Interesse an der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts andererseits ersetzt werden (im Anschluss an die Schlussanträge des Generalanwalts Colomer vom 16. März 2006 C-392/04 und C-422/04 - i-21 Germany und ISIS Multimedia Net, veröffentlicht im Internet unter www.curia.eu.int/de, Rz. 95 ff.).

Die bestehenden Verfahrensvorschriften stellen bereits eine Abwägung zwischen den Interessen der Rechtssicherheit einerseits und der materiellen Richtigkeit dar. Anlass im Bereich des europäischen Gemeinschaftsrechts grundsätzlich andere, eher zu Gunsten der materiellen Richtigkeit streitende Regelungen anzuwenden, sieht das Gericht nicht.

Gravierende Verstöße gegen die Vorlagepflicht kann der Steuerpflichtige jedenfalls in Deutschland durch eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG wegen Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz -GG- rügen (vgl. BVerfG, Entscheidung vom 22. Dezember 1992 2 BvR 557/88, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -HFR- 1993, 203; vom 14. Juli 2006 2 BvR 264/06, veröffentlicht im Internet unter www.bverfg.de/entscheidungen). Damit kann dem Gemeinschaftsrecht hinreichend effektiv Geltung verschafft werden.

Zudem hat der EuGH bis in die jüngste Zeit an seiner bisherigen Rechtsprechung, die auf das nationale Verfahrensrecht verweist, festgehalten (EuGH, Urteil vom 16. März 2006       C-234/04 - Schlank & Schick, NJW 2006, 1577).

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO, die Zulassung der Revision aus § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.

Das Gericht hat den Streitwert ausgehend von den Sachanträgen der Beteiligten bestimmt (§§ 52, 63 Gerichtskostengesetz -GKG).