KG, Urteil vom 12.02.2004 - 12 U 219/02
Fundstelle
openJur 2012, 1581
  • Rkr:

Ist zwischen den Parteien streitig, ob die Klägerin bei dem streitgegenständlichen Unfall überhaupt verletzt wurde, gilt für die Feststellung der behaupteten unfallbedingten Verletzungen (HWS-Schleudertrauma, LWS-Syndrom mit posttraumatischer Wurzelreizung C 6/7, Quetschung des Nervs des rechten Armes) das Beweismaß des § 286 ZPO.

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 12. Juni 2002 verkündete Urteil der Zivilkammer 17 des Landgerichts Berlin - 17 0 234/01 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages zuzüglich 10 % abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe

I.

Die am 22. Juli 2002 eingelegte und am 28. August 2002 begründete Berufung der Klägerin richtet sich gegen das am 28. Juni 2002 zugestellte Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. Juni 2002, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird.

Die Klägerin verfolgt ihr erstinstanzliches Zahlungsbegehren weiter und beanstandet die Beweiswürdigung des Landgerichts. Sie macht unter näherer Darlegung im Einzelnen geltend, eine „Harmlosigkeitsgrenze“ für eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung, bei deren Unterschreiten eine Verletzung der Halswirbelsäule ausgeschlossen sei, könne es nicht geben. Zudem habe das Landgericht übersehen, dass bei dem streitgegenständlichen Unfall, wie von der Klägerin bereits mit Schriftsatz vom 21. März 2002 vorgetragen, eine Querbeschleunigung stattgefunden habe. Demgegenüber sei die vom Landgericht zitierte Rechtsprechung zur so genannten Harmlosigkeitsgrenze nur auf solche Fälle anwendbar, bei denen ein vollflächiger Aufprall ohne Querbeschleunigung stattgefunden habe.

Die Klägerin behauptet, andere Ursachen für die von ihr geklagten Verletzungen außer dem Unfall könnten ausgeschlossen werden. Eine neurotische Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens habe nicht stattgefunden.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Berlin vom 12. Juni 2002 - 17 0 234/01 - die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an die Klägerin 31.739,79 EUR nebst 10 % Zinsen seit dem 17. Juli 2002 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen das angefochtene Urteil und behaupten, bei den vom Sachverständigen Prof. Dr. festgestellten Auftreffwinkeln sei das klägerische Fahrzeug ausschließlich gerade nach vorn beschleunigt worden. Etwa in seitliche Richtungen wirkende geringfügige Kräfte seien durch die Masse des Fahrzeugs und die Reifenhaftung auf der Straße „abgefangen“ worden.

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat gemäß Beschluss vom 10. Oktober 2002 vor der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. med. ... C ... . Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 20. November 2002 (Bd. II Bl. 4 - 41) verwiesen. Darüber hinaus hat der Senat vor der mündlichen Verhandlung ergänzende Stellungnahmen des Sachverständigen Prof. Dr. med. ... C ... sowie des Sachverständigen für Unfallrekonstruktionen Prof. Dr.-Ing. ... eingeholt. Insoweit wird auf die Stellungnahmen vom 9. Januar 2004 (Bd. II Bl. 58 - 67) sowie vom 12. Januar 2004 (Bd. II Bl. 76 - 87) verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Allerdings rügt die Klägerin zu Recht, dass das Landgericht nicht allein auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen für Unfallrekonstruktionen Prof. Dr. ... vom 20. Februar 2002, wonach die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des klägerischen Fahrzeugs zwischen 7 und 13 km/h gelegen hat, die Klage hätte abweisen dürfen, ohne zuvor ergänzende Gutachten, insbesondere eines Mediziners, eingeholt zu haben.

a) Der Bundesgerichtshof hat in seinem - allerdings erst nach Erlass des angefochtenen Urteils ergangenen Urteil vom 28. Januar 2003 - VI ZR 139/02 - die Annahme einer so genannten „Harmlosigkeitsgrenze“ d. h. einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, bei deren Vorliegen eine Verletzung der HWS generell auszuschließen sei, abgelehnt (BGH NJW 2003, 1116 f. = VersR 2003, 474 mit zustimmender Anmerkung Jaeger, VersR 2003, 476).

b) Unabhängig davon hätte das Landgericht schon deshalb nicht von der Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens absehen dürfen, weil nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. ... vom 20. Februar 2002, die auch das Landgericht seiner Entscheidung zugrunde legt, die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung bis zu 12,9 km/h betragen haben kann. Auch das Landgericht geht davon aus, dass bei diesem Wert Verletzungen, wie sie von der Klägerin geltend gemacht werden, entstehen können. Bei dieser Sachlage hätte das Landgericht von der Einholung eines ergänzenden Gutachtens eines medizinischen Sachverständigen nicht absehen dürfen (vgl. auch Mazzotti/Castro, NZV 2002, 499, 500). Auch von seinem eigenen Standpunkt aus, wonach Verletzungen der Halswirbelsäule bei kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen bis zu 7 km/h ausgeschlossen sind, hätte das Landgericht auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. ... , wonach die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung bis zu 12,9 km/h betragen haben kann, die Einholung eines medizinischen Gutachtens nicht als ungeeignetes Beweismittel zum Nachweis der von der Klägerin behaupteten Verletzungen behandeln dürfen (vgl. Mazzotti/Castro, NZV 2002, 499, 500).

c) Es kommt hinzu, dass die vom Landgericht zitierte Rechtsprechung zur sogenannten „Harmlosigkeitsgrenze“ sich auf so genannte „klassische Auffahrunfälle“ bezog, bei denen keine Querbeschleunigung auftritt. Bei Unfällen mit Querbeschleunigung kann eine Kopfhalsdrehbewegung verursacht werden, die eine besonders starke Belastung der Kopfsockelgelenke und des Bänderapparats verursacht (Mazzotti/Castro a.a.O., Himmelreich/Halm/Bücken, Kfz-Schadensregulierung, l. Bl. 2001, Rdnr. 5303 a. E.).

Hier hatte die Klägerin bereits in erster Instanz ausdrücklich vorgetragen und unter Beweis gestellt, dass es bei dem streitgegenständlichen Unfall zu einer Querbeschleunigung gekommen sei.

2. Im Ergebnis bleibt die Berufung der Klägerin jedoch erfolglos. Auch nach dem Ergebnis der vor dem Senat durchgeführten ergänzenden Beweisaufnahme hat die Klägerin nicht zu beweisen vermocht, dass sie bei dem streitgegenständlichen Unfall die von ihr behaupteten Verletzungen erlitten hat.

a) Für die Frage, ob die Klägerin bei dem streitgegenständlichen Unfall die von ihr geklagten Verletzungen (HWS Schleudertrauma, LWS-Syndrom mit posttraumatischer Wurzelreizung C 6/7, Quetschung des Nervs am linken Arm) erlitten hat, gilt das Beweismaß des § 286 ZPO, denn es ist zwischen den Parteien streitig, ob die Klägerin bei dem Unfall überhaupt verletzt wurde (vgl. BGH NJW 2003, 1116 = VersR 2003, 474; Senat, NJW 2000, 877, 878 m. w. N., ständige Rechtsprechung). Soweit die Klägerin mit Schriftsatz vom 29. Januar 2004 meint, die Beweisanforderungen des § 286 ZPO beschränkten sich auf die eigentliche Fahrzeugkollision und die Schleuderbewegung, die im Rechtssinne bereits eine Verletzung darstelle während für die Behauptung der Nervenreizung und die sonstigen Folgen der Beweismaßstab des § 287 ZPO gelten würde, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Allein die bei einem Auffahrunfall verursachte Schleuderbewegung des jeweiligen Anspruchstellers stellt noch keine Verletzung der Gesundheit des Klägers dar. Auch der BGH geht in der zitierten Entscheidung (VersR 2003, 474, 475) davon aus, dass für die Feststellung, ob der Anspruchsteller bei dem Unfall eine HWS-Distorsion erlitten hat, der Maßstab des § 286 ZPO gilt.

b) Ein Anscheinsbeweis für das Vorliegen einer unfallbedingten Verletzung der HWS greift zu Gunsten der Klägerin nicht ein. Dieser könnte nur dann angenommen werden, wenn eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von über 15 km/h bewiesen wäre (Senat NJW 2000, 877; Revision nicht angenommen: BGH, Beschluss vom 23. Mai 2000 - VI ZR 378/99-; vgl. auch Senat, NZV 2003, 281, ständige Rechtsprechung). Hier ist auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. ... lediglich eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von 7 km/h bewiesen. Möglich ist nach den Ausführungen des Sachverständigen eine maximale kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von 12,9 km/h. Dass die Geschwindigkeitsänderung tatsächlich über diesen Wert gelegen hätte, macht die Klägerin selbst nicht geltend.

c) Durch das medizinische Gutachten des Sachverständigen für Fachorthopädie Prof. Dr. ... . C ... vom 20. November 2002 hat die Klägerin einen Ursachenzusammenhang zwischen den von ihr geklagten Gesundheitsbeeinträchtigungen und dem streitgegenständlichen Unfall vom 30. Juni 1998 nicht bewiesen.

Der Sachverständige hat auf S. 23 des Gutachtens überzeugend und nachvollziehbar ausgeführt, bei einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von 7 km/h habe eine Verletzungsmöglichkeit der HWS mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht vorgelegen. Auch bei einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von 13 km/h sei eine Verletzungsmöglichkeit der HWS weder mit an Sicherheit grenzender noch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu bejahen. Die von der Klägerin gemachten Angaben über Beschwerden nach dem Verkehrsunfall (Nackenschmerzen, Schwindel und Übelkeit, Kopfschmerzen) sowie die in den Attesten und Durchgangsberichten festgehaltenen Beschwerden und Befunde in Bezug auf die HWS seien im Wesentlichen unspezifisch, d. h. sie könnten sowohl bei unfallunabhängigen als auch bei unfallabhängigen Erkrankungen der Halswirbelsäule vorliegen. Dies gelte auch für die bei der Röntgenaufnahme vom 30. Juni 1998 feststellbare Steilstellung der Halswirbelsäule. Nach medizinischen Untersuchungen läge eine steilgestellte HWS bei 42 % der Normalbevölkerung vor. Die von der Klägerin geklagten „stromartigen“ Beschwerden im Bereich des linken Armes könnten nicht auf eine Verletzung im Bereich der HWS zurückgeführt werden. Denn in diesem Fall hätte eine Veränderung auf der MRT der HWS vom 20. September 1999 erkennbar sein müssen, was indessen nicht der Fall sei. Zum anderen hätten derartigen Beschwerden auch zu Sensibilitätsstörungen und eventuell auch zu Kraftverlust und zu Schmerzen in der linken oberen Extremität führen müssen. Auch dies sei nicht der Fall. Eine Verletzungsmöglichkeit der LWS sei selbst bei einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von 13 km/h mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Zudem seien primär unfallabhängige LWS-Beschwerden von der Klägerin nicht erwähnt worden. Auch der erstbehandelnde Arzt habe solche Beschwerden in seinen Befunden vom 30. Juni 1998 und vom 3. Juli 1998 nicht erwähnt. Erst in einem Bericht vom 15. Juli 1998 würden zunehmende Schmerzen im Bereich der LWS erwähnt. Es sei jedoch aus orthopädisch traumatologischer Erfahrung nicht bekannt, dass Beschwerden nach Traumen erst nach Wochen auftreten.

d) Auch die vom Senat eingeholten ergänzenden Stellungnahmen des Sachverständigen für Unfallrekonstruktion Prof. Dr. ... vom 9. Januar 2004 und des medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. C ... vom 12. Januar 2004 führen zu keinem der Klägerin günstigeren Ergebnis. Der Sachverständige Prof. Dr. ... hat überzeugend und nachvollziehbar ausgeführt, die bei dem streitgegenständlichen Unfall verursachte Geschwindigkeitsänderung in Querrichtung habe nur etwa 2,9 km/h betragen. Auch die Parteien haben diese Feststellungen des Sachverständigen nicht in Zweifel gezogen.

Unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. ... vom 9. Januar 2004 hat der medizinische Sachverständige Prof. Dr. C ... in seiner Stellungnahme vom 12. Januar 2004 ausgeführt, eine wesentliche Änderung der bereits in den fachorthopädischen Gutachten vom 26. Februar 2003 festgehaltenen Diskussion der Verletzungsfolgen sei nicht veranlasst. Betrachte man lediglich die einwirkende biomechanische Belastung in Fahrzeugquerrichtung von etwa 3 km/h so sei aus orthopädischer Sicht eine Verletzungsmöglichkeit der HWS mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Auch wenn man die insgesamt verursachte biomechanische Belastung von 13 km/h berücksichtige, könne aus orthopädischer Sicht eine Verletzungsmöglichkeit der HWS weder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bejaht werden (Seite 6 der ergänzenden Stellungnahme) eine Verletzung im Bereich der LWS könne, ebenso wie eine Verletzung des linken Armes, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verneint werden (Zusammenfassung auf Seite 8 der ergänzenden Stellungnahme). Substantiierte Einwendungen hat die Klägerin hiergegen nicht erhoben.

Bei diesem Ergebnis der Beweisaufnahme vermag sich der Senat nicht mit der zu einer Verurteilung erforderlichen Gewissheit davon zu überzeugen, dass die Klägerin bei dem streitgegenständlichen Unfall die von ihr geltend gemachten Verletzungen erlitten hat.

3. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Sache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgericht erfordern (§ 543 Abs. 2 ZPO).

4. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO in Verbindung mit § 26 Nr. 8 EGZPO.