VerfGH des Landes Berlin, Beschluss vom 25.04.1994 - 8/94
Fundstelle
openJur 2012, 724
  • Rkr:
Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin reiste im Jahre 1988 zum Zwecke der Eheschließung mit einem Deutschen nach Deutschland ein. Ihr wurde eine bis 31. Mai 1992 gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt. Da sie sich nach dem 26. Oktober 1990 von ihrem deutschen Ehepartner getrennt hatte, wurde die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 28. Dezember 1992 verweigert. Der dagegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos. Über die Klage ist noch nicht entschieden. Ihr Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die ausländerrechtlichen Bescheide wurde vom Verwaltungsgericht mit Beschluß v. 8. Oktober 1993 zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht Berlin mit Beschluß vom 20. Dezember 1993 zurück. Bei der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts stand im Vordergrund die Prüfung, ob die Beschwerdeführerin einen Anspruch aus Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB) herleiten könne.

Nach Art. 6, 2. Spiegelstrich dieses Beschlusses habe ein Arbeitnehmer - so hat d. Oberverwaltungsgericht Berlin ausgeführt einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Voraussetzung sei eine dreijährige ordnungsgemäße Beschäftigung. Bei der Beschwerdeführerin könnten aber nur die Beschäftigungszeiten vom 14. Februar 1991 bis zum 31. Mai 1992, also rund 16 Monate anerkannt werden. Die Beschäftigungszeiten vor dem 14. Februar 1991 könnten wegen der durch Arbeitslosigkeit bedingten Unterbrechungen in den Zeiträumen vom 7. Juli 1990 bis zum 9. September 1990 und vom 24. Dezember 1990 bis zum 13. Februar 1991 nicht angerechnet werden. Wenn ein Arbeitnehmer - wie die Beschwerdeführerin - die Arbeitslosigkeit, auf der die erste Unterbrechung beruhe, durch eigene Kündigung herbeigeführt habe, werde die davor liegende Beschäftigungszeit von der Anrechnung ausgeschlossen. In diesem Zusammenhang sei es unerheblich, daß die Beschwerdeführerin nur gekündigt habe, um ihre erkrankte Mutter in der Türkei zu pflegen. Die zweite Unterbrechung wirke sich ebenfalls nachteilig für die Beschwerdeführerin aus. Zwar könne es sich insoweit um eine unverschuldete Arbeitslosigkeit handeln, doch fehle die hierzu erforderliche Feststellung des zuständigen Arbeitsamtes durch Zahlung von Arbeitslosengeld. Auch die Zeiten nach dem 31. Mai 1992, in denen die Beschwerdeführerin sich noch in Deutschland aufgehalten habe, müßten außer Betracht bleiben. Beschäftigungszeiten, die auf lediglich vorläufigen Rechtspositionen beruhten, seien nicht anrechenbar.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die fehlerhafte Anwendung der Rechtsvorschrift des Assoziationsrates. Sie räumt ein, bei einer solchen fehlerhaften Anwendung handele es sich noch nicht um einen Verfassungsverstoß. Ein Verfassungsverstoß sei jedoch darin zu sehen, daß ihr praktisch verboten werde, ihre kranke Mutter in der Türkei zu pflegen bzw. daß sie bei Verlust des Arbeitsplatzes gezwungen sei, sich arbeitslos zu melden. Die Beschwerdeführerin trägt vor, es sei eine die menschliche Würde unmittelbar betreffende Verpflichtung, der Mutter im Krankheitsfalle persönlich zur Seite zu stehen, wenn diese dies wünsche und benötige. Das gelte namentlich für eine türkische Tochter, die anderenfalls ihre Ehre verliere. Durch die in der Rückführung in die Türkei liegende Bestrafung - die für eine früher mit einem Deutschen verheiratet gewesene türkische Frau ohnehin eine besondere Härte deshalb mit sich bringe, weil man sie dort zumindest für leichtfertig halte werde sie, die Beschwerdeführerin, zum Objekt staatlichen Handelns und staatlicher Entscheidungen gemacht. Dies sei mit einer freien und menschenwürdigen Gestaltung des Lebens nicht vereinbar. Ebenso bleibe unverständlich, warum eine entlassene Türkin sofort Arbeitslosengeld beantragen müsse. Es erscheine "abwegig", sie zu einer derartigen Handlung zu zwingen.

Die Beschwerdeführerin macht geltend, die angefochtenen Entscheidungen verletzten sie in ihrer Menschenwürde, überdies verstießen sie gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung von Berlin sowie Art. 6 und Art. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 3 der Verfassung von Berlin.

II.

Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg. Es ist nicht ersichtlich, daß die Beschwerdeführerin durch die angegriffenen Entscheidungen in einem in der Verfassung von Berlin enthaltenen Recht verletzt ist (§ 49 Abs 1 VerfGHG). Der Verfassungsgerichtshof geht entsprechend seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. Beschlüsse vom 23. Dezember 1992 - VerfGH 38/92 - NJW 1993, 513, vom 12. Januar 1993 - VerfGH 55/92 - NJW 1993, 515 und vom 2. Dezember 1993 - VerfGH 89/93 - NJW 1994, 436) davon aus, daß seine Prüfungskompetenz im Verfassungsbeschwerdeverfahren grundsätzlich auch dann besteht, wenn die angegriffene gerichtliche Entscheidung wie im vorliegenden Fall in einem bundesrechtlich geregelten Verfahren unter Zugrundelegung materiellen Bundesrechts ergangen ist. Die landesverfassungsrechtlichen Grundrechte sind in den Grenzen der Art. 142, 31 GG, d. h. soweit sie in inhaltlicher Übereinstimmung mit den Grundrechten des Grundgesetzes stehen, auch dann von der rechtsprechenden Gewalt des Landes Berlin zu beachten und vom Verfassungsgerichtshof zu schützen, wenn Bundesrecht angewandt wird. Grundrechtsverstöße sind indes im vorliegenden Fall nicht ersichtlich.

Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 GG rügt, fehlt es bereits an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, weil die Beschwerdeführerin sich auf eine Vorschrift des Grundgesetzes und nicht auf eine solche der Verfassung von Berlin beruft. Auch aus Art. 1 Abs. 3 VvB kann sie insoweit nichts herleiten, weil diese Bestimmung lediglich die Objektive Geltung des Grundgesetzes und der Gesetze des Bundes in Berlin betrifft und in der besonderen historischen Situation des Jahres 1950 den damaligen Anspruch der Westsektoren Berlins auf Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland verdeutlicht, nicht aber ihrerseits subjektive Rechte begründet (vgl. Beschluß vom 10. November 1993 - VerfGH 80/93 - Umdruck S. 3). Überdies kann die Rüge einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 GG auch nicht als Rüge eines entsprechenden Grundrechts der Verfassung von Berlin angesehen werden, weil die Verfassung von Berlin ein Art. 6 Abs 1 GG entsprechendes Grundrecht auf den Schutz von Ehe und Familie weder ausdrücklich noch als ungeschriebenen Verfassungssatz enthält. Aus der Entstehungsgeschichte der Verfassung von Berlin läßt sich vielmehr entnehmen, daß der Verfassungsgeber bewußt auf die Aufnahme eines Grundrechts, das dem durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten entspricht, verzichtet hat. Eine im Entwurf der CDU-Fraktion für eine Verfassung von Berlin in Art. 78 Abs. 1 enthaltene Bestimmung zum Schutz von Ehe und Familie (vgl. Drucksache Nr. 60/412 der Stadtverordnetenversammlung, ausgegeben am 18. September 1947, abgedruckt bei Reichhardt, Die Entstehung der Verfassung von Berlin, 1990, Bd. I, Dock 98) ist in die am 22. April 1948 beschlossene, aber noch nicht in Kraft gesetzte Verfassung nicht übernommen worden. Bei der später erfolgten Abstimmung mit dem Grundgesetz wurde zunächst die Einfügung einer Vorschrift, die dem Art. 6 GG entspricht, zwar vorgeschlagen (vgl. Gutachten der Magistrats-Abteilung Rechtswesen vom 24. Oktober 1949, abgedruckt bei Reichhardt, a.a.O., Bd. II, Dok 177) jedoch wegen der globalen Übernahme des Grundgesetzes und des Bundesrechts nach Berlin (vgl. erstmalig Sitzung des Ältestenrats der Stadtverordnetenversammlung vom 18. Juli 1950, Protokoll auszugsweise abgedruckt in: Reichhardt, a.a.O., Bd. II, Dok 195) nicht vorgenommen. Ein dem Art. 6 Abs. 1 GG ganz oder teilweise gleiches Grundrecht gewährleistet die Verfassung von Berlin auch nicht im Sinne eines ungeschriebenen Grundrechts. Weder eine Zusammenschau einzelner Grundrechte noch auch der Gedanke des "Hineinwirkens" von Bundesverfassungsrecht in Landesverfassungsrecht (vgl. dazu den Beschluß v. 12. Januar 1993 - VerfGH 55/92 - NJW 1993, 515; s. auch den Beschluß vom 16. Juni 1993 - VerfGH l9/93 - JR 1994, H. 3) begründen die Geltung eines Schutzes der Ehe nach dem Berliner Verfassungsrecht.

Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung des auch in der Verfassung von Berlin verbürgten Rechts auf Achtung der Menschenwürde (vgl. Beschluß vom 12. Januar 1993 - VerfGH 55/92 - NJW 1993, 515) rügt, ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht hat bei der Auslegung des Art. 6 Abs. 1, 2. Spiegelstrich des Beschlusses Nr 1/80 des Assoziationsrates angenommen, daß nur eine Abwesenheit wegen eigener Krankheit bei der Prüfung der Voraussetzung einer dreijährigen Ordnungsgemäßen Beschäftigung unschädlich ist. Diese Auslegung beinhaltet keine Mißachtung des menschlich gebotenen Verhaltens der Beschwerdeführerin, ihre Arbeit aufzugeben, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Die Meinung, Art. 6 Abs. 1, 2. Spiegelstrich des Beschlusses Nr. I/80 des Assoziationsrates führe zu unterschiedlichen Rechtsfolgen je nachdem, ob es um eine eigene Krankheit gehe oder aber um die eines nahen Familienangehörigen, berührt die menschliche Würde der Beschwerdeführerin nicht in verfassungsrechtlich zu mißbilligender Weise. Die bloße Tatsache, daß eine sich nach Auffassung eines Fachgerichts aus einer gesetzlichen Vorschrift ergebende Rechtsfolge als hart oder gar als unbillig erscheint, würdigt den Menschen noch nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herab. Voraussetzung für die Annahme einer Verletzung der menschlichen Würde durch staatliche Verwaltung oder Gerichtsbarkeit ist, daß durch deren Behandlung eine Mißachtung des Wertes zum Ausdruck kommt, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht, d. h. eine in diesem Sinne "verächtliche Behandlung" (vgl. u.a. BVerfGE 1, 26). Davon kann hier keine Rede sein.

Auch ist nicht ersichtlich, daß die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts mit Blick auf die Abwesenheit der Beschwerdeführerin oder in bezug auf die angenommene Unterbrechung der ordnungsgemäßen Beschäftigung durch Nichtmeldung der Arbeitslosigkeit beim Arbeitsamt willkürlich wäre. Als Prüfungsmaßstab kommt insoweit aus Rechtsgründen (§ 49 Abs. 1 VerfGHG) allein Art. 6 Abs. 1 Satz 1 VvB in Betracht, der auch in der Ausprägung als objektives Willkürverbot gilt und inhaltlich dem Gleichbehandlungsgrundsatz das Art. 3 Abs. 1 GG entspricht (vgl. Beschluß vom 23. Februar 1993 - VerfGH 43/92 - Umdruck S. 5). Eine Verletzung des Willkürverbots liegt bei einer gerichtlichen Entscheidung vor, wenn sie bei verständiger Würdigung der die Verfassung beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. Beschluß vom 13. September 1993 - VerfGH 73/93 - Umdruck S. 4). Es kann dahinstehen, ob die Auslegung des Oberverwaltungsgerichts, Krankheitszeiten von Familienangehörigen und beim Arbeitsamt nicht registrierte Arbeitslosenzeiten würden die Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung unterbrechen, mehr oder weniger überzeugt. Darauf kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Dann jedenfalls kann die Auslegung des Oberverwaltungsgerichts nicht als sachfremd und völlig unvertretbar und somit nicht als willkürlich angesehen werden.

Nach alledem kommt es für die Entscheidung in dem vorliegenden Verfahren auf die von der Beschwerdeführerin angekündigten weiteren Beweismittel nicht an.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 33 f. VerfGHG.

Der Beschluß ist unanfechtbar.

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