OLG Hamm, Beschluss vom 12.11.1986 - 20 W 58/86
Fundstelle
openJur 2012, 72714
  • Rkr:
Tenor

Der angefochtene Beschluß wird abgeändert. Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt ... in ... Prozeßkostenhilfe (ohne Ratenzahlung) für die im Schriftsatz vom 18. Februar 1986 angekündigte Klage bewilligt.

Gründe

I.

Der Kläger nimmt die Beklagte aus der bei dieser bestehenden Fahrzeugversicherung (Vollkaskoversicherung) auf Ersatz des Neuwertes seines am 30.6.1985 bei einem von ihm selbst verursachten Unfall zu Schaden gekommenen Personenwagens in Anspruch und sucht um Prozeßkostenhilfe für eine auf Zahlung von 30.840,01 DM nebst Zinsen gerichtete Klage nach.

Nach seiner Darstellung, die hinsichtlich des objektiven Geschehensablaufs durch den Inhalt der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft ... (Az.: 29 Js 772/85) im wesentlichen bestätigt wird, ereignete sich folgendes:

Der Kläger hatte sich von seiner Ehefrau von der Wohnung zu einem auf Privatgelände liegenden Platz fahren lassen, wo er ein Materiallager unterhielt. Er wollte dort arbeiten. Der Kläger behauptet, er habe seine Ehefrau gebeten, ihn dort nachmittags zwischen 14.30 und 14.45 Uhr wieder abzuholen. Während der Arbeit habe er fünf Flaschen Bier und einige sog. "Kümmerlinge" zu sich genommen. Er habe nicht die Absicht gehabt, sich danach noch an das Steuer seines Wagens zu setzen, weil seine Frau ihn ja habe abholen sollen.

Seine Frau habe sich dann allerdings erheblich verspätet und sei erst gegen 16.00 Uhr erschienen. Deshalb sei es zwischen ihnen zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen, in deren. Verlauf er seiner Frau u.a. vorgeworfen habe, sie habe ein Verhältnis mit einem anderen Mann und sei deshalb so spät gekommen. Er sei sehr erregt gewesen, zumal er sich schon vorher darüber geärgert gehabt habe, daß sein Sohn einen Kompressor beschädigt und einen Schaden von mehr als 2.000 DM verursacht habe.

In heftiger Erregung habe er sich dann auf den Beifahrersitz des Wagens gesetzt, während seine Frau am Steuer gesessen und versucht habe, den Wagen zu wenden. Bei diesem Versuch sei sie auf eine Wiese geraten und mit dem Vorderteil des Wagens hängen geblieben. Bei dem Versuch, wieder freizukommen, habe sich der Wagen immer tiefer in den Morast gewühlt.

Er - der Kläger - sei nunmehr außer sich geraten, es habe eine erneute heftige Auseinandersetzung mit seiner Frau gegeben und er habe sich schließlich selbst ans Steuer seines Wagens gesetzt, um den Wagen aus der Wiese herauszufahren. Dabei habe er in seiner Rage Vollgas gegeben.

Der Versuch, das Fahrzeug freizubekommen, hatte insoweit Erfolg, daß das Fahrzeug zwar wieder auf die Straße kam, dort aber in einer leichten Rechtskurve geradeaus schoß, ein Brückengeländer durchbrach und in die Ruhr fuhr.

Der Kläger, der sich selbst befreien konnte, versteckte sich anschließend in einem nahegelegenen Schuppen, wo er erst nach einiger Zeit von einem Polizeihund augestöbert werden konnte.

Dem Kläger wurde gegen 18.05 Uhr eine Blutprobe entnommen, die einen Blutalkoholgehalt von 1,91 % ergab.

Das gegen den Kläger eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde wegen geringer Schuld eingestellt, weil nicht ohne weiteres erkennbar gewesen sei, ob es sich bei der Straße, auf der das Fahrzeug bewegt wurde, um eine öffentliche oder um eine private Straße gehandelt habe.

Die Beklagte verweigerte den Versicherungsschutz mit der Begründung, der Kläger habe den Unfall grobfahrlässig (§61 VVG) herbeigeführt.

Der Kläger wendet dagegen ein, ihm sei der Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht zu machen. Denn er habe nicht mehr vorgehabt, in alkoholisiertem Zustand selbst zu fahren. Dazu sei er nur durch die besonderen Umstände veranlaßt worden, als seine Frau den Wagen in die Wiese gefahren habe und aus eigener Kraft nicht freigekommen sei. Zu jenem Zeitpunkt sei er aber nicht mehr schuldfähig gewesen. Zum einen habe sein Blutalkoholgehalt sicherlich noch höher, bei etwa 2,3 %, gelegen als im Zeitpunkt der Entnahme der Blutprobe, zum anderen habe er im Laufe des Vormittags zwei Beruhigungsmittel eingenommen gehabt, die die Alkoholwirkung verstärkt hätten.

Schließlich sei die Auseinandersetzung mit seiner Frau hinzugekommen, die einen Affektstau verursacht habe.

Die Beklagte hält diese Einlassung für widerlegt, u.a. durch das nach ihrer Auffassung planmäßige Verhalten des Klägers nach dem Vorfall, durch das er sich polizeilichen Ermittlungen, zu entziehen versucht habe.

Das Landgericht ist der Argumentation der Beklagten gefolgt und hat die beantragte Prozeßkostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussicht verweigert, weil Schuldunfähigkeit, des Klägers nicht anzunehmen sei.

II.

Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet (§§127 II 2, 114 ZPO).

Der Kläger hat glaubhaft gemacht, nicht in der Lage zu sein, die Kosten der Prozeßführung aus eigenen Mitteln aufzubringen. Davon geht auch das Landgericht zu Recht aus.

Die Klage bietet, darüber hinaus aber auch hinreichende Erfolgsaussicht.

1.

Für den Einwand der Leistungsfreiheit wegen vorsätzlicher oder grobfahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls (§61 VVG) ist grundsätzlich der Versicherer, nicht der Versicherungsnehmer beweispflichtig (Prölss-Martin, VVG, 23. Aufl. 1984, §61 Anm. 6). Diese Beweisführung kann durch die äußeren Umstände und die Lebenserfahrung aber erleichtert sein.

Bei einem Kraftfahrer ist bei einem Blutalkoholgehalt von 1,3 %o und mehr ... grundsätzlich absolute Fahruntüchtigkeit anzunehmen. Nach den auf die Lebenserfahrung gestützten Regeln des sogenannten Anscheinsbeweises kann auch davon ausgegangen werden, daß ein im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit verursachter Unfall seine Ursache gerade in dieser Fahruntüchtigkeit gehabt hat. (Stiefel-Hofmann, Kraftfahrtversicherung, 13. Aufl. 1986, §12 AKB Rdn. 100). Insoweit bietet auch der vorliegende Sachverhalt keine Besonderheiten. Daß der Kläger absolut fahruntüchtig war, ist nicht zu bezweifeln, und der Kläger stellt ... selbst nicht in Abrede, daß es die alkoholische Beeinflussung war, die ihn daran gehindert hat, sein Fahrzeug zu beherrschen.

2.

Anders ist es mit dem Vorwurf grober Fahrlässigkeit. Zwar ist bei einem Blutalkohlgehalt von mehr als 1,3 %o in der Regel der Vorwurf groben Verschuldens gerechtfertigt, weil der Versicherungsnehmer in diesen Fällen Alkoholmengen zu sich genommen haben muß, die ihm die Gefahr der Fahruntüchtigkeit hätten aufdrängen müssen.

Der Vorwurf grober Fahrlässigkeit setzt aber auch voraus, daß der Versicherungsnehmer die Möglichkeit hätte voraussehen können und müssen, daß er in alkolholisiertem Zustand noch Auto fahren werde.

a)

Die Einlassung des Klägers, er habe nicht mehr selbst fahren wollen, wird voraussichtlich nicht zu widerlegen sein. Denn nach seiner Darstellung sollte ja seine Ehefrau ihn fahren.

Ausweislich der Ermittlungsakte haben auch der Sohn und die Schwiegertochter des Klägers, die das Geschehen beobachtet haben, die Darstellung des Klägers im wesentlichen bestätigt. Der Sohn hat bekundet, zunächst sei seine Mutter gefahren, aber wohl gegen ein Hindernis geraten, woraufhin sein Vater sich ans Steuer gesetzt habe; die Schwiegertochter hat das Rahmengeschehen bestätigt, daß es einen heftigen Streit gegeben habe. Es wird danach davon auszugehen sein, daß der Kläger den Entschluß, selbst zu fahren, erst gefaßt hat, nachdem seine Frau mit dem Wagen nicht allein wegkam.

Dann gewinnt aber, die Frage an Bedeutung, in welchem Grade der Kläger zu diesem Zeitpunkt in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt war.

Dabei wird es nicht allein, wie das Landgericht anzunehmen scheint, darauf ankommen, ob der Kläger bereits schuld unfähig war.

Vielmehr kann auch eine, erheblich verminderte Schuldfähigkeit den Vorwurf grober Fahrlässigkeit entfallen lassen. Wer in seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt ist, handelt nicht unbedingt schlechthin, unentschuldbar, wenn er seihe Fahruntüchtigkeit nicht mehr erkennt und sich - obwohl er es vorher ernsthaft nicht vorgehabt hat - dann doch noch ans Steuer setzt.

b)

Die vom Kläger aufgezeigten Umstände lassen dies hier möglich erscheinen, so daß die vom Kläger angebotenen Beweise, insbesondere der Sachverständigenbeweis, zu erheben sein werden.

Für eine zumindest erhebliche Verminderung seiner Schuldfähigkeit spricht einmal der Blutalkoholgehalt, der jedenfalls an der Grenze von 2 %o, möglicherweise auch darüber gelegen hat. Das wird für den Unfallzeitpunkt nur ein Sachverständiger klären können.

Hinzu kommt die behauptete Medikamenteneinnahme, deren Zusammenwirken mit dem Alkohol auch nur ein Sachverständiger klären kann. Schließlich muß die durch die Auseinandersetzung bedingte Erregung des Klägers berücksichtigt werden. Auch hierzu wird ein Sachverständiger Stellung nehmen müssen.

Der Sachverhalt, den der Kläger zu seiner Entlastung vorträgt, erscheint nach Aktenlage nachvollziehbar. Er bedarf der Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht, die möglich ist und zu Gunsten des Klägers ausfallen kann. Daher kann die Erfolgsaussicht der Kläger derzeit nicht verneint werden.

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