OLG Hamm, Urteil vom 23.04.1997 - 3 U 10/96
Fundstelle
openJur 2012, 76408
  • Rkr:
Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 6. September 1995 verkündete Urteil der 17. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 500.000,00 DM nebst 2 % Zinsen über dem jeweiligen Diskontsatz der Deutschen Bundesbank, mindestens jedoch 4 % seit dem 15. Juli 1989 zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeden materiellen und zukünftigen immateriellen Schaden aus dem Schadensereignis vom 25. September 1982 zu ersetzen, soweit die Ansprüche auf Ersatz materieller Schäden nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung von 820.000,00 DM abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Beide Parteien können die Sicherheitsleistung auch durch eine unbedingte und unbefristete Bürgschaft eines in der Bundesrepublik als Zoll- oder Steuerbürgen zugelassenen Kreditinstituts erbringen.

Tatbestand

Der Kläger wurde am 25. September 1982 um 1.00 Uhr als zweites Kind seiner 1953 geborenen Mutter im ..., dessen Trägerin die Beklagte ist, auf natürlichem Wege geboren. Er erhielt die APGAR-Bewertung 4-6-9. Die herbeigerufene Anaesthesistin fand ihn nach ihren Aufzeichnungen "blau, bradycard, schlaff" vor, saugte die Luftröhre ab, beatmete den Kläger zunächst mit der Maske und nahm dann für einige Minuten eine Intubation vor. Die Spontanatmung setzte dann ein, und der Zustand des Klägers verbesserte sich. Später wurde der Kläger in extubiertem Zustand in die Kinderklinik verlegt und dort um 3.20 Uhr aufgenommen. Sein Allgemeinzustand wurde als reduziert beschrieben; seine Akren seien zyanotisch gewesen.

Der Kläger ist körperlich und geistig schwer behindert. Er leidet unter einer Tetraspastik, einer ausgeprägten Athetose und einer medikamentös beherrschten Oligoepilepsie. Über eine aktive Sprache verfügt er nicht, und er kann sich nicht aktiv fortbewegen.

Der Kläger hat die Beklagte auf Zahlung eines Schmerzensgeldes und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz materieller und künftiger immaterieller Schäden in Anspruch genommen. Er hat behauptet, sein Zustand sei auf eine Sauerstoffmangelversorgung unter der Geburt zurückzuführen, die durch eine fehlerhafte ärztliche Betreuung der Geburt verursacht worden sei. Die Beklagte hat Fehler bei der Geburtsbetreuung und deren Ursache für den Gesundheitszustand des Klägers in Abrede gestellt. Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstänzlichen Parteivortrages wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß die Asphyxie des Klägers während und nach seiner Geburt zwar bei richtiger Behandlung möglicherweise vermieden worden wäre, die Ursächlichkeit dieser Asphyxie für die schweren Behinderungen des Klägers aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sei. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Berufung, mit der er sein erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und vertieft. Er beantragt,

1.

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger ein angemessenes Schermzensgeld, dessen Höhe in das Ermesen des Gerichts gestellt wird, neben 2 % Zinsen über dem jeweiligen Diskontsatz der Deutschen Bundesbank, mindestens jedoch 4 % seit dem 15.07.1989 zu zahlen;

2.

festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeden materiellen Schaden, auch soweit er in der Vergangenheit bereits entstanden ist, und den zukünftigen immateriellen Schden aus dem Schadensereignis vom 25.09.1982 zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritter übergegangen sind oder noch übergehen werden.

Die Beklagten beantragen,

1.

Die Berufung zurückzuweisen;

2.

ihnen nachzulassen, Sicherheitsleistung auch durch die Bürgschaft einer Großbank oder einer öffentlichen Sparkasse erbringen zu dürfen.

Sie verteidigen das angefochtene Urteil. Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen verwiesen.

Der Senat hat die Eltern des Klägers angehört, die Sachverständigen ... und ... zu einer Erläuterung ihrer in erster Instanz erstatteten Gutachten veranlaßt und ein ergänzenden mündliches Gutachten des Sachverständigen ... auf der Grundlage einer schriftlichen radiologischen Befundung einer kernspintomographischen Untersuchung des Klägers eingeholt. Wegen des Ergebnisses wird auf die Vermerke des Berichterstatters zu den Senatsterminen vom 14. August 1996 und 17. Februar 1997 sowie die schriftliche Befundung vom 20. Januar 1997 verwiesen.

Gründe

Die Berufung hat in der Sache Erfolg. Dem Kläger stehen gegen die Beklagte die mit der Klage verfolgten Schadensersatzansprüche aus den §§ 831, 823 Abs. 1, 847 BGB und aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten aus dem zwischen der Beklagten und der Mutter des Klägers abgeschlossenen, zugunsten des Klägers wirkenden Behandlungsvertrag zu. Dem Assistenzarzt, der die Geburt des Klägers im Krankenhaus der Beklagten betreut hat, sind dabei schuldhafte Behandlungsfehler unterlaufen. Die Beklagte hat den ihr obliegenden Nachweis dafür, daß die Schäden des Klägers nicht auf diese Fehler zurückzuführen sind, nicht erbracht.

Hinsichtlich der ärztlichen Behandlungsfehler macht sich der Senat die Feststellungen des Sachverständigen ..., an dessen Sachkunde und Erfahrung keine Zweifel bestehen, zu eigen:

Danach waren ab 0.20 Uhr die Aufzeichungen des Cardiotokogramms (CTG) wegen der schlechten Qualität des Aufzeichnungsgeräts bei externer Ableitung nicht mehr auswertbar. Darauf hätte der die Geburt betreuende Arzt mit dem Anlegen einer Kopfschwartenelektrode reagieren müssen, was unschwer möglich gewesen wäre. Hätte dies keine eindeutigen Ergebnisse erbracht, so hätte er sich durch eine Mikroblutgasanalyse, die mit einem Aufwand von wenigen Minuten hätte erstellt werden können, Gewißheit über den Zustand des Feten verschaffen müssen. Die Erkenntnisse aus diesen diagnostischen Maßnahmen hätten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine geburtshilfliche Reaktion im Sinne einer Beschleunigung, sei es durch Entbindung per Sektio, sei es durch operative Unterstützung der Geburt auf natürlichem Wege, etwa mittels Zange, geboten erscheinen lassen. Die Sauerstoffunterversorgung, der der Kläger ausweislich seines unmittelbaren postpartalen Zustandes ausgesetzt gewesen sein muß, wäre dann mit größter Wahrscheinlichkeit geringer gewesen.

Allerdings hat der Sachverständige nur mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, nicht hingegen sicher auf die Notwendigkeit einer geburtshilflichen Reaktion schließen können. Indessen geht das zulasten der Beklagten, weil es seine Erklärung eben darin findet, daß medizinisch gebotene, einfache und unschwer mögliche diagnostische Maßnahmen unterblieben sind.

Daß seine schweren Behinderungen gerade auf die durch den Behandlungsfehler verursachte Verlängerung der Sauerstoffunterversorgung zurückzuführen sind, hat der Kläger nicht bewiesen. Der Sachverständige ... hat das vielmehr bis zuletzt als eher unwahrscheinlich angesehen. Indessen kommen dem Kläger hier Beweiserleichterungen zugute; es oblag der Beklagten, nachzuweisen, daß die Ursächlichkeit ausgeschlossen oder ein Kausalzusammenhang zumindest ganz unwahrscheinlich ist. Denn der Behandlungsfehler des die Geburt betreuenden Arztes ist als im rechtlichen Sinne grob zu werten. Daß die Aufzeichnungen des hier eingesetzten Cardiotokographen unzuverlässig sein konnten und selbst chronische Unterversorgungen unter der Geburt nicht unbedingt sicher erkennbar waren, war zum Zeitpunkt des Geschehens bekannt; auf Kongressen und bei Treffen wurde darüber gesprochen. Die weiterhin erkennbare, zu rege Wehentätigkeit mußte besonders an die Möglichkeit einer Hypoxie beim Feten denken lassen. Auch die zunehmende Verfärbung des Fruchtwassers war ein Warnzeichen. All das zusammengenommen läßt es aus medizinischer Sicht als unverständlich erscheinen, daß die unschwer durchführbaren diagnostischen Maßnahmen nicht ergriffen wurden. In Übereinstimmung mit dieser Wertung hat auch der Sachverständige das Ansetzen einer Elektrode als "unbedingtes Muß" und dringend geboten bezeichnet. Einem ihm unterstellten Arzt hätte er einen sehr schweren Vorwurf gemacht und ihm bedeutet, daß das keinesfalls wieder vorkommen dürfe. Ein in diesem rechtlichen Sinne grober Behandlungsfehler rechtfertigt Beweiserleichterungen zugunsten des Patienten (Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 6. Aufl., S. 196 f., m.w.N.), hier bis zur weitgehenden Beweislastumkehr.

Den ihr obliegenden Nachweis, daß ein Kausalzusammenhang zumindest ganz unwahrscheinlich sei, hat die Beklagte nicht erbracht. Allerdings hat der neuropädiatrische Sachverständige ... einen solchen Zusammenhang zunächst sogar ausgeschlossen, weil die als "Brückensymptom" zwischen Sauerstoffunterversorgung unter der Geburt und späterer Behinderung zu fordernde schwere Encephalopathie des Grades II oder III beim Kläger nicht vorgelegen habe; er habe nur das klinische Bild einer leichten Encephalopathie des Grades I geboten. Ob, wie der Sachverständige ... meint, nach dem bisherigen Stand der Wissenschaft eine schwere "Brückensymptomatik" ausnahmslos zu fordern war, kann dahinstehen. Der dem Senat als erfahren und sachkundig bekannte Privatgutachter ... sieht schwere neurologische Ausfälle zwar als die Regel an, hält aber einen Kausalzusammenhang auch bei einem leichteren Erscheinungsbild der Encephalopathie für immerhin möglich. Darauf kommt es aber entscheidend nicht mehr an. Denn die kernspintomographische Untersuchung des Klägers, deren Befundung durch den Radiologen ... der Sachverständige ... ebenso wie die Privatgutachter ... und ... teilen, hat das Befundmuster einer schweren Asphyxie, eines ausgeprägten Sauerstoffmangels, bei einem reifen Neugeborenen ergeben. Zwar ist ein Rückschluß auf den genauen Zeitpunkt dieser Unterversorgung im Umfeld der Geburt nicht möglich. Auch nach der Auffassung des Sachverständigen ... ist aber eine Schädigung früh in der Schwangerschaft ebenso auszuschließen wie eine Anlagestörung. Mag danach die Ursächlichkeit einer Sauerstoffmangelversorgung unmittelbar vor der Geburt für das Schadensbild des Klägers aus wissenschaftlicher Sicht noch immer "eher unwahrscheinlich" sein, wie der Sachverständige ... im Senatstermin ausgeführt hat, so ist die wissenschaftliche Situation doch auch nach Auffassung dieses Sachverständigen jetzt offen, der Kausalzusammenhang nicht mehr als ausgeschlossen, nur theoretisch möglich oder ganz unwahrscheinlich anzusehen. Dies geht angesichts der Schwere des Behandlungsfehlers zu lasten der Beklagten.

Bei der Bemessung des dem Kläger zuzusprechenden Schmerzensgeldes hat der Senat folgendes berücksichtigt:

Der Kläger ist schwerst geistig behindert; er leidet unter einer Tetraspastik, einer ausgeprägten Athetose und einer Oligoepilepsie. Nach den Feststellungen des Sachverständigen ... der den Kläger am 23.11.1994 untersucht hat, verfügt er über eine aktive Sprache und keine zielgerichtete Lautierung. Die im 10. Lebensmonat gezeigte Lautbildung ist bis zu diesem Zeitpunkt, dem 13. Lebensjahr des Klägers, nicht fortentwickelt worden. Eine aktive Kontaktaufnahme zu ihm ist über die Sprache nicht möglich; hingegen spricht er gut an auf kräftige taktile und unspezifische akustische Reize. Er ist schwer obstipiert und muß jeden zweiten Tag digital ausgeräumt werden. An diesem Zustand hat sich nichts geändert. Wie die Eltern des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat glaubhaft berichtet haben, ist ihr Sohn weiter inkontinent und muß gesäubert und gefüffert werden; eine Fortentwicklung seiner körperlichen Fähigkeiten ist nicht geschehen. Er kann sich weiter nicht aus eigener Kraft fortbewegen oder auch nur aufrichten und muß im Sitzen, gegebenenfalls durch Gurte gehalten werden. In geistiger Hinsicht - auch davon hat der Senat sich überzeugen können - ist der Kläger zu einer verständlichen Artikulation nicht in der Lage, nimmt aber die Vorgänge um ihn her wahr und äußert emotionale Reaktionen.

Mit diesen schweren und schwersten Behinderungen muß der Kläger leben. Er ist in jeder Beziehung und jederzeit auf die Hilfe anderer angewiesen. Aller Voraussicht nach wird er nie allein sitzen, stehen oder gar gehen können. Er wird nie sprachlichen oder anderen gesteuerten Kontakt zu anderen Menschen haben können. Selbständiges, zielgerichtetes Handeln und die Entwicklung einer Persönlichkeit und eines unverwechselbaren Individuums bleiben ihm versagt. Insgesamt weist der Kläger körperliche und geistige Schäden auf, die nur wenig unter den denkbar schwersten bleiben. Deshalb hält der Senat zum Ausgleich dieser Behinderungen ein Schmerzensgeld von 500.000,00 DM für angemessen.

An der Zuerkennung dieses Schmerzensgeldbetrages ist der Senat nicht deshalb gehindert, weil der Kläger deutliche geringere Mindestvorstellungen geltend gemacht hat. Denn die Angabe eines Mindestbetrages oder einer Größenvorstellung zieht dem Ermessen des Gerichts bei der Festsetzung des für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes im Hinblick auf § 308 ZPO keine Grenzen (vgl. BGH NJW 1996, 2425/2427).

Der Zinsanspruch ergibt sich aus den §§ 286, 288 Abs. 2 BGB. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Das Urteil beschwert die Beklagte mit mehr als 60.000,00 DM.