BGH, Urteil vom 11.10.2011 - VI ZR 248/10
Fundstelle
openJur 2011, 117525
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 9. September 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision und der Streithelferin, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

Tatbestand

Der Kläger verlangt materiellen Schadensersatz, Schmerzensgeld und die Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten für die Folgen eines Unfalls.

Der Kläger ist bei der Streithelferin angestellter Schiffbauer. Der Beklagte ist Eigner des Binnenschiffes "MS V. ". Das Schiff lag seit 20. November 2006 zur Durchführung verschiedener Arbeiten auf der Werft der Streithelferin. Die Werft sollte u.a. einen neuen Schiffsboden aus Stahlplatten einziehen, wobei sich der Beklagte Arbeiten zur Erledigung in Eigenregie vor-1 behielt. Am 23. November 2006 gegen 8.20 Uhr versuchte der Beklagte die Luke über dem Laderaum 2 mit einem Lukendeckel zu schließen. Dabei verrutschte der Lukendeckel und fiel auf den Kläger, der etwa 3,5 m unterhalb der Lukenöffnung im Innenraum des Schiffes arbeitete. Der Beklagte macht geltend, er sei durch einen Werftarbeiter aufgefordert worden, den Deckel zu schließen, um die Arbeiter im Lagerraum vor Regen zu schützen. Der Kläger erlitt schwere Verletzungen, derentwegen die Berufsgenossenschaft Metall Nord Süd Leistungen erbringt.

Das Landgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Die Betreiberin der Werft ist mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2007, eingegangen bei Gericht am 26. Oktober 2007, auf Seiten des Klägers als Streithelferin dem Rechtsstreit beigetreten. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil des Landgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Gründe

I.

Das Berufungsgericht hat Ansprüche des Klägers gegen den Beklagten verneint, weil diesem die Haftungsprivilegierung gemäß § 106 Abs. 3 Fall 3, § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII zugutekomme. Für den Kläger handle es sich um einen gesetzlich versicherten Arbeitsunfall. Dem Beklagten komme die Haftungsfreistellung nach § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII als versichertem Unternehmer zugute. Er habe zusammen mit dem Kläger eine vorübergehende betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichtet. Bereits nach den 3 Vereinbarungen zu den Werkleistungen der Werft und den Eigenleistungen des Klägers sei nicht lediglich ein zufälliges Nebeneinander des Handelns der Parteien im Bereich des Schiffes anzunehmen. Die Eigenarbeiten des Beklagten und die Auftragsarbeiten der Werft, mithin die Arbeitstätigkeit des Klägers, seien aufeinander bezogen, miteinander verknüpft und auf gegenseitige Ergänzung ausgerichtet gewesen; so sei die Entfernung der Holzstrau, die der Beklagte in Eigenarbeit vorgenommen habe, Voraussetzung für das nachfolgende Einziehen der Stahlplatten durch die Mitarbeiter der Werft gewesen; die Tätigkeiten hätten sich mithin gegenseitig ergänzt. Auf eine vorübergehende Eingliederung in den anderen Betrieb komme es nicht an. Das Verschieben des Lukendeckels habe jedenfalls aus der Sicht des Beklagten eine Hilfeleistung für die Mitarbeiter der Werft dargestellt. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Beklagte mit dem Versetzen des Lukendeckels für die Werft bzw. für den Kläger tätig werden wollte, um die Arbeiter im Schiffsinneren vor dem einsetzenden Regen zu schützen. Ausreichend sei, dass die Arbeitsstätte des Beklagten im Einflussbereich des Unfallbetriebes liege.

II.

Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Annahme des Berufungsgerichts, dem Beklagten komme das Haftungsprivileg des § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII zugute, erweist sich als rechtsfehlerhaft.

1. Die Revision wendet sich - als ihr günstig - nicht dagegen, dass sich das Berufungsgericht zu den materiellen Haftungsvoraussetzungen gemäß § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. den §§ 249 ff. BGB nicht geäußert hat. Hierzu bestand aus Sicht des Berufungsgerichts auch keine Veranlassung. Sie rügt jedoch mit 5 Recht, dass das Berufungsgericht die Haftungsprivilegierung des Beklagten gemäß § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII bejaht hat.

a) Zwar ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Haftungsprivilegierung des § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII dem Unternehmer als Schädiger nur dann zugute kommt, wenn er im Zeitpunkt der Schädigung selbst Versicherter der gesetzlichen Unfallversicherung war (ständige Rechtsprechung vgl. Senatsurteile vom 3. Juli 2001 - VI ZR 198/00, BGHZ 148, 209, 212 f.; vom 16. Dezember 2003 - VI ZR 103/03, BGHZ 157, 213, 216; vom 25. Juni 2002 - VI ZR 279/01, VersR 2002, 1107; vom 29. Oktober 2002 - VI ZR 283/01, VersR 2003, 70, 71; vom 14. September 2004 - VI ZR 32/04, VersR 2004, 1604, 1605; vom 14. Juni 2005 - VI ZR 25/04, VersR 2005, 1397, 1398; vom 13. März 2007 - VI ZR 178/05, VersR 2007, 948 Rn. 17 und vom 17. Juni 2008 - VI ZR 257/06, BGHZ 177, 97 Rn. 11, 17). Es hat hierzu aber keine Feststellungen getroffen. Soweit die Revisionserwiderung den Beitragsbescheid für 2009 in der Anlage zur Revisionserwiderungsschrift vorgelegt hat, besagt dieser nichts für die Versicherteneigenschaft im fraglichen Zeitraum des Jahres 2006. Auf die Frage, ob der Bescheid für 2009 in der Revisionsinstanz überhaupt zu berücksichtigen ist, kommt es schon deshalb nicht an.

b) Der erkennende Senat teilt auch nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, dass es zum Unfall bei einer vorübergehenden betrieblichen Tätigkeit der Parteien auf einer gemeinsamen Betriebsstätte gekommen sei. Zwar legt das Berufungsgericht der Prüfung die zutreffende Definition der gemeinsamen Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII zugrunde. Es gibt auch zutreffend die Merkmale wieder, die nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats für die "gemeinsame" Betriebsstätte prägend sind. 7 aa) Doch lässt das Berufungsgericht außer Betracht, dass im Streitfall die Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation fehlt, die die "gemeinsame" Betriebsstätte entscheidend kennzeichnet (vgl. Senatsurteile vom 23. Januar 2001 - VI ZR 70/00, VersR 2001, 372, 373; vom 14. September 2004 - VI ZR 32/04, aaO S. 1604 f.; vom 8. Juni 2010 - VI ZR 147/09, VersR 2010, 1190 Rn. 14, 16; vom 1. Februar 2011 - VI ZR 227/09, VersR 2011, 500 Rn. 7 und vom 10. Mai 2011 - VI ZR 152/10, VersR 2011, 882 Rn. 12). Die Beurteilung, ob in einer Unfallsituation eine "gemeinsame Betriebsstätte" vorlag, muss sich auf konkrete Arbeitsvorgänge beziehen (vgl. Senatsurteil vom 1. Februar 2011 - VI ZR 227/09, aaO Rn. 7 und 9). Es kommt darauf an, dass in der konkreten Unfallsituation eine gewisse Verbindung der Tätigkeiten als solchen, die sich als bewusstes Miteinander im Betriebsablauf darstellt und im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet ist, gegeben ist. Der Haftungsausschluss nach § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII ist (nur) im Hinblick auf die zwischen den Tätigen verschiedener Unternehmen bestehende Gefahrengemeinschaft gerechtfertigt (vgl. dazu Senatsurteil vom 16. Dezember 2003 - VI ZR 103/03, aaO S. 218 mwN). Er knüpft daran an, dass eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation gegeben ist (vgl. Senatsurteile vom 23. Januar 2001 - VI ZR 70/00, aaO; vom 14. September 2004 - VI ZR 32/04, aaO; vom 8. Juni 2010 - VI ZR 147/09, aaO Rn. 14; vom 1. Februar 2011 - VI ZR 227/09, aaO und vom 10. Mai 2011 - VI ZR 152/10, aaO).

Nach den Umständen des Streitfalls ist bezogen auf den Unfallzeitpunkt ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken des Klägers mit dem Beklagten nicht gegeben. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Beklagte versuchte, einen Lukendeckel über die Luke zu fahren, während der Kläger mit dem Einbau des Stahlbodens befasst war. Selbst wenn der Beklagte 9 die Luke im Hinblick auf den einsetzenden Regen verschließen wollte, war der Kläger zur Erbringung seiner Arbeiten darauf weder angewiesen noch hingen die Werkleistungen der übrigen Mitarbeiter der Streithelferin davon ab, dass die Luke geschlossen würde. Es fehlt sowohl das notwendige Miteinander im Arbeitsablauf als auch der wechselseitige Bezug der betrieblichen Aktivitäten. Ein Zusammenwirken der Parteien im konkreten Arbeitsvorgang war zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben. Die Tätigkeit des Beklagten war nicht in einem faktischen Miteinander mit der des Klägers aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet, so dass die für eine "gemeinsame Betriebsstätte" typische Gefahr bestanden hätte, dass sich die Parteien bei den versicherten Tätigkeiten ablaufbedingt in die Quere kommen konnten (vgl. dazu Senatsurteil vom 16. Dezember 2003 - VI ZR 103/03, aaO S. 217).

bb) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wird die "gemeinsame Betriebsstätte" nicht durch vertragliche Vereinbarungen und deren Erfüllung begründet. Die vertraglichen oder sonstigen Beziehungen, die zu dem Tätigwerden der Arbeitnehmer verschiedener Unternehmen führen, spielen für die Beurteilung, ob eine gemeinsame Betriebsstätte vorliegt, keine maßgebliche Rolle. Zwar kann die notwendige Arbeitsverknüpfung im Einzelfall auch dann bestehen, wenn die von den Beschäftigten verschiedener Unternehmen vorzunehmenden Maßnahmen sich nicht sachlich ergänzen und unterstützen, die gleichzeitige Ausführung der betreffenden Arbeiten wegen der räumlichen Nähe aber eine Verständigung über den Arbeitsablauf erfordert und hierzu konkrete Absprachen getroffen werden. Das ist etwa dann der Fall, wenn ein zeitliches und örtliches Nebeneinander dieser Tätigkeiten nur bei Einhaltung von besonderen beiderseitigen Vorsichtsmaßnahmen möglich ist und die Beteiligten solche vereinbaren (vgl. Senatsurteile vom 17. Juni 2008 - VI ZR 257/06, aaO Rn. 19; vom 8. April 2003 - VI ZR 251/02, VersR 2003, 904, 905; vom 13. März 11 2007 - VI ZR 178/05, aaO Rn. 22 und vom 8. Juni 2010 - VI ZR 147/09, aaO Rn. 16 und vom 1. Februar 2011 - VI ZR 227/09, aaO Rn. 10; Senatsbeschluss vom 23. Juli 2002 - VI ZR 91/02, BGHZ 152, 7, 9). Eine solche Verständigung über ein bewusstes Nebeneinander im Arbeitsablauf hat es im Streitfall nach den getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts gerade nicht gegeben. Vielmehr verständigten sich die Streithelferin und der Beklagte über einen sukzessiven Arbeitsablauf. Der Beklagte war in den Ablauf der Werftarbeiten nicht eingebunden, daran beteiligt oder auch nur davon berührt. Eine Gefahr, dass der Kläger bei seinen Tätigkeiten dem Beklagten einen Schaden zufügen könnte, war wegen des fehlenden Miteinanders des Arbeitsablaufs rein theoretischer Natur. Dies reicht nicht aus, um die für eine gemeinsame Betriebsstätte erforderliche typische Gefahrengemeinschaft anzunehmen (vgl. Senatsurteil vom 8. Juni 2010 - VI ZR 147/09, aaO).

3. Das Berufungsurteil war nach alledem aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Das Berufungsgericht erhält damit Gelegenheit, dem Vortrag des Beklagten nachzugehen, dass das Verschieben des Lukendeckels aus seiner Sicht eine Hilfeleistung für die Arbeiter der Streithelferin war. Hätte der Beklagte ausschließlich im Interesse der Streithelferin deren Beschäftigten Hilfe geleistet, wäre zu prüfen, ob er im Zeitpunkt des Unfalls "wie ein Beschäftigter" der Streithelferin tätig und mithin gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII Versicherter der gesetzlichen Unfallversicherung im Unternehmen der Streithelferin war (vgl. Senatsurteil vom 23. März 2004 - VI ZR 160/03, VersR 2004, 1045, 1046 f.). Auf der Grundlage 12 der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts kann dies nicht beurteilt und eine daraus etwa folgende Haftungsprivilegierung nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII nicht ausgeschlossen werden.

Galke Zoll Diederichsen Pauge von Pentz Vorinstanzen:

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