LG Erfurt, Beschluss vom 13.01.2022 - 8 O 1463/20
Fundstelle
openJur 2022, 1248
  • Rkr:
Rubrum

Beschluss

zur Vorlage an den

Europäischen Gerichtshof

In dem Rechtsstreit

...

- Kläger -

Prozessbevollmächtigte: ...

gegen

...

- Beklagte -

Prozessbevollmächtigte: ...

wegen Rückabwicklung nach Widerruf einer Lebens-/Rentenversicherung

hat die 8. Zivilkammer des Landgerichts Erfurt durch

Richter am Landgericht ...

als Einzelrichter am 13.01.2022

beschlossen:

Tenor

I. Das Verfahren wird ausgesetzt.

II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:

1. Steht das Unionsrecht, insbesondere Artikel 15 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung, Artikel 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung und Artikel 35 Absatz 1 der Richtlinie 2002/83, ggf. in Verbindung mit Artikel 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, einer nationalen Regelung oder Rechtsprechung entgegen, wonach dem Versicherungsnehmer - nach berechtigter Ausübung seines Rechts zum Widerruf - zur Bezifferung der durch die Versicherung selbst gezogenen Nutzungen die Darlegungs- und Beweislast auferlegt wird? Verlangt das Unionsrecht, vor allem der Effektivitätsgrundsatz, bei Zulässigkeit einer solchermaßen verteilten Darlegungs- und Beweislast, dass dem Versicherungsnehmer im Gegenzug Auskunftsansprüche gegen den Versicherer oder sonstige Erleichterungen zustehen, um ihm die Durchsetzung seiner Ansprüche zu ermöglichen?

2. Ist es einem Versicherer, der dem Versicherungsnehmer entweder keine oder nur eine fehlerhafte Belehrung über dessen Widerrufsrecht erteilt hat, untersagt, sich gegenüber den sich hieraus ergebenden Rechten des Versicherungsnehmers, wie insbesondere dem Widerrufsrecht, auf Verwirkung, Rechtsmissbrauch oder Zeitablauf zu berufen?

3. Ist es einem Versicherer, der dem Versicherungsnehmer keine oder nur unvollständige oder fehlerhafte Verbraucherinformationen übermittelt hat, untersagt, sich gegenüber den sich hieraus ergebenden Rechten des Versicherungsnehmers, wie insbesondere dem Widerrufsrecht, auf Verwirkung, Rechtsmissbrauch oder Zeitablauf zu berufen?

Gründe

A. Sachverhalt und Ausgangsverfahren

Die Parteien - Versicherungsnehmer und Versicherer - streiten um die vollständige Rückabwicklung eines Versicherungsvertrages, der im sogenannten Antragsmodell eingegangen wurde.

Der Kläger schloss mit der beklagten Versicherung im Jahr 2008 eine fondsgebundene Rentenversicherung ab. Dabei wurden ihm Verbraucherinformationen mit der Antragstellung überreicht. Einzelheiten sind streitig.

Der Kläger erklärte im Jahr 2020 den Widerruf nach § 8 VVG alter Fassung. Er beruft sich darauf, dass die Belehrung über das Widerrufsrecht formell und inhaltlich fehlerhaft war. Zudem stützt er seinen Widerruf darauf, dass notwendige Verbraucherinformationen fehlten oder unvollständig waren.

Der Kläger verlangt - aus ungerechtfertigter Bereicherung - im Wesentlichen die Rückzahlung zwischenzeitlich gezahlter Prämien sowie die Herausgabe von Nutzungen, die der Versicherer aus seinen Beiträgen gezogen und erwirtschaftet hat. Zur Berechnung des Nutzungsersatzes fordert der Kläger detaillierte Auskünfte der Beklagten, etwa zur Aufteilung der von ihm gezahlten Prämien auf einzelne Bestandteile wie Verwaltungskosten, Abschlusskosten, Risikokosten oder Sparbetrag, oder zum konkreten Einsatz der Prämien.

Die beklagte Versicherung geht sowohl von einer ordnungsgemäßen Widerrufsbelehrung als auch von der Übergabe sämtlicher wesentlichen Verbraucherinformationen aus. Die vom Kläger geltend gemachten Auskunftsansprüche wehrt sie allesamt ab. Im Übrigen beruft sich die Versicherung auf Verwirkung oder Rechtsmissbrauch im Sinne des § 242 BGB. Der Vertrag sei über einen Zeitraum von zwölf Jahren beanstandungslos durchgeführt worden. Nach spätestens zehn Jahren müsse Rechtsfrieden einkehren. So sei nach deutschem Recht selbst bei einer Anfechtung wegen arglistiger Täuschung eine - kenntnisunabhängige - Frist von zehn Jahren vorgesehen.

Zwischen den Parteien steht hierbei im Streit, ob die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur Verwirkung und zum Rechtsmissbrauch bei einem Widerruf von Verbraucherdarlehen auf das Versicherungsrecht übertragbar ist.

B. Rechtlicher Rahmen

Die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebenden und bei Vertragsschluss geltenden Bestimmungen des deutschen Rechts lauten:

§ 8 Gesetz über den Versicherungsvertrag (VVG) alter Fassung

(1) Der Versicherungsnehmer kann seine Vertragserklärung innerhalb von zwei Wochen widerrufen. Der Widerruf ist in Textform gegenüber dem Versicherer zu erklären und muss keine Begründung enthalten; zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung.

(2) Die Widerrufsfrist beginnt zu dem Zeitpunkt, zu dem folgende Unterlagen dem Versicherungsnehmer in Textform zugegangen sind:

1. der Versicherungsschein und die Vertragsbestimmungen einschließlich der Allgemeinen Versicherungsbedingungen sowie die weiteren Informationen nach § 7 Abs. 1 und 2 und

2. eine deutlich gestaltete Belehrung über das Widerrufsrecht und über die Rechtsfolgen des Widerrufs, die dem Versicherungsnehmer seine Rechte entsprechend den Erfordernissen des eingesetzten Kommunikationsmittels deutlich macht und die den Namen und die Anschrift desjenigen, gegenüber dem der Widerruf zu erklären ist, sowie einen Hinweis auf den Fristbeginn und auf die Regelungen des Absatzes 1 Satz 2 enthält.

Die Belehrung genügt den Anforderungen des Satzes 1 Nr. 2, wenn das vom Bundesministerium der Justiz auf Grund einer Rechtsverordnung nach Absatz 5 veröffentlichte Muster verwendet wird. Der Nachweis über den Zugang der Unterlagen nach Satz 1 obliegt dem Versicherer.

§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) Leistung nach Treu und Glauben

Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

C. Entscheidungserheblichkeit und Hintergrund der Vorlagefragen

Im Mittelpunkt dieser Vorlage steht, ob und in welchem Maße die nationalen Regeln oder eine Rechtsprechung - Law in Books und Law in Action - die Ausübung und Durchsetzung von Rechten des Versicherungsnehmers hindern oder vereiteln dürfen, oder ob dem Versicherungsnehmer bei der Durchsetzung seiner Ansprüche Auskunftsansprüche oder andere Erleichterungen gegen den Versicherer zukommen. Insbesondere ist zu klären, welchen Grenzen die Ausübung von Verbraucherrechten im Versicherungsrecht unterworfen werden kann. Kann sich eine Versicherung auch dann auf Verwirkung, Rechtsmissbrauch oder Zeitablauf berufen, wenn eine Belehrung zum Widerrufsrecht mangelhaft war oder notwendige Verbraucherinformationen fehlten?

Soweit zwischen den Parteien im Detail streitig ist, ob die Widerrufsbelehrung formal und inhaltlich ordnungsgemäß war oder ob sämtliche notwendigen Verbraucherinformationen erteilt wurden, sind diese spezifischen Fragen nicht Gegenstand der Vorlage an den Gerichtshof. Es handelt sich nämlich nicht vorrangig um eine Auslegungsproblematik ("interpretation"), vielmehr um die bloße, den nationalen Gerichten - als Unionsgerichten - obliegende Anwendung geltenden Rechts ("application"). Insoweit liegt bereits wegweisende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes wie des Bundesgerichtshofes vor, so dass diese Fragen im Instanzenzug geklärt werden können (s. nur EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019, C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, ECLI:EU:C:2019:1123; s. weiter die umfassenden Schlussanträge von Generalanwalt Bobek vom 2. September 2021, C-143/20 und C-213/20, ECLI:EU:C:2021:687).

1. Zur ersten Vorlagefrage

Zunächst stellt sich die entscheidungserhebliche Frage, ob und welche Darlegungs- und Beweislast ein Verbraucher trägt, um berechtigte Ansprüche auf Rückabwicklung eines nicht zustande gekommenen Versicherungsvertrages vor Gericht durchzusetzen. Stehen ihm hinsichtlich der Nutzungen, die die Versicherung aus den gezahlten Prämien tatsächlich gezogen hat, ggf. Auskunftsansprüche gegen den Versicherer zu?

a) Im Bereich der Lebensversicherung erfolgte keine Vollharmonisierung. Es liegt mithin in der Hand der Mitgliedstaaten, Umfang und Grenzen der Ansprüche des Versicherungsnehmers nach erfolgreichem Widerruf zu bestimmen. Dabei haben sie die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität zu wahren.

Nach deutschem Recht stehen dem Versicherungsnehmer die bereits gezahlten Prämien, abzüglich eines geringfügigen Risikoanteils, sowie Nutzungsersatz zu. Der mit dem Geld des Versicherungsnehmers wirtschaftende Versicherer hat somit die Erträge abzuführen.

Dies ist nach Unionsrecht zulässig, anders als - dort aufgrund einer Nutzungsersatz nicht vorsehenden Vollharmonisierung - nach einem Widerruf von Darlehensverträgen (s. für jenen Fall EuGH, Urteil vom 4. Juni 2020, C-301/18, ECLI:EU:C:2020:427).

Es gilt, einen fairen und angemessenen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Versicherungsnehmer, den Belangen der Versichertengemeinschaft und den berechtigten Interessen der Versicherer wie der Versicherungswirtschaft zu treffen. Es steht auf dem Prüfstand, ob dies in Deutschland mit Blick auf den Nutzungsersatz gelungen ist.

b) Der ständigen und gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zufolge trägt der Versicherungsnehmer die Darlegungs- und Beweislast, um die von der Versicherung aus seinen Beiträgen tatsächlich erlangten Nutzungen heraus zu verlangen. Danach muss der Versicherungsnehmer Anfall und Höhe der tatsächlich gezogenen Nutzungen schlüssig darlegen und ggf. beweisen. Dabei hat er auf die konkrete Ertragslage des verklagten Versicherers Bezug zu nehmen (zusammenfassend BGH, Urteil vom 29. April 2020 – IV ZR 5/19, ECLI:DE:BGH:2020:290420UIVZR5.19.0, Rn. 16).

Der Bundesgerichtshof hat im Laufe der Jahre mehrere Berechnungsweisen sowie Methoden von klagenden Verbrauchern - zur geforderten eigenständigen Ermittlung des Nutzungsersatzes - verworfen.

Die von der deutschen Rechtsprechung aufgestellten Maßstäbe verlangen dem Versicherungsnehmer umfängliche Recherchen und umfassenden Tatsachenvortrag ab. Der Verbraucher soll nämlich aus den Mitteilungen seines Versicherers oder aus öffentlich zugänglichen Quellen, wie aus veröffentlichten Geschäftsberichten des Versicherers, dessen Ertragslage und zum Beispiel Fondsgewinne und die "Performance" eines Fonds ermitteln und sodann seiner Klage zugrunde legen (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2015 – IV ZR 513/14, Rn. 50; Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 31. Juli 2020 – 4 U 1245/19, Rn. 67 ff.). Damit sind Versicherungsnehmer offensichtlich vielfach überfordert. Es steht die Vermutung im Raum, dass sie deswegen ihre Rechte nicht geltend machen.

Daher bestehen erhebliche Zweifel, ob diese Rechtspraxis mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist (vgl. zur Beweislast mit Blick auf missbräuchliche Klauseln EuGH, Urteil vom 10. Juni 2021, C-776/19 bis C-782/19, ECLI:EU:C:2021:470). Es dürfte die Ausübung der dem Versicherungsnehmer durch die verbraucherschützenden Richtlinien, insbesondere zur Lebensversicherung, verliehenen Rechte übermäßig erschweren, wenn ihm die Darlegungs- und Beweislast zu Nutzungen auferlegt wird.

Der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz führt jedenfalls dann, wenn der Verbraucher oder allgemein der nach Unionsrecht Berechtigte in Beweisnot ist, weil die relevanten Informationen für ihn nicht oder nur erschwert erreichbar sind, zu Beweiserleichterungen bis hin zu einer Beweislastumkehr (s. auch EuGH, Urteil vom 4. Juni 2015, C-497/13, ECLI:EU:C:2015:357). Die klassischen Mechanismen des Zivilprozessrechts, die auf eine formale Gleichheit der Parteien und den Grundsatz actori incumbit probatio gestützt sind, erweisen sich vorliegend als unzureichend für die wirksame und erfolgreiche Durchsetzung von Ansprüchen des Verbrauchers. Schließlich darf nicht verkannt werden, dass der Verbraucher mit dem Widerruf von einem Recht Gebrauch macht, das einen Verstoß seines Versicherers voraussetzt. Daher könnte auch der Sanktionsgedanke von Bedeutung sein.

c) Falls die Darlegungs- und Beweislast gleichwohl beim Verbraucher liegt, stehen diesem dann - zum Ausgleich - Auskunftsansprüche oder sonstige Erleichterungen gegen seinen Versicherer zu?

Es entspricht einer allgemeinen Tendenz des Unionsrechtes, dass Beweismittel - im Sinne von disclosure - von der Gegenseite offengelegt werden müssen. Dies gilt etwa im Kartellrecht oder Immaterialgüterrecht (s. auch Art. 18 der Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher (EU) 2020/1828).

Ein Auskunftsanspruch des Versicherungsnehmers gegen den Versicherer könnte sich aus Art. 31 Absatz 1 und dem Anhang der Dritten Richtlinie Lebensversicherung ergeben. Generalanwältin Sharpston war der Ansicht, bei einer Lebensversicherung mit Kapitalanlagekomponente, bei der die Höhe der Versicherungsleistung von der Verwendung der Prämie durch den Versicherer abhängt, sei der Versicherer verpflichtet, dem Versicherungsnehmer vor Vertragsschluss zur besseren Entscheidungsfindung - im Fall von Vertragsänderungen auch während der Vertragslaufzeit - anzugeben, für welche Zwecke seine Prämie in absoluten Beträgen oder Prozentsätzen verwendet würde. Zumindest sei der Versicherungsnehmer über die einschlägigen Kriterien aufzuklären (Schlussanträge vom 12. April 2014, C 51/13, ECLI:EU:C:2014:1921).

Wenn der Versicherer schon vorvertraglich - soweit möglich - über die konkrete Verwendung der Prämienzahlungen in absoluten Zahlen oder Prozentsätzen aufzuklären hat, so könnte er erst recht nachvertraglich, wenn tatsächlich Nutzungen aus diesem Prämienbetrag gezogen wurden, über die konkrete Verwendung der Prämie aufzuklären haben, um eine umfassende Rückabwicklung des Versicherungsvertrages zu ermöglichen.

2. Zur zweiten und dritten Vorlagefrage

Wenn sich ein Recht zum Widerruf daraus ergibt, dass die Belehrung fehlte oder fehlerhaft war oder es an unionsrechtlich erforderlichen Verbraucherinformationen mangelte, greifen in Deutschland in zahlreichen Fällen Versicherer und Gerichte auf die Gesichtspunkte von Verwirkung und Rechtsmissbrauch zurück, um eine Rückabwicklung oder Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter Informationen abzulehnen (kritisch zu diesem deutschen Sonderweg Knops, RabelsZ 2021, 505 ff.).

Der Bundesgerichtshof hält selbst bei einer fehlenden, zumeist aber bei fehlerhaften Widerrufsbelehrungen die Geltendmachung des Widerrufsrechts dann für unzulässig, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen (s. jüngst BGH, Beschluss vom 8. September 2021 - IV ZR 133/20, ECLI:DE:BGH:2021:080921BIVZR133.20.0, Rn. 17; s. auch BGH, Urteil vom 10. Februar 2021 - IV ZR 32/20, ECLI:DE:BGH:2021:100221UIVZR32.20.0, Rn. 17 f.). Gleiches gilt bei fehlender oder fehlerhafter Verbraucherinformation. Die Instanzgerichte nehmen einen solchen Ausnahmefall in recht großzügiger Weise an.

Der Bundesgerichtshof lässt es offenbar genügen, dass das Verhalten des Versicherungsnehmers objektiv widersprüchlich ist: Die ihm eingeräumte und bekannt gemachte Widerrufsfrist lasse der Versicherungsnehmer bei Vertragsschluss ungenutzt verstreichen und zahle regelmäßig die vereinbarten Versicherungsprämien. Mit diesem im eigenen Interesse begründeten und über lange Zeit fortgeführten Verhalten setze sich der Versicherungsnehmer in Widerspruch, wenn er später geltend mache, ein Vertrag habe nie bestanden, und von der Versicherung, die auf den Bestand des Vertrages habe vertrauen dürfen, Rückzahlung seiner Beiträge verlange. Für den Einwand des Rechtsmissbrauchs seien jedenfalls weder unredliche Absichten noch ein Verschulden des Versicherungsnehmers erforderlich. Durch das Verhalten des Rechtsinhabers müsse nur ein ihm erkennbares, schutzwürdiges Vertrauen der Gegenseite auf eine bestimmte Sach- oder Rechtslage hervorgerufen worden sein.

Dieser Rekurs des Bundesgerichtshofes auf den Topos von Treu und Glauben, § 242 BGB, erscheint allerdings im Lichte des - zwingenden und vorrangigen - Unionsrechtes und der maßgeblichen Judikatur des Luxemburger Gerichtshofes problematisch (s. zu den unionsrechtlichen Voraussetzungen des Rechtsmissbrauchseinwands Knops, RabelsZ 2021, 505 ff.).

Der Einwand des Rechtsmissbrauchs unterliegt danach engen Grenzen und bedarf besonderer Rechtfertigung. Der Gerichtshof verlangt in ständiger Rechtsprechung, dass in der Regel ein subjektives Element hinzukommen muss, um einen Rechtsmissbrauch zu bejahen (vgl. zu Verjährungsfristen EuGH, Urteil vom 10. Juni 2021, C-776/19 bis C-782/19, ECLI:EU:C:2021:470, Rn. 46; s. weiter EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019, C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, ECLI:EU:C:2019:1123, Rn. 69 ff.; s. auch EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2013, C-209/12, EU:C:2013:864, Rn. 27).

Mithin muss der Verbraucher um seine Rechte wissen, was vorliegend gerade nicht der Fall war. Im Interesse des Verbraucherschutzes scheidet eine Beschränkung der Verbraucherrechte aus (vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021, C-33/20, C-155/20 und C-187/20, ECLI:EU:C:2021:736).

Für eine solche verbraucherschutzorientierte Sichtweise spricht auch Art. 38 GRC, der hier zumindest eine Vorwirkung entfaltet. In Art. 38 GRC wird der Grundsatz verankert, dass die Politik der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherstellt. Damit geht ein Optimierungsgebot einher. Der Geltungsbereich der Grundrechtecharta - als supreme law of the land und living instrument - ist vorliegend eröffnet, d. h. sie bindet und verpflichtet die Europäische Union sowie deren Mitgliedstaaten (Art. 51 Abs. 1 GRC). Die Anwendbarkeit des Unionsrechts - hier des europaweit determinierten Versicherungsrechts - umfasst und bedingt die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105, Rn. 21).

Zudem dürfte die aktuelle Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Verwirkung und zum Rechtsmissbrauch bei einem Widerruf von Verbraucherdarlehen in ihren Grundaussagen auf das Versicherungsrecht übertragbar sein (siehe zu den Einzelheiten EuGH, Urteil vom 9. September 2021, C-33/20, C-155/20 und C-187/20, ECLI:EU:C:2021:736).

Der Gerichtshof hat entschieden, dass es einem Kreditgeber verwehrt ist, sich gegenüber der Ausübung des Widerrufsrechts durch einen Verbraucher auf den Einwand der Verwirkung zu berufen, wenn eine nach der betreffenden Richtlinie zwingende Angabe weder im Kreditvertrag enthalten noch nachträglich ordnungsgemäß mitgeteilt worden ist, unabhängig davon, ob der Verbraucher von seinem Widerrufsrecht Kenntnis hatte, ohne dass er diese Unkenntnis zu vertreten hat. Das gleiche gilt für die Berufung auf Rechtsmissbrauch.

Es ist kein überzeugender Grund dafür ersichtlich, dass diese Rechtsprechung nicht auch für das Versicherungsrecht gelten sollte.

Abschließend wird auf die vergleichbare Vorlage des Landgerichts Erfurt vom 30. Dezember 2021 (Az.: 8 O 1519/20 bzw. C-2/22) - zum Policenmodell wie zu den Problemata Verwirkung und Rechtsmissbrauch - hingewiesen.