VG Freiburg, Urteil vom 22.09.2021 - A 14 K 1088/19
Fundstelle
openJur 2021, 33478
  • Rkr:

Anerkannt schutzberechtigte Personen dürfen derzeit ganz grundsätzlich nicht nach Bulgarien zurückgeführt werden. Ihnen droht im Falle der Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh in Form von Obdachlosigkeit und Verelendung. Dies gilt jedenfalls für eine Frau ohne Schul- und Berufsausbildung, die für ihren erwachsenen Sohn sorgt, der mit dem Down-Syndrom geboren ist und aufgrund seiner geistigen Behinderung und Unfähigkeit, die einfachsten Alltagsverrichtungen ohne Hilfe vorzunehmen, lebenslang auf die Hilfe angewiesen ist.

Tenor

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 01.03.2019 wird mit Ausnahme von Nr. 3 Satz 4 aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrages als unzulässig.

Die Klägerin reiste nach ihren Angaben am 09.04.2018 über die Türkei, Bulgarien und über Ungarn und Österreich auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Sie gab an, am xx.1967 in Hasaka geborene syrische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens sunnitischer Prägung zu sein. Sie stellte am 15.05.2018 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.

Bei ihrer persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 17.05.2018 gab die Klägerin ausweislich des in den Akten befindlichen Protokolls an, Syrien Anfang 2017 verlassen zu haben. Sie sei Analphabetin und verwitwet, habe mit ihren Kindern in dem Dorf x Saadi gelebt, sei dann zwei Jahre vor der Ausreise nach x gegangen. Sie seien ausgereist, weil es in Syrien Krieg gibt und keine Sicherheit. Ihre Kinder würden von allen Seiten verfolgt, alle würden sie rekrutieren wollen, dabei sei ihr Sohn Lxx schon zweimal von Milizen entführt, ihr Sohn Kxx sei 2015 verschwunden und Anfang 2018 in ihrer Abwesenheit wieder aufgetaucht, offensichtlich traumatisiert. Ihr Neffe Axx sei umgebracht worden. Ihr Sohn Hxx sei behindert. Alle ihre Kinder, zwei Töchter und neben Hxx drei weitere Söhne würden in Deutschland leben, mit Ausnahme des Sohnes Kxx aufgrund seiner Entführung. Ihr Sohn habe das Down-Syndrom und einen Herzfehler, er könne nicht reden und sei auf ihre Hilfe angewiesen.

In Bulgarien sei sie gezwungen worden, Fingerabdrücke abzugeben, einen Asylantrag habe sie nicht gestellt. Ihr Sohn Axx habe aber von Deutschland aus einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt, wegen der Krankheit ihres Sohnes Hxx. Der Antrag sei in Bulgarien mit der Begründung abgelehnt worden, Hxx sei gesund. Sie hätten versucht, Bulgarien zu verlassen, seien aber an der Grenze von Grenzpolizei aufgegriffen und böse behandelt worden. Ihr behindertes Kind sei geschlagen worden, ihre Tochter habe sich auf ihn geworfen, um ihn zu beschützen. Er habe dabei einen Schock erlitten. Sie selbst sei an den Händen festgehalten worden und habe zusehen müssen, wie ihr Sohn geschlagen wurde, ohne ihm helfen zu könnten. Sie habe richtig Angst gehabt. Sie seien dann ins Camp zurückgebracht und bedroht worden, bei einem erneuten Versuch, das Land zu verlassen, eine Haftstrafe zu erhalten.

Das Bundesamt stellte fest, dass der Klägerin nach Mitteilung der bulgarischen Behörden vom 23.05.2018 in Bulgarien im Rahmen des Asylverfahrens am 04.10.2017 subsidiärer Schutz gewährt worden sei.

Mit Bescheid vom 01.03.2019, am 06.03.2019 zugestellt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Klägerin wurde ferner aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eine Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen; bei Nichteinhaltung der Frist wurde ihr die Abschiebung nach Bulgarien oder einen anderen Staat, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 3). Nach Nr. 3 Satz 4 darf die Klägerin nicht in ihr Herkunftsland Syrien abgeschoben werden. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Nr. 5).

Am 13.03.2019 hat die Klägerin Klage beim Verwaltungsgericht Freiburg erhoben. Die Klägerin nahm zur Begründung auf die beim Bundesamt gemachten Angaben Bezug und wies ergänzend darauf hin, dass sie auch in ihrem Heimatland als Analphabetin niemals berufstätig, sondern nur Hausfrau gewesen sei. Ihr drohe aufgrund der aktuellen grundlegenden Defizite im Hinblick auf die Aufnahmebedingungen in Bulgarien dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Angesichts ihres Alters, ihrer mangelnden Sprachkenntnisse, ihrer fehlenden beruflichen Qualifikation und Erfahrung sei sie nicht in der Lage, in Bulgarien eigenständig ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ausweislich des ärztlichen Attests des HNO-Arztes xx vom 26.04.2019 leide sie an einer chronischen Mittelohrentzündung mit Trommelfellperforation und höre sei fünf Monaten auf dem rechten Ohr nichts.

Die Klägerin beantragt schriftlich,

den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 01.03.2019 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Auf den Hinweis des Gerichts vom 08.06.2021, dass die Klägerin der Gruppe der vulnerablen Personen angehören dürfte und daher eine Abhilfe in Erwägung zu ziehen ist, hat die Beklagte nicht geantwortet.

Die Klägerin hat sich mit Schreiben vom 11.08.2021 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt, ebenso die Beklagte gemäß ihrer weiterhin geltenden allgemeinen Prozesserklärung vom 27.06.2017.

Dem Gericht liegen die einschlägigen Akten des Bundesamts vor. Diese Akten werden ebenso wie die beigezogenen Akten der Tochter Sxx (A 14 K 5002/18), sowie der Söhne Hxx (A 14 K 4348/19) und Lxx (A 14 K 2297/20) sowie die Erkenntnismittel, die in der mit dem Schreiben vom 08.06.2021 mitgeteilten und auf der Homepage des VGH Mannheim veröffentlichten und jeweils aktualisierten Liste (Bulgarien, Quartal 3 - 2021) aufgeführt sind, zum Gegenstand der Entscheidung gemacht.

Hierauf sowie auf die Gerichtsakte und die gewechselten Schriftsätze wird wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis gegeben haben (§ 87 a Abs. 2 und 3 sowie § 101 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte hat bereits mit ihrer damaligen allgemeinen Prozesserklärung vom 27.06.2017 rechtswirksam den Verzicht auf mündliche Verhandlung erklärt. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung ist eine grundsätzlich unwiderrufliche Prozesshandlung (BVerwG, Beschluss vom 13.12.2013 - 6 BN 3.13 - Rn. 8 ff.; Beschluss vom 04.06.2014 - 5 B 11.14 - Rn. 11), daher hat die am 23.12.2020 erklärte Aufhebung der allgemeinen Prozesserklärung keine Auswirkung auf die für dieses Verfahren rechtswirksame Verzichtserklärung.

I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2017 - 1 C 9.17 - NVwZ 2017, 1625).

II. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin mit Ausnahme von Nr. 3 Satz 4 in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).  Für die in Ziff. 3 Satz 4 getroffene Feststellung, wonach die Abschiebung der Klägerin nach Syrien unzulässig sei, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, denn sie verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

1. Zum entscheidungsrelevanten Zeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) liegen die Voraussetzungen für eine Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht vor.

a) Nach dieser Norm ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.

Dies könnte zwar vorliegend der Fall sein, da Bulgarien der Klägerin tatsächlich mit der Zuerkennung subsidiären Schutzes am 04.10.2017 internationalen Schutz gewährt hat.

Dem steht nicht der Vortrag der Klägerin entgegen, dass sie zur Abgabe von Fingerabdrücken - und damit Stellung des Asylantrages - gezwungen worden war, einen Asylantrag habe sie bewusst nicht gestellt. Damit fehlt es zwar - den Vortrag als wahr unterstellt - an einem mit Wissen und Wollen gestellten Asylantrag. Die Klägerin muss sich dennoch so behandeln lassen, als hätte sie willentlich Asyl in Bulgarien beantragt, denn ihr Recht zum Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Union ergibt sich allein daraus, dass sie Asyl begehrt. Ihr Wille, in einem bestimmten Mitgliedstaat der Union Asyl beantragen zu wollen, ist dabei nach den unionsrechtlichen Regelungen zur Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz nicht beachtlich (Verordnung EU Nr. 604/2013). Vielmehr ergibt sich hinsichtlich der Prüfung eines Asylantrages die Zuständigkeit des ersten Mitgliedsstaats der Union, den der Asylantragsteller erreicht hat, aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO, diesen Mitgliedstaat treffen sodann die Pflichten aus Art. 18 Dublin III-VO. Daher wäre auch bei einer Antragstellung erst in Deutschland Bulgarien der für die Prüfung des Asylantrags zuständige Mitgliedstaat.

b) Die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist vorliegend deshalb ausgeschlossen, weil der Klägerin in Bulgarien ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK drohen würde. So ist es nicht (erst) im Rahmen eines Abschiebungsverbots zu prüfen, sondern es darf bereits keine Ablehnung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfolgen, wenn eine ernsthafte Gefahr besteht, dass die Lebensverhältnisse in dem anderen Mitgliedstaat den Betroffenen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh aussetzen würden (vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 - C-540/17, C-541/17, NvwZ 2020, 137, 137 f., Tenor und Rn. 34 ff. - Hamed und Omar; BVerwG, Urteil vom 21.04.2020 - 1 C 4.19, Rn. 36 über juris).

Dabei gilt nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Kontext des gemeinsamen europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 und der EMRK steht.aa) Der EuGH (hierzu und zum Folgenden: Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 - Jawo, Rn. 87 f.; Urteil vom 19.03.2019 - C-297/17 u. a. - Ibrahim, Rn. 86 f.) hat nunmehr geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach der Dublin III-Verordnung zulässig ist. Diese Maßgaben sind auch auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Danach darf das nationale Gericht die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta und Art. 3 EMRK nur annehmen, wenn es auf einer entsprechenden Tatsachengrundlage feststellt, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist dagegen selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Die Feststellung des Fehlens von Formen familiärer Solidarität oder von Mängeln bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten vermögen keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass im Fall der Überstellung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta bestünde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.2019 - A 4 S 1329/19).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dabei für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten gesehen, weil sich diese durch die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31 S. 18) (heute: Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [ABl. L 180 S. 96]) zur Gewährleistung bestimmter Minimalstandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet haben. Bei diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis können schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erfüllen, wenn die Betroffenen - in einem vollständig fremden Umfeld - vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit und Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland - juris Rn. 250 ff.; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 24).

Diese Rechtsprechung ist auf international Schutzberechtigte zu übertragen, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Anerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 -1 B 25.18 - juris Ls. 1 und Rn. 11). Auch für diesen Personenkreis ergibt sich eine gesteigerte Schutzpflicht der EU-Mitgliedstaaten, der sie sich in Gestalt der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) unterworfen haben. Auch bei ihnen kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht sein, wenn sie ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Dabei bedarf es der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2020, 1 C 4.19, juris, Rn. 36-38; VG Freiburg, Urteil vom 05.11.2020, A 1 K 3022/20).

bb) Hinsichtlich Bulgarien ist festzustellen, dass dort Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden Einzelnen, in Abhängigkeit von seiner konkreten, persönlichen Situation, insbesondere bei besonderer Vulnerabilität, das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein. Diese Einschätzung wird in jüngster Zeit von einigen Verwaltungsgerichten geteilt (so etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19 für eine Familie mit Kindern; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17 für Vulnerable; auch für arbeitsfähige junge Männer VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, VG Oldenburg, Urteil vom 29.04.2020, 12 A 6134/17, und VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19; anders z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20; VG Bayreuth, Beschluss vom 10.02.2021, B 7 K 20.31318 und VG Freiburg, Urteil vom 24.02.2020, A 7 K 5400/18).

Die Situation für anerkannte Schutzberechtigte - wie die Klägerin - stellt sich in Bulgarien in dem Kontext des dortigen Asylsystems derzeit wie folgt dar:

cc) Anerkannt Schutzberechtigte sehen sich in Bulgarien einer Situation gegenüber, die man als aussichtslos (wie das VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25) oder auch als prekär bezeichnen kann (Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Bulgarien: Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, nachfolgend: Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21).

2020 war ein weiteres Jahr der "Null-Integration". Dies bedeutet, dass auch im letzten Jahr keine staatlichen Unterstützungsprogramme für die Integration internationaler Schutzberechtigter durchgeführt worden sind (vgl. AIDA 2021, S. 78). Es gibt zwar nach dem Auslaufen des nationalen Integrationsprogramms im Jahr 2013 seit dem 19.07.2017 eine Integrationsverordnung, die den Abschluss von Integrationsvereinbarungen zwischen anerkannten Berechtigten und den Bürgermeistern von Gemeinden zu allen wichtigen Lebensbereichen wie z.B. Unterkunft, Sprachkurse und Schule vorsieht. Diese Integrationsverordnung ist jedoch in der Praxis völlig wirkungslos, denn Kommunen haben Vorbehalte, derartige Integrationsvereinbarungen abzuschließen (Bordermonitoring, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, nachfolgend: Bordermonitoring 2020, S. 73 ff.; die sachverständige bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva, Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien, Auskunft an das Nds. OVG vom 07.04.2017, im Folgenden Dr. Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 3). Laut einer Umfrage des bulgarischen Meinungsforschungsinstituts "Sova Harris" im Februar 2016 hätte die Hälfte der Befragten (fast 51%) es für inakzeptabel gehalten, Flüchtlinge als Mitarbeiter oder Nachbarn zu haben (Bordermonitoring 2020, S. 74 f.). Auch dies wirkt sich negativ auf die Bereitschaft der Bürgermeister aus, Integrationsmaßnahmen mit anerkannten Flüchtlingen ins Auge zu fassen.

Seit 2013 haben alle anerkannten Schutzberechtigten keinerlei Integrationsunterstützung erhalten, mit Ausnahme von 13 Inhabern eines Schutzstatus, die jedoch alle aus einem EU-Programm finanziert und nicht im Rahmen der Integrationsverordnung unterstützt wurden (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Bulgarien, Gesamtaktualisierung am 24.07.2020, nachfolgend BFA 2020, S. 19). Der - ohne Angabe der Primärquellen gefertigten - Aussage der Deutschen Botschaft in Bulgarien, im Jahr 2017 seien 38, 2018 insgesamt 44 und 2019 insgesamt 79 Integrationsprofile angelegt worden, ist nicht zu entnehmen, dass aus der - allein auf dem Wunsch der Betroffenen beruhende - Anlage dieser Profile auch nur eine einzige Vereinbarung mit einer Gemeinde resultierte (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 2-3).

Soweit teilweise in der Rechtsprechung zu Bulgarien als Aufnahmeland festgestellt wird (siehe z.B. VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32), dass es zwar nicht viele Gemeinden gebe, die solche Vereinbarungen treffen wollen, aber es gebe welche, und dabei handele es sich meistens um Kommunen aus der Provinz, die unter dem Rückgang der Wohnbevölkerung litten, und insbesondere Unternehmen auf dem Land Interesse an Integrationsvereinbarungen ihrer Gemeinde zur Aufnahme von Flüchtlingen zeigen würden, beruht dies offenbar auf einer einzigen Quelle nämlich der Auskunft der deutschen Botschaft Sofia an das Auswärtige Amt vom 01.03.2018 (S. 2). Laut dieser Auskunft bestehe kaum Bereitschaft, sich in der bulgarischen Provinz niederzulassen. Es werden jedoch keine Kommunen oder Unternehmen, die zur Integration von Flüchtlingen bereit sind, konkret benannt. An diesem Mangel krankt auch der aktualisierte Bericht der Deutschen Botschaft in Bulgarien vom Mai 2020, der ebenfalls keine einzige Quelle benennt. Auf diese nicht verifizierten Angaben, die das Auswärtige Amt wiederum in seine Auskunft etwa vom 26.04.2018 an das VG Trier übernommen hat (S. 4), stützt sich insbesondere die Beklagte, aber auch manche der Verwaltungsgerichte (so VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20, Rn. 45).

Eine aktuelle Recherche im Mai 2021 hat keine offiziellen Studien bzw. Zahlen zur Integration von Migranten in Bulgarien ermitteln können. Ebenso hat sich die behauptete fehlende Bereitschaft zur Niederlassung in ländlichen Regionen nicht anhand von konkreten Quellen verifizieren lassen. Im Rahmen einer Studie des Europäischen Ausschusses der Regionen (European Committee of the Regions, 2020: Integration of migrants in middle and small cities and in rural areas in Europe, S. 60, verfügbar unter: https://cor.europa.eu/en/engage/studies/Documents/Integration%20of%20Migrants.pdf) werden zwei Fallstudien zur Integration von Migranten in zwei Städten in ländlichen Räumen in Bulgarien vorgestellt. Dabei waren Interviews mit den Verantwortlichen vor Ort nicht möglich, so dass die Autoren ihre Informationen nur im Rahmen von Internetrecherchen gewinnen konnten. Beiden Städten, der Kleinstadt Nova Zagora und der mittelgroßen Stadt Haskovo, ist gemeinsam, dass die jeweilige Stadtverwaltung in keinerlei Aktivitäten zur Integration von Migranten involviert ist. Insbesondere das Bulgarische Rote Kreuz führt an beiden Orten einzelne Pilotprojekte durch, die aber jeweils nur auf einen begrenzten Zeitraum ausgerichtet sind, wie zehntägige Intensivkurse zur Vermittlung von Kenntnissen über die Rechte von Migranten und das Sozialsystem. Das Projekt in Haskovo wiederum wird von der Europäischen Kommission im Rahmen von Notfallmaßnahmen zur Abfederung des Migrationsdrucks in Bulgarien bezahlt. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass es für Migranten möglich sein kann, in einer Gemeinde, die sich von der demographischen Entwicklung benachteiligt sieht, eine existenzsichernde Arbeitsstelle zu finden und sich dort niederzulassen.

dd) In Bulgarien anerkannt Schutzberechtigte sind daher auf sich selbst gestellt. Mit Schwierigkeiten bei der Unterkunftssuche verbunden ist bereits die Registrierung unter einer Meldeadresse. Diese Registrierung ist Voraussetzung für zahlreiche staatliche Leistungen wie den Erhalt von Identitätsdokumenten, den Abschluss eines Mietvertrages und den Abschluss einer Krankenversicherung und die Beantragung von Sozialleistungen (z.B. BFA 2020, S. 19). Die bulgarische Flüchtlingsagentur SAR lässt seit dem Jahr 2016 nicht mehr zu, dass die Adressen der Aufnahmezentren als Meldeadresse angegeben werden (AIDA Country Report Bulgaria, 2018, S. 77; vgl. ebenso Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21 f.); Bordermonitoring 2020, S. 75). Diese Schwierigkeiten können zu einem Teufelskreis bei der Wohnungssuche führen, da gültige ID-Dokumente Voraussetzung für den Erhalt eines Mietvertrages seien, gültige ID-Dokumente aber wiederum nur mit einer Meldeadresse zu erhalten seien. Dies führe zu korrupten Praktiken wie gefälschten oder fiktiven Mietverträgen und falscher Adressregistrierung (AIDA 2021, S. 87 f.; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2020, S. 21 f.; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 6)). Soweit teilweise aus dem Umstand, dass die bulgarischen Behörden nachweislich Ausweisdokumente für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte ausgestellt haben, gefolgert wird, dass die Eintragung in das nationale Melderegister und damit auch der Abschluss eines Mietvertrages nicht unmöglich ist (z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2 1760/18. A, Rn. 318), kann das erkennende Gericht dem nicht folgen. Offenbar kann eine solche Eintragung auf illegalen Wegen erlangt werden, es kann jedoch nicht von den Betroffenen verlangt werden, diesen Weg einzuschlagen, zumal dies mit dem Risiko verbunden sein dürfte, gegen Strafvorschriften zu verstoßen.

In den ersten sechs Monaten nach Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter besteht zwar die Möglichkeit, vorübergehend in den Aufnahmezentren für Asylbewerber aufgenommen zu werden, solange ausreichend Kapazitäten vorhanden sind (z.B. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF vom 25.03.2019, S. 2; AIDA 2021, S. 87; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; BFA 2020, S. 20), Dem Gericht liegen keine gesicherten Informationen darüber vor, ob diese Möglichkeit auch schutzberechtigten Rückkehrern aus dem Ausland, die ihre frühere Aufnahmeeinrichtung bei ihrer Ausreise aus Bulgarien verlassen hatten, offensteht. Einige Quellen verneinen dies (Raphaelswerk 2019, S. 10; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 8 f.; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S.8) bzw. teilen mit, dass dieser Personenkreis keinen Anspruch auf Unterbringung in einer SAR-Einrichtung hat (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), woraus man folgern könnte, dass die Aufnahme zumindest möglich ist (VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 27). Dem könnte allerdings entgegenstehen, dass der 6-Monats-Zeitraum in dem Moment der Schutzgewährung beginnt und daher bei Rückkehr des Schutzberechtigten aus dem Ausland nach seiner Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat in der Regel abgelaufen sein wird (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 8).

Selbst wenn anerkannt schutzberechtigte Personen temporär in einem solchen Aufnahmezentrum nach Rückkehr aus dem Ausland aufgenommen werden, sichert ihnen dies eine Unterkunft nur für maximal sechs Monate, zudem wird diesem Personenkreis kein Essen zur Verfügung gestellt (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; Raphaelswerk 2019, S. 10; Bordermonitoring 2020, S. 70). Die Möglichkeit, in einem der landesweit zwölf "Zentren für temporäre Unterbringung" Unterkunft zu finden, besteht lediglich für maximal drei Monate und kann daher ebenfalls nur einen kurzen Zeitraum bis zur Anmietung einer eigenen Wohnung eine Hilfe bedeuten. (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand 2018, S.9). Es erübrigt sich daher die Klärung der Frage, inwieweit die Unterbringungsbedingungen in den Aufnahmezentren überhaupt zumutbar sind - die Lebensbedingungen in den staatlichen Aufnahmezentren werden durchgehend als schlecht und unter den Mindeststandards liegend beschrieben; inadäquat sein insbesondere die hygienischen Umstände, die regelmäßig zu Gesundheitsproblemen führen (BFA 2020, S. 16; Bordermonitoring 2020, S. 51-63, mit ausführlichem Bericht über die einzelnen offenen Lager; Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bulgarien: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Mai 2019, S. 3). Zudem könnte der Bericht, dass den Recherchierenden im Jahr 2018 durch die bulgarischen Behörden der Zutritt zu Aufnahmeeinrichtungen trotz rechtzeitiger Anfrage verwehrt wurde (Bordermonitoring 2020, S. 51 f.), Anlass zu der Vermutung geben, dass die Aufnahmezentren sich möglicherweise in einem Zustand befunden haben, der von den bulgarischen Verantwortlichen nicht als vorführwürdig eingeschätzt wurde.

Die generelle Wohnsituation in Bulgarien ist dadurch gekennzeichnet, dass die meisten Bulgaren in ihren "eigenen vier Wänden" leben, die Wohnungseigentumsquote betrug im Jahr 2019 84,1 % (zum Vergleich: Deutschland 51,1%; siehe hierzu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155734/umfrage/wohneigentumsquoten-in-europa/). Daraus folgt, dass der Wohnungsmarkt in Bulgarien sich auf einen kleinen Teil der Bevölkerung richtet und dabei auf die großen Städte konzentriert, in denen große Wohnblocks in der sozialistischen Ära erstellt wurden. Der Wohnungsbestand ist allerdings von großem Renovierungs- und Instandsetzungsbedarf gekennzeichnet, die erklärt auch die großen Leerstände (UNHCR, Bulgaria, 2020: Municipal Housing Policies: A Key Factor For Successful Integration At The Local Level, S.6, nachfolgend UNHCR 2020, Municipal Housing Policies). Außerhalb der großen Städte sind Wohnungen eher bei privaten Vermietern zu finden.

Eine Studie des UNHCR fasst die Hindernisse, denen sich anerkannte Schutzberechtigte beim Zugang zu Wohnraum gegenübersehen, zusammen: Die größten Hürden sind rechtliche Barrieren beim Zugang zu Sozialwohnungen, Schwierigkeiten beim Zugang zum privaten Wohnungsmarkt infolge hoher Mieten, Diskriminierung und dem Widerwillen von Vermietern, Mietverträge mit Ausländern abzuschließen (UNHCR  2020, Municipal Housing Policies, S. 8). Insbesondere sind vielfach Vorbehalte gegenüber Muslimen auf Seiten der Vermieter festzustellen (Auskunft Auswärtiges Amt vom 18.07.2017, S. 9; UNHCR 2020 aaO; siehe VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 30).

Sozialwohnungen stehen in Bulgarien selbst für die bulgarische Bevölkerung nicht ausreichend zur Verfügung (UNHCR Bulgarien, 2020, S. 6). Nach Angaben der Caritas besteht Zugang zu Sozialwohnungen der Gemeinde nur, wenn mindestens ein Familienmitglied bulgarischer Staatsbürger ist; Schutzberechtigte haben daher üblicherweise keinen Zugang zu diesen Wohnungen (Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 32; BFA 2020, S.  21). Das Auswärtige Amt teilt mit, dass sich anerkannte Flüchtlinge ebenso wie bulgarische Staatsangehörige auf die wenigen vorhandenen Sozialwohnungen bewerben dürfen (AA 16.01.2019; BFA 2020, S. 21). Diese Aussagen befinden sich allerdings nicht in einem Widerspruch zueinander, vielmehr ist festzustellen, dass sich Schutzberechtigte ebenso wie Inländer auf eine Sozialwohnung bewerben dürfen, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen - was im Falle von Migranten jedoch faktisch so gut wie unmöglich ist. Sie befinden sich in Konkurrenz zu bulgarischen Wohnungssuchenden und sind dabei kaum erfolgreich (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9). Die Voraussetzungen für den Zugang zu Sozialwohnungen differieren zudem in den einzelnen Kommunen, vielfach wird vorausgesetzt, dass der Antragsteller seinen Wohnsitz für eine bestimmte Dauer registriert haben muss, teilweise fünf bis 10 Jahre (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 48; Raphaelswerk 2019, S. 11; Bulgarian Council on Refugees and Migrants: Municipal Housing, verfügbar unter: https://www.refugee-integration.bg/en).

Anhand der vorstehenden Auskunftslage bleibt das Problem der Obdachlosigkeit eines der dringendsten Probleme für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien (Bordermonitoring 2020, S. 69; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), der UNHCR geht aktuell unverändert von einem "real risk of homelessness" aus (UNHCR, Submission For the Office of the High Commissioner for Human Rights, Compilation Report UPR: 3rd Cycle, 36th Session, Bulgaria, vom Januar 2020, nachfolgend: UNHCR, Submisson For the Office oft he High Commissioner for Human Rights, 2020). Dabei werden Frauen und Familien mit kleinen Kindern als besonders von Obdachlosigkeit bedroht bezeichnet (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8-9; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9).

Nach Angaben des Auswärtigen Amtes gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche durch Nichtregierungsorganisationen, es gebe in Bulgarien kaum obdachlose Flüchtlinge (AA, Auskunft vom 25.03.2019 an das BAMF, S. 2, und Auskunft vom 16.01.2019 an das VG Köln, S. 2). Dies sei mit der Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen und staatlicher Stellen zu begründen, gepaart mit einer niedrigen Anzahl von in Bulgarien verweigernden Flüchtlingen (so z.B. BFA 2020, S. 21). Die Art der staatlichen Hilfe und der Hilfe der NRO wird jedoch nicht konkret benannt, es gibt keinen Bericht, dem sich eine tatsächliche Vermittlung oder gar Zurverfügungstellung von finanzierbarem Wohnraum entnehmen lässt.

Nach Auffassung des Gerichts ist jedoch daraus, dass es keine Berichte über eine große Anzahl von obdachlosen Schutzberechtigten in Bulgarien gibt, nicht zu folgern, dass es Schutzberechtigten gelingt, in irgendeiner Weise ein Obdach zu finden. Zunächst ist generell festzustellen, dass in vielen Bereichen durch die bulgarischen Behörden keine zahlenmäßigen Erhebungen vorgenommen werden (siehe z.B. die bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva in ihrer Auskunft vom 17.07.2017 an das OVG NRW, mit der wiederholten Antwort, dass entsprechende Daten durch die bulgarischen Behörden nicht erfasst werden).

Die deutsche Botschaft in Sofia hat zwar mit Bericht zuletzt vom Mai 2020 (Deutsche Botschaft Sofia, Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 4 f.; in Fortführung früherer Berichte) mitgeteilt, dass Schutzberechtigte auch durch Hilfe der Zivilgesellschaft, z.B. von der syrischen oder der muslimischen Gemeinschaft, ein Obdach gewährt werde - allerdings auch hier ohne Angabe der Primärquelle. Das Auswärtige Amt wurde mit Anfrage von dem OVG Hamburg gezielt dahingehend befragt und antwortete mit seiner Auskunft vom 07.04.2021 ausweichend, indem auf das Vorhandensein nur weniger Sozialwohnungen hingewiesen wurde. Auf die Ausgangsfrage hin wurde lediglich mitgeteilt, das konkretere Erkenntnisse nicht vorlägen (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3). Auch zu der Frage nach Obdachlosigkeit oder Hungerleidens von Familien teilte das Auswärtige Amt mit, dass dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Angesichts grundsätzlich eher diplomatischer Feststellungen des Auswärtigen Amtes folgert das Gericht aus dieser Auskunft, dass seitens des Auswärtigen Amtes weder Obdachlosigkeit noch eine mangelhafte Versorgung mit dem zum Leben Nötigsten ausgeschlossen werden kann.

Aus den Erkenntnismitteln folgt vielmehr, dass die überwiegende Mehrheit der Schutzberechtigten der drohenden Obdachlosigkeit durch Weiterreise in andere Unionsländer begegnet (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mai 2019, 4. Seite bei DIN A 4-Format), Entscheidend dürfte also alleine die geringe Zahl von Flüchtlingen sein, die tatsächlich auf Dauer in Bulgarien bleibt; die Mehrheit der Statusinhaber verlässt Bulgarien während des Asylverfahrens oder nach der Anerkennung (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft 07.04.2017, S. 2). Genaue Zahlen werden nicht ermittelt, daher gibt es nur Schätzungen, dass ca. 1.000 bis 2.000 Personen in Bulgarien verbleiben (Bordermonitoring 2020, S. 69; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 5-6;).

Der Erhalt eines Schutzstatus bedeutet daher in der Regel Obdachlosigkeit. Ohne Wohnung ist auch der legale Zugang zu anderen staatlichen und medizinischen Leistungen unmöglich, da hierfür eine Meldeadresse vorgelesen werden muss. Der möglicherweise gegebene Ausweg, durch fiktive oder gefälschte Mietverträge eine Meldeadresse nachzuweisen, wird aus den o.g. Gründen nicht als den Betroffenen zumutbare Option angesehen.  Mangels Integrationsprogramm, ohne Sprachkenntnisse und in Abwesenheit von Sozialarbeitern ist es Schutzberechtigten nahezu unmöglich, sich in Bulgarien dauerhaft niederzulassen. Flüchtlinge erhalten faktisch keinerlei finanzielle Unterstützung wie Wohngeld oder Sozialhilfe, so erhielten im Jahr 2017 nur 20 Schutzberechtigte Sozialleistungen ausgezahlt (BFA 2020, S. 20.

ee) Ebenso faktisch aussichtslos sind die Möglichkeiten, sich durch Erwerbstätigkeit das Existenzminimum zu sichern. Nur wenige Schutzberechtigte haben bislang überhaupt eine Arbeit gefunden und wenn, dann entweder in schlecht bezahlten unqualifizierten Tätigkeiten oder bei Arbeitgebern gleicher Herkunft, die sich vornehmlich in Sofia ein Geschäft aufgebaut haben (unter Berufung auf eine Stellungnahme der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge: BAMF, Länderinformationsblatt Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Der Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildung steht anerkannt Schutzberechtigten zwar nominell in gleicher Weise wie Inländern automatisch und bedingungslos offen (BFA 2020, S. 21; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 2, und an das OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 4; AIDA 2021, S. 87; Raphaelswerk 2019, S. 13). Die Sprachbarriere und die allgemein schlechte sozioökonomische Lage im Land seien übliche Probleme, ebenso wie der damit einhergehende Mangel an Fortbildungsangeboten und Möglichkeiten der Anerkennung der beruflichen Qualifikationen aus dem Herkunftsland sowie ausländischer Berufserfahrung (AIDA 2021, S. 87). Arbeitsplätze stehen überwiegend in Sofia und Großstädten wie Plovdiv, Burgas und Stara Zagora im Süden sowie Varna im Nordosten des Landes zur Verfügung (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft 24.01.2019, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Die von einigen Gerichten zitierte Aussage, es beständen für arbeitsfähige Schutzberechtigte tatsächliche Möglichkeiten, eine existenzsichernde Arbeit zu finden, und zunehmend würden sich  Unternehmer danach erkundigen, wie sie Flüchtlinge beschäftigen können, insbesondere in der Landwirtschaft und in der Gastronomie, es mangele allerdings teilweise an der Bereitschaft der Flüchtlinge, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, beruht allein auf der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26.04.2018 an das VG Trier (S. 3 f.) bzw. der Auskunft der Deutschen Botschaft Sofia vom 01.03.2018 (S. 2, beide in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Diese schildern jedoch zum einen Einzelfälle, jedoch ohne konkrete Angaben, und bewegen sich zum anderen im Bereich von Vermutungen und Prognosen. Sie werden auch nicht ansatzweise von irgendeinem anderen Erkenntnismittel, das sich nicht auf diese Auskunft bezieht, bestätigt.

Die Deutsche Botschaft hat im Mai 2020 von einem Programm der bulgarischen Regierung im Jahr 2016 zur Beschäftigung und Ausbildung von anerkannten schutzberechtigten berichtet, dass bis Ende 2020 verlängert worden sei (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 3). Ausweislich andere Quellen ist der Zugang in der Praxis jedoch de facto nicht möglich, weil der tatsächliche Zugang zu dieser Art von Aus und Weiterbildung die Kenntnis der bulgarischen Sprache voraussetzt, eine Möglichkeit der Übersetzung wird nicht angeboten (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24-25). Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist die Registrierung eines Wohnsitzes (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 43); solange Schutzberechtigte, die aus dem Ausland zurückkehren, keine Wohnung gefunden haben, können sie sich auch nicht bei der bulgarischen Arbeitsmarktbehörde als arbeitssuchend melden (Raphaelswerk 2019, S. 13). Nur wenigen anerkannt Schutzberechtigten gelingt die Integration in den bulgarischen Arbeitsmarkt und dann auch nur zu Löhnen, die keine laufenden Mietzahlungen abdecken (Bordermonitoring 2020, S. 76).  Selbst das Auswärtige Amt räumt mit der vagen Formulierung, dass es "sicherlich möglich" ist, mit dem Lohn für "einige" dieser Tätigkeiten eine Unterkunft ausreichend finanzieren zu können, ein, dass es keine entsprechenden, belastbaren Erkenntnisse gibt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26.04.2018, S. 4). Bulgarien bietet die niedrigsten Lohn- und Lohnnebenkosten mit (im Jahr 2016) nur 4,49 € pro Stunde in der EU (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft, 24.01.2019).

Durch die staatliche Agentur für Arbeit wird keine effektive Hilfe geleistet. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes hätten anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien eine Arbeitsstelle vor allem in der Landwirtschaft und der Gastronomie finden können (Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, Seite 3 f. und BAMF, Länderinformation: Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Demgegenüber berichtet AIDA, dass im Jahr 2019 von 481 Schutzgewährungen lediglich acht anerkannte Schutzberechtigte gemeldet beschäftigt gewesen sein (AIDA, Country Report Bulgaria 31.12.2019, S. 83).

Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere im Jahr 2019 Arbeitsmöglichkeiten für die Gruppe arbeitsfähiger junger Männer als realistisch in Nischenbereichen wie Callcentern für die arabische Sprache angesehen wurden, scheinen diese überbewertet zu sein, wie das VG Köln in seinem Urteil vom 17.06.2020 (20 K 5099/19.A, Rn. 39) nach Auffassung der Berichterstatterin zutreffend anmerkt. Feststellungen dazu, dass sich in der jüngeren Zeit vor Beginn der Corona-Pandemie die wirtschaftliche Lage Bulgariens zunehmend verbessert habe, die Arbeitslosenquote gesunken sei und der Arbeitsmarkt sich dynamisch entwickelt habe (z.B. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2019 - A 4 S 2476/19 -, Rn. 16; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.02.2020 - 7 A 10.903/18 -, Rn. 59 ff.), sind in anderen Erkenntnismitteln nicht in dieser Weise zum Ausdruck gekommen. Selbst wenn es eine geringfügige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation gegeben haben sollte, hat sich jedoch mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie ins Gegenteil verkehrt: Die landesweite Arbeitslosenquote sei von 4,2 % im Jahr 2019 auf geschätzt 7,0 % gestiegen (German Trade and Invest, GTAI, Bulgarien vom 01.05.2020, S. 2; European Comission, Spring 2020 Economic Forcast by Country: Bulgaria vom 06.05.2020, S. 1 f.), die deutsche Botschaft teilt in ihrem aktuellen Datenblatt hingegen eine Arbeitslosenquote von 4,7 % im April 2021 mit. Radio Bulgaria, der Auslandsdienst des staatlichen bulgarischen Rundfunks, berichtete am 22.06.2020 unter Berufung auf das nationale Arbeitsamt von einer Arbeitslosenquote von 9,0 % und durchschnittlich neun Arbeitslosen, die sich um einen Arbeitsplatz bewerben würden (Radio Bulgaria, Arbeitslosenrate schwankt je nach Region zwischen 4,4 und 16,5 % von 22.6.2020, https://www.bnr.bg/de/Post/101297605/Arbeitslosenrate-schwankt-je-nach-Region-zwischen-44-und-165). Am härtesten wirke sich die wirtschaftliche Krise auf den Dienstleistungssektor, auf Verkauf, Transport, Hotels, Restaurants, Kultur- und Unterhaltungssektor aus (vgl. European Comission, aaO). Die vor der Pandemie angenommenen besonderen Chancen anerkannter Schutzberechtigter, gerade in der Gastronomie einen Arbeitsplatz zu finden, müssen vor diesem Hintergrund als überholt gelten, führt das VG Karlsruhe zu Recht aus (Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 30; ebenso VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 36; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17, Rn. 45).

Die seitens der bulgarischen Regierung eingeleiteten Maßnahmen gegen die sich abzeichnende Rezession beziehen sich in erster Linie auf die vorhandenen Unternehmen und Arbeitsplätze (hierzu German and Trade Invest [GTAI], Bulgarien will sich mit Tourismus von der Coronakrise erholen, 25.03.2021, aufrufbar in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg) und dürften die Chancen anerkannter Schutzberechtigter erstmals eine Arbeit zu finden, nicht spürbar erhöhen.

Andere Quellen nennen eine Arbeitslosenquote von 6,9 % für den Oktober 2020 und dann einen Anstieg auf 14,2 % am 01.01.2021 (Svetoslav Todorov, 07.01.2021, Bulgaria in 2021: Testing Times for Government, People and Environment). Darüber hinaus sind laut einem Artikel von Balkan Insight vom 17.03.2021 hunderttausende Bulgaren, die im Ausland lebten und arbeiteten - und damit einen Hauptgrund für die relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen Bulgariens bis dahin bedeutet hatten - , aufgrund der COVID-19-Pandemie wieder nach Bulgarien zurückgekehrt; genaue Zahlen bezüglich der Anzahl der Rückkehrer gibt es jedoch nicht (Balkan Insight, 2021: Bulgarians Exiled Young Professionals Mull New Life Back Home). Ein Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) vom März 2021 zitiert eine Erhebung, wonach 10 % der befragten Rückkehrer nach dem Ende der Krise nicht wieder ins Ausland gehen möchten (UNFPA, 2021: Turning The Tide?, S. 2, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Wenig aussagekräftig sind die Ergebnisse verschiedener Umfragen der Deutsch-Bulgarischen Außenhandelskammer zu den Auswirkungen der Pandemie auf die bulgarische Wirtschaft vom Dezember und Juni 2020 (VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A, Rn. 329 + 330), da diese lediglich die augenblickliche Stimmung und Erwartungen der befragten Unternehmer wiedergibt. Dies gilt ebenso für die Hoffnung Bulgariens auf Touristen in den Sommermonaten (GTAI, aaO), der schon entgegenstehen dürfte, dass es der Tourismusbranche noch nicht gelungen ist, sich auf die Bedürfnisse internationaler, insbesondere westlicher Touristen einzustellen, so dass bisher nur vergleichsweise wenige westliche Touristen den Weg nach Bulgarien finden (siehe deutsche Botschaft Sofia, Datenblatt Bulgarien). Weiter wird geschätzt, dass ein erheblicher Teil der von der SAR untergebrachten Flüchtlinge, denen es gelungen war, irgendeine Beschäftigung zu finden (über den Umfang werden keine Aussagen gemacht), in der ersten Pandemiephase ihre Arbeitsstellen verloren haben. Dies wird ausdrücklich für die Gastronomie festgestellt, in der Schutzberechtigte ohne Vertrag - in der Schattenwirtschaft - beschäftigt wurden (Europäische Kommission, Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria, https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures-relatedto-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria).

ff) Anerkannt Schutzberechtigte haben zwar unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialhilfe (AIDA 2020, S. 83; Raphaelswerk 2019, S. 11), die Gewährung von Sozialhilfe ist jedoch an nur sehr schwer zu erfüllende Bedingungen geknüpft, so dass es selbst bezugsfähigen bulgarischen Staatsangehörigen nur selten gelingt, diese zu beziehen, und anerkannt Schutzberechtigten fast nie (hierzu Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 7). Für diese ist der Sozialhilfebezug nur möglich, wenn Hilfe von Nichtregierungsorganisationen erhältlich ist, zudem ist ein Dolmetscher nötig (BFA 2020, S. 20), ohne dass jedoch ein Recht auf einen Dolmetscher gegeben ist. So soll im Jahr 2017 lediglich in 20 Fällen Sozialhilfe an Schutzberechtigte gezahlt worden sein (s.o.; Dr. Valeria Ilareva vom 07.04.2017, S. 7; Auskunft des AA an das OVG Weimar vom 18.07.2018, S. 2 und an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 3). Die Sozialhilfe betrug von 2009 bis 2017 unverändert ca. 33 € monatlich (s. VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25; BFA 2020, S. 20), 2019 wurde sie auf ca. 38 € monatlich angehoben (Auswärtiges Amt, Auskunft 07.04.2021, S. 2). Die Lebenshaltungskosten wurden für das Jahr 2018 mit 305 € im Landesschnitt, 397 € für Sofia, angegeben (Auskunft des AA an das VG Potsdam vom 16.01.2019, Seite 3), wobei für eine Wohnung in Sofia jedoch mindestens 200 € ohne Nebenkosten zu zahlen sind (Bordermonitoring S. 75). Daraus ergibt sich, dass anerkannt Schutzberechtigte ihren Lebensunterhalt in Bulgarien nicht aus staatlichen Sozialleistungen decken könnten, selbst wenn sie im Einzelfall in der Lage sein sollten, Sozialhilfe zu beziehen. Grundsätzlich kann der Lebensunterhalt nur durch Erwerbstätigkeit gesichert werden (Auskunft Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, S. 3).

Es gibt zwar nach Angaben des Auswärtigen Amtes "vielfältiges Programme" verschiedener internationaler und bulgarischer Nichtregierungsorganisationen, wie Rechtsberatung des Helsinki-Komitees, Hilfe bei der Arbeitsvermittlung und der Wohnungssuche durch das Bulgarische Rote Kreuz und die Caritas (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3; Raphaelswerk 2019, S. 11), jedoch handelt es sich lediglich um kurzfristige und punktuelle Maßnahmen, die sich überwiegend als Hilfe zur Erlangung begehrter Leistungen (Wohnung, Arbeit, Hilfe, etc.) darstellen (s. hierzu auch Raphaelswerk 2019, S. 1). Über die Erfolgsquote wird nicht berichtet, etwa durch Angabe der Anzahl vermittelter Arbeitsverhältnisse oder Mietverträge. Ohnehin zeichnet sich diese Auskunft dadurch aus, dass keine Nachweise bzw. Quellen benannt werden. Aufgrund der Ausgestaltung dieser Programme als unregelmäßig angebotene Projekte mit kurzer Laufzeit, obliegt es dem Zufall, ob ein Schutzberechtigter davon profitieren kann.

gg) Der Zugang zur Gesundheitsversorgung wird vielfach von Gerichten als ausreichend angesehen, da rechtlich Schutzberechtigte auch in dieser Hinsicht Inländern gleichgestellt sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 16; so z.B. VG Freiburg, Urteil vom 12.03.2019, A 5 K 1829/16, Rn. 34; VG Karlsruhe, Urteil vom 30.12.2018, A 13 K 3922/17, juris. Rn. 26 ff.), ist jedoch in der Praxis für Personen mit Schutzstatus ebenfalls nicht gewährleistet. Vom ersten Tag nach Statuszuerkennung an müssen Schutzberechtigte die Krankenversicherungsbeiträge, die bis dahin von der bulgarischen Flüchtlingsagentur entrichtet worden sind, selbst bezahlen, eine staatliche Unterstützung hierfür gibt es nicht (AIDA 2021, S. 61 f.). Selbst wenn der Beitrag in Höhe von 22,90 € für arbeitslose Personen (AIDA 2021, S. 88; BFA 2020, S. 21) irgendwie aufgebracht werden kann, sind Aufwendungen für Arzneimittel und psychologische Behandlung nicht abgedeckt. Auch kassenfinanzierte Leistungen können kaum in Anspruch genommen werden, da man hierzu auf eine Patientenliste eines Hausarztes gelangen muss, was oft mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist, z.B. mit fehlenden Sprachkenntnissen (BFA 2020, S. 18) . Ohnehin ist das Hauptproblem der Gesundheitsversorgung in Bulgarien der Mangel an Ärzten und medizinischem Personal (Raphaelswerk 2019, S. 12; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 23), der sich durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschärft hat. Das bulgarische Gesundheitswesen ist durch hohe Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen gekennzeichnet, die nicht von Krankenkassenbeiträgen abgedeckt sind - so genannte "Out of Pocket"-Zahlungen, die in Bulgarien im Jahr 2017 46,6 % der gesamten Gesundheitsausgaben gemacht ausgemacht haben und damit den höchsten Anteil in der EU erreichen. Nach Schätzungen sind darüber hinaus mindestens 900.000 Menschen in Bulgarien ohne Krankenversicherung (BFA 2021, S. 21 f.), ein hoher Wert bei einer Gesamtbevölkerung von 6,9 Millionen im Jahr 2020. Dies erklärt sich auch vor dem Hintergrund, dass die Nachzahlung ausstehender Krankenversicherungsbeiträge nötig ist, um Krankenversicherungsschutz zu erhalten, zunächst für drei Jahre rückwirkend, inzwischen ist dies auf fünf Jahre rückwirkend erhöht (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22 f.).

hh) Diese in allen existenziellen Lebensbereichen überaus kritische Situation wird zusätzlich durch die teils abweisende, teils durch Unwissenheit geprägte Einstellung der bulgarischen Gesellschaft gegenüber Migranten und Flüchtlingen verschärft. Aus einem Bericht des UNHCR Bulgarien im November 2020 ergibt sich, dass die Einstellung vieler Bulgaren durch vergangene Erfahrungen, Stereotypen und die mediale Berichterstattung negativ geprägt ist (Bordermonitoring 2020, S. 73), 38 % der Befragten misstrauen Flüchtlingen allgemein, dabei überwiegend die Angst vor Verbrechen, die Angst vor der Verbreitung kultureller bzw. religiöse Überzeugungen, die Angst vor der Verbreitung von Krankheiten und die Angst vor Jobverlust (UNHCR, 2020: Public Attitudes Towards Refugees And Asylum Seekers in Bulgaria, S. 10, nachfolgend UNHCR 2020, Public Attitudes). Dabei sind die Berichte in den Erkenntnismitteln uneinheitlich, so wird einerseits von einer zunehmend wohlwollenden Bewertung der Niederlassung Schutzberechtigter in Gebieten mit demographischen Problemen berichtet (UNHCR 2020, Public Attitudes, S. 12), wobei der Anstieg sich im Rahmen von 18 auf 31 % Zustimmung eher im zurückhaltenden Bereich bewegt und jedenfalls nicht die Mehrheit der Bevölkerung abbildet. Daneben stehen Berichte über Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge, deren Bandbreite von einzelnen Übergriffen staatlicher Organe auf Migranten (BFA 2020, S. 6) bis hin zu Aussagen reicht, es werde gezielt Jagd auf Flüchtlinge gemacht (Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2019, S. 4; Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 36). Im Zentrum der Problematik scheinen dabei Bürgerwehren zu stehen, insbesondere rechtsradikale Gruppierungen wie die "Civil Squads for the Protection of Women and the Faith" (CSPWF), die "Organization for the Protection of Bulgarian Citizens" (OPBC), die "Military Union Vasil Levski" (MU), das "Vasil Levski Committee for National Salvation" (CNS) und das "Shipka Bulgarian National Movement" (BNM) (eingehend dazu: Bordermonitoring 2020, S. 26-28).

Diese sollen sich nach einzelnen Berichten 2017 anderen Aktivitäten zugewandt haben, nachdem die Flüchtlingszahlen gesunken sein (Stoynova, Ndya / Dzhekova, Rositsa, 2019, Vigilantism against ethnic minorities and migrants in Bulgaria, S. 170, https://csd.bg/fileadmin/user_upload/publications_library/files/2019_11/Vigilantism_against_Migrants_and_Minorities.pdf). Als beunruhigend wird dabei eingeschätzt, dass diese weitestgehend ungestört durch die bulgarischen Behörden agieren können (Bordermonitoring 2020, S.  26 f.).

Nach Angaben von AIDA waren auch im Jahr 2020 verbale und physische Übergriffe, Angriffe und Diebstähle zulasten von ausländischen Mitbürgern festzustellen, eine Verbesserung sei nicht zu beobachten (AIDA 2020, S. 59). Die Menschenrechtskommissarin des Europarates zeigte sich in ihrem Bericht vom 31.03.2020 besorgt über weitverbreitete Intoleranz gegenüber Minderheiten in Bulgarien, u.a. gegenüber Muslimen, Migranten und Asylsuchenden; der Anstieg an Gewalttaten sei besorgniserregend (Commissioner For Human Rights Of The Council Of Europe (2020): Report Following Her Visit To Bulgaria From 25 to 29 November 2019, S. 6-7, verfügbar unter: https://rm.coe.int/report-on-the-visit-to-bulgaria-from-25-to-29-november-2019-by-dunja-m/16809cde16.; UNHCR, Submisson For the Office of the High Commissioner for Human Rights, 2020, Rn. 35; VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 34 f.).

Zusammenfassend ist festzustellen, dass zwar formal Schutzberechtigte Inländern in den meisten Bereichen gleichgestellt sind, ihre Situation sich jedoch strukturell und grundlegend unterscheidet (so schon VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 33). Bulgaren steht zu über 84 % eine Unterkunft als Eigentum zur Verfügung, Schutzberechtigte hingegen können sich bei fehlenden Sozialleistungen und einem ihnen nur formal zugänglichen Arbeitsmarkt Wohnraum nicht finanzieren, sofern sie überhaupt einen Vermieter finden, der zur Vermietung an sie bereit ist. Anders als Bulgaren können sie nicht auf andere Arbeitsmärkte in der EU ausweichen, da sie keine Freizügigkeit genießen. Bei fehlenden Sprachkenntnissen, ohne soziale Kontakte oder familiäre Netzwerke bleibt ihnen nur ein Leben, das unmittelbar von Verelendung bedroht ist. Der weit verbreiteten Intoleranz und den zunehmend rassistisch agierenden Gruppierungen begegnet der Staat ebenso gleichgültig wie im Ganzen hinsichtlich einer Integration der Schutzberechtigten. Die "Null-Integration" seit nunmehr acht Jahren verdeutlicht diese institutionelle Gleichgültigkeit.

c) Vor dem Hintergrund der so durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Situation droht der Klägerin selbst nach den oben dargelegten, strengen Maßgaben in dem Fall der Abschiebung nach Bulgarien unabhängig von ihrem Willen ein "Automatismus der Verelendung" und damit die zumindest beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtcharta.

Es erscheint nahezu ausgeschlossen, dass die Klägerin in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an eine Rückkehr nach Bulgarien eine Arbeit findet, die es ihr gestattet, ihren Lebensunterhalt zu sichern und eine Wohnung zu finanzieren.

Die Klägerin gehört bereits aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters, der fehlenden Schul- und Berufsausbildung sowie jeglicher Berufserfahrung der Gruppe der vulnerablen Personen an. Zudem ist ihr mit dem Down-Syndrom geborener Sohn Hxx aufgrund seiner geistigen Behinderung und Unfähigkeit, die einfachsten Alltagsverrichtungen ohne Hilfe vorzunehmen, auf den ständigen Kontakt mit der Klägerin angewiesen. Bei einer Rückkehr nach Bulgarien müsste sie daher ihren Sohn Hxx - unabhängig von dessen Aufenthaltsstatus - mitnehmen und wäre durch die Betreuungsbedürftigkeit ihres Sohnes zusätzlich gehandicapt. Es ist nicht nachvollziehbar, warum diese besonders schwierige Lebenslage der Klägerin durch die Beklagte überhaupt nicht in den Blick genommen worden ist.

Damit gehört sie der besonders verletzlichen, vulnerablen Personengruppe derjenigen Personen an, die zumindest weitgehend auf Unterstützung angewiesen sind.

Schließlich liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin einer Verelendung in Bulgarien aus individuellen Gründen entgehen könnte. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie in Bulgarien sozial vernetzt ist, ihr nennenswerte finanzielle Mittel zur Verfügung stehen oder sie über besondere persönliche Fähigkeiten verfügt, die ihr trotz ihrer oben festgestellten Handicaps alsbald nach einer Rückkehr nach Bulgarien die Aufnahme einer Arbeit ermöglichen könnten.

2. Da das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ablehnen durfte, fehlt es auch an einer Grundlage für die ferner verfügte Abschiebungsandrohung, die Verneinung von Abschiebungsverboten und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot. Die in Ziff. 3 Satz 4 getroffene Feststellung, wonach die Abschiebung der Klägerin nach Syrien unzulässig sei, verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten und unterliegt deshalb nicht der Aufhebung.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei gemäß § 83b AsylG.

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