OVG des Saarlandes, Beschluss vom 29.10.2021 - 2 A 203/21
Fundstelle
openJur 2021, 33308
  • Rkr:

Die Frage der Verfolgungsrelevanz von Wehrdienstentziehung bei syrischen Staatsangehörigen ist auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 - ) wegen der Einzelfallbezogenheit keiner verallgemeinerungsfähigen Aussage zugänglich und weist daher keine grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 26. Juli 2021 - 3 K 69/21 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens trägt der Kläger.

Gründe

I.

Der 2002 in /Syrien geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im März 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 6.10.2020 einen Asylantrag.

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt der Beklagten im Oktober 2020 gab der Kläger im Wesentlichen an, er sei mit seiner Mutter und den Geschwistern seinem Vater, der sich bereits in Deutschland befunden habe, nachgereist. Bei der Ausreise aus Syrien sei er in der 12. Klasse gewesen. Er befürchte, dass er nach seiner Schulzeit zum Wehrdienst müsse. Konkrete Verfolgungshandlungen habe er weder vom syrischen Staat noch von Seiten Dritter erfahren.

Mit Bescheid vom 12.1.2021 wurde dem Kläger unter Ablehnung des Asylantrags im Übrigen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Zur Begründung der Ablehnung der Flüchtlingsanerkennung ist in dem Bescheid angeführt, aus dem Vorbringen des Klägers ergäben sich keine Anhaltspunkte für politische Verfolgungshandlungen seitens des syrischen Staates oder von Dritten. Allein die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der Auslandsaufenthalt stellten keine Anzeichen für politische Gegnerschaft zum syrischen Regime dar. Die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung, Wehrdienst- bzw. Kriegsdienstverweigerung oder Desertion stelle für sich allein grundsätzlich keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung dar. Für die Annahme, das syrische Regime unterstelle jedem Wehrdienstentzieher grundsätzlich eine regimefeindliche, oppositionelle Gesinnung, fehle es an hinreichenden Erkenntnissen. Als Ausdruck politischer Opposition könne es jedoch angesehen werden, wenn der Wehrpflichtige sich zum Beispiel nachweisbar regimekritisch geäußert oder sonst politisch betätigt habe oder Verbindungen zur Opposition habe. Das sei hier jedoch nicht der Fall. Der Kläger stelle sich in der Anhörung als unpolitisch agierenden jungen Heranwachsenden dar. Er sei aus seinem Heimatland während seiner Schulzeit ausgereist, ohne konkret einen Einberufungsbescheid erhalten zu haben. Ein Politmalus sei bei dem politisch unauffälligen Kläger nicht ersichtlich.

Am 27.1.2021 hat der Kläger Klage erhoben, mit dem Ziel, die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung hat er unter Vorlage einer Fotokopie seines Wehrpasses nebst Übersetzung vorgetragen, er sei wehrpflichtig. Seinen Wehrdienst habe er nicht angetreten, weil er keinen Kriegsdienst leisten und sich nicht an völkerrechts- oder menschenrechtswidrigen Einsätzen beteiligen wolle. Der EuGH habe mit seinem Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 - im Wesentlichen klargestellt, dass syrischen Asylsuchenden, die Kriegsdienstverweigerer seien, in der Regel der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen sei. Es bestehe zudem eine Vermutung dafür, dass bei der Verweigerung des Kriegsdienstes, der zum Begehen von Kriegsverbrechen führen würde, eine kausale Verbindung zwischen der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Kriegsdienstverweigerung und dem Verfolgungsgrund, also z.B. der politischen oder religiösen Überzeugung bestehe.

Mit Urteil vom 26.7.2021 - 3 K 69/21 - hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. In dem Urteil ist ausgeführt, der Bescheid der Beklagten vom 12.1.2021 sei, soweit er angefochten worden sei, rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Dieser habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG. Der Bescheid vom 12.1.2021 setze sich mit dem Klagevorbringen eingehend sowie in überzeugender Weise auseinander und stelle die Verhältnisse im Heimatland des Klägers zutreffend dar. Ergänzend wurde in dem Urteil auf den Beschluss der Kammer vom 16.7.2021 über die Ablehnung von Prozesskostenhilfe Bezug genommen. Darin ist ausgeführt, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die wegen eines eventuellen Wehrdelikts drohenden Maßnahmen aus einem der in §§ 3 Abs. 1, 3 b AsylG genannten Gründe, etwa wegen einer als der Wehrdienstentziehung zugrunde liegenden vermuteten politischen Opposition zum Regime, erfolgen würden. An dieser Rechtsprechung sei auch in Anlehnung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.11.2020 - C-238/19 - festzuhalten. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg habe im Beschluss vom 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 - mit Blick auf diese Entscheidung des EuGH ausgeführt, es folge daraus keineswegs, dass unterschiedslos jedem Syrer im wehrpflichtigen Alter gewissermaßen "automatisch" die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Vielmehr habe der EuGH ausgeführt, dass dem europäischen Asylrecht jeder Automatismus grundsätzlich wesensfremd sei. Ein Asylantrag müsse individuell geprüft werden. In der Konstellation der Militärdienstflucht müsse im Rahmen der Tatsachenwürdigung ein Bündel von Indizien ausgewertet werden. Die vom EuGH betonte Einzelfallprüfung sei auch bislang schon vom Bundesamt und den deutschen Verwaltungsgerichten durchgeführt worden. Aus dem Vortrag des Klägers sei entgegen seiner Ansicht nicht ersichtlich, dass er gerade wegen der Völkerrechtswidrigkeit des syrischen Krieges den Militärdienst verweigert und das Land verlassen habe. Seinem Vorbringen könnten auch ansonsten keine Umstände entnommen werden, die eine zielgerichtete Suche aus anderen Gründen als seiner Einziehung zum Wehrdienst als beachtlich möglich erscheinen lassen würden. Es könne nach der Erkenntnislage nicht festgestellt werden, dass bei erwachsenen Männern Strafen wegen der Entziehung von der Wehrpflicht unverhältnismäßig oder diskriminierend im Sinne einer Heranziehung wegen politischer Gesinnung ausfallen würden. Dies werde durch die nur allgemein gehaltenen Ausführungen des Klägers sowie die vorgelegte Übersetzung der Seite 2 seines Wehrpasses nicht in Frage gestellt.

Der Kläger begehrt die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil.

II.

Im Einverständnis der Beteiligten durfte über den Antrag durch die Berichterstatterin entschieden werden (§ 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 87a Abs. 3 VwGO).

Dem nach § 78 Abs. 2 Satz 1 AsylG statthaften Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 26.7.2021 - 3 K 69/21 -, mit dem seine Verpflichtungsklage auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes (§ 3 AsylG) abgewiesen wurde, kann nicht entsprochen werden. Das den Prüfungsumfang im Zulassungsverfahren begrenzende Vorbringen des Klägers in der Antragsbegründung (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) vom 25.8.2021 rechtfertigt die begehrte Zulassung des Rechtsmittels nicht.

1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Sache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ergibt sich aus diesen Darlegungen nicht. Eine Rechtssache hat nur grundsätzliche Bedeutung, wenn sie zumindest eine im angestrebten Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat.1 Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr eine Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.

Der Kläger formuliert in der Antragsschrift vom 25.8.2021 die aus seiner Sicht grundsätzliche Frage,

"ob syrischen Männern, die den Wehrdienst verweigert haben oder desertiert sind, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, weil ihnen politische Verfolgung wegen einer ihnen vom syrischen Regime zugeschriebenen oppositionellen Haltung droht."

Diese von dem Kläger aufgeworfene Frage zeigt auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des EuGH2 und des OVG Berlin-Brandenburg3 keine grundsätzliche Bedeutung im vorgenannten Sinne auf, denn die Frage der Verfolgungsrelevanz von Wehrdienstentziehung bei syrischen Staatsangehörigen ist wegen der Einzelfallbezogenheit keiner verallgemeinerungsfähigen Aussage zugänglich. Die Feststellungen des Gerichtshofs sind weder für jedes Asylbegehren eines syrischen Asylbewerbers von Bedeutung noch präjudizieren sie im Falle einer Bedeutung das Ergebnis.4

Entgegen der Auffassung des Klägers führt die nach der Rechtsprechung des EuGH durch die "starke Vermutung", dass eine Militärdienstverweigerung mit einem der Gründe des Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (= § 3b AsylG) in Zusammenhang stehe, begründete Beweiserleichterung nicht zu einer von der tatsächlichen Verfolgungslage und den hierzu heranzuziehenden Erkenntnismitteln unabhängigen, unwiderleglichen Verknüpfung von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund. Auf die Notwendigkeit dieser Verknüpfung nach § 3a Abs. 3 AsylG sowie Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU verzichtet der EuGH gerade nicht. Vielmehr führt der Gerichtshof aus, dass "Art. 9 Abs. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen [ist], dass das Bestehen einer Verknüpfung zwischen den in Art. 2 Buchst. d und Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden kann, weil Strafverfolgung oder Bestrafung an diese Verweigerung anknüpfen"; es spreche aber "eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe in Zusammenhang steht", und es sei Sache der zuständigen nationalen Behörden beziehungsweise der nationalen Gerichte, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen.5 Die genannte "starke Vermutung" ist von einer Vielzahl von Voraussetzungen abhängig (Vorliegen einer Militärdienstverweigerung, Vorliegen eines Konflikts, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3 Abs. 2 AsylG) fällt, drohende Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Militärdienstverweigerung). Dies bedeutet keine unwiderlegliche Vermutung oder starre Beweisregel, die eine richterliche Überzeugungsbildung nach den zu § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entwickelten Grundsätzen ausschließt.6 Angesichts dessen lässt sich die von dem Kläger aufgeworfene Frage nur unter Würdigung der Einzelfallumstände des konkreten Falles beantworten, ohne dass eine verallgemeinerungsfähige Aussage getroffen werden könnte. Das Verwaltungsgericht hat sich in der angefochtenen Entscheidung ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob dem Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien aufgrund einer Einberufung zum Wehrdienst eine flüchtlingsrelevante Verfolgungsgefahr droht und dies letztlich verneint.

Von einer weiteren Begründung des Nichtzulassungsbeschlusses wird abgesehen (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG. Der Gegenstandswert des Verfahrens folgt aus dem § 30 Abs. 1 RVG.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Fussnoten

1 vgl. Beschlüsse des Senats vom 12.6.2019 - 2 A 319/18 - und vom 2.5.2019 - 2 A 184/19 -, m.w.N.; juris.

2 Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 -.

3 Urteil vom 21.1.2021 - OVG 3 B 109.18 -.

4 vgl. Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 6.8.2021 - 1 LA 294/21 -, Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Urteil vom 8.6.2021 - 13 A 239/21 -, Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 -, juris.

5 EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 - Rn. 61; zitiert nach juris.

6 BVerwG, Beschluss vom 10.3.2021 - 1 B 2.21 -, Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 -, juris.

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