Thüringer LSG, Urteil vom 08.06.2021 - L 12 R 331/18
Fundstelle
openJur 2021, 32441
  • Rkr:

Nach Erteilung der Restschuldbefreiung ist eine Aufrechnung / Verrechnung nach §§ 51, 52 SGB I grundsätzlich nicht mehr möglich.

Tenor

Die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 25. Januar 2018 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Verrechnung der Altersrente des Klägers mit einer Beitragsforderung inklusive Säumniszuschlägen bzw. ob diese Beitragsforderung nach Abschluss des Insolvenzverfahrens des Klägers mit erteilter Restschuldbefreiung im Wege der Verrechnung rechtlich durchgesetzt werden kann.

Der im Jahre 1946 geborene Kläger hat den Beruf eines Maurers erlernt. Vom Frühjahr 2003 bis August 2005 betrieb er als Selbständiger ein Trockenbauunternehmen. Aus dieser Tätigkeit rühren die Beitragsforderungen der Beigeladenen her.

Das AG Gera eröffnete mit Beschluss vom 29. August 2005 - IN 517/05 das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers. Die Beigeladene meldete ihre Forderung zur Tabelle an. Eine Forderung aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung gemäß § 174 Abs. 2 InsO meldete sie nicht an.

Auf seinen Antrag bewilligte die Beklagte dem Kläger ab 1. Mai 2009 Altersrente für schwerbehinderte Menschen.

Mit Schreiben vom 18. Februar 2011 ermächtigte die Beigeladene die Beklagte zur Verrechnung einer Beitragsforderung inklusive Säumniszuschläge über 13.435,45 Euro. Es handele sich um Beiträge für die Jahre 2003 bis 2005, die zwischen dem 17. Mai 2004 und 15. Mai 2006 fällig geworden seien. Die Beitragsbescheide seien bestandskräftig geworden. Zu diesem Zeitpunkt lag der Nettozahlbetrag der Altersrente bei 1.188,77 Euro (ohne Zuschuss zur privaten Krankenversicherung).

Mit Schreiben vom 10. März 2011 hörte die Beklagte den Kläger zu einem beabsichtigten hälftigen Einbehalt der Altersrente i.H.v. monatlich 534,39 Euro zugunsten der Beigeladenen an. Der Kläger solle seine wirtschaftlichen Verhältnisse und diejenigen seiner Ehefrau offenlegen. Er könne sich auch an den Träger zur Grundsicherung wenden und eine Bedarfsbescheinigung vorlegen. Der Kläger antwortete, seine Altersrente liege unter der Pfändungsfreigrenze und werde nicht von der Insolvenzmasse erfasst. Im Übrigen werde er durch den Einbehalt aber auch hilfebedürftig. Allein der Beitrag zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung liege bei 368,76 Euro. Mit Bescheid vom 9. Mai 2011 behielt die Beklagte ab Juli 2011 i.H.v. 594,39 Euro ein. Die behauptete Hilfebedürftigkeit habe der Kläger nicht durch eine Bedarfsbescheinigung unterlegt.

Mit Bescheid vom 4. Juli 2011 reduzierte der Beklagte den Einbehalt ab 1. Juli 2011 auf 439,43 Euro und berücksichtigte dabei die monatlichen Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung.

Der Kläger legte dagegen Widerspruch ein und reichte eine Bescheinigung der Stadt G - Sozialamt - vom 26. Juli 2011 zu den Akten hiernach verfügten der Kläger und seine Ehefrau über überschießendes Einkommen im Sinne der §§ 82 ff. SGB XII i.H.v. 392,55 Euro. Entsprechend dieser Bescheinigung behielt der Beklagte mit Bescheid vom 8. August 2011 von der Rente einen Betrag i.H.v. 392,55 Euro ab 1. August 2011 ein. Den weitergehenden Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 2011 zurück.

Die anschließende Klage wies das Sozialgericht Altenburg mit Gerichtsbescheid vom 9. Mai 2012 - S 14 R 4214/11 ab.

Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht Erfurt - L 6 R 1055/12 erteilte das Amtsgericht Gera dem Kläger mit Beschluss vom 10. Oktober 2012 - 8 IN 517/05 Restschuldbefreiung. Nach einem Erörterungstermin vor dem Berichterstatter reduzierte die Beklagte den monatlichen Einbehalt mit Bescheid vom 30. April 2014 ab Mai 2014 auf 100 Euro monatlich. Nach Hinweis des Vorsitzenden in der mündlichen Verhandlung vom 30. September 2014 auf fehlende Ermessensausübung nahm die Beklagte die angefochtenen Bescheide zurück. Der Kläger nahm das Anerkenntnis an und erklärte den Rechtsstreit für erledigt. Im November 2014 erstattete die Beklagte dem Kläger die während der Verrechnung einbehaltene Altersrente i.H.v. 10.675,53 Euro.

Mit Schreiben vom 19. November 2014 hörte die Beklagte den Kläger zu einem monatlichen Einbehalt von 100 Euro an und verwies erneut auf das Beibringen einer Bedarfsbescheinigung. Der Kläger antwortete unter dem 24. November 2014, die Beklagte habe in der Verhandlung vom 30. September 2014 anerkannt, dass eine Verrechnung nicht möglich sei. Es möge sein, dass die Beitragsforderung der Beigeladenen rechtskräftig festgestellt sei. Ebenso rechtskräftig sei aber Restschuldbefreiung erteilt worden. Die Beitragsforderung sei nicht mehr durchsetzbar. In der Folge schlüsselte die Beigeladene ihre Forderungen mit Schreiben vom 28. April 2015 auf. Für 2003 ergibt sich ein Beitrag von 854,19 Euro, der mit Bescheid vom 19. April 2004 festgestellt wurde und am 17. Mai 2004 fällig war. Für 2004 ergibt sich ein Beitrag von 6.854,31 Euro, der mit Bescheid vom 18. April 2005 festgestellt wurde und am 17. Mai 2005 fällig war. Für 2005 ergibt sich ein Beitrag von 3.901,40 Euro, der mit Bescheid vom 18. April 2006 festgestellt und am 15. Mai 2006 fällig war. Mit Bescheid vom 17. Januar 2005 wurden Säumniszuschläge i.H.v. 772 Euro, die am 15. Februar 2005 fällig waren, festgesetzt. Mit Bescheid vom 17. Januar 2006 wurden Säumniszuschläge i.H.v. 891,50 Euro, die am 15. Februar 2006 fällig waren, festgesetzt. Außerdem waren am 1. Januar 2009 Kosten i.H.v. 162,05 Euro fällig. Insgesamt schulde der Kläger ihr 13.435,45 Euro. Mit Schreiben vom 12. Mai 2015 hörte die Beklagte nochmals an. Es sei nunmehr nur noch beabsichtigt, eine Forderung von 4.954,95 Euro zugunsten der Beigeladenen zu verrechnen (Beitragsforderung für 2005 i.H.v. 3.901,40Euro, Säumniszuschläge i.H.v. 891,50 Euro und Kosten i.H.v. 162,05 Euro). Dieser Teil der Gesamtforderung der Beigeladenen sei nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden. An dem Einbehalt von 100 Euro monatlich von der Altersrente werde festgehalten. Mit Bescheid vom 9. Juni 2015 behielt die Beklagte ab 1. August 2015 100 Euro monatlich von der Altersrente des Klägers zugunsten des Klägers ein.

Der Kläger legte dagegen Widerspruch ein. Die Forderung der Beigeladenen sei verjährt. Im Verfahren L 6 R 1055/12 habe die Beklagte anerkannt, dass die volle Rente zu zahlen ist. Einer erneuten Geltendmachung stehe das eben genannte Verfahren entgegen. Ihm sei auch Restschuldbefreiung erteilt worden. Nach der Rechtsprechung des BGH seien alle Forderungen von der Restschuldbefreiung erfasst, deren Ursache und Begründung vor dem Eröffnungszeitpunkt gelegen haben. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Das Sozialgericht Altenburg hat im anschließenden Klageverfahren mit Beschluss vom 23. Juli 2015 die BG Bau - Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft - beigeladen. Mit Urteil vom 25. Januar 2018 hat es der Klage stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Das BSG habe in seinem Urteil vom 14. März 2013 - B 13 R 5/11 R u. a. ausgeführt: "Nach Erteilung der Restschuldbefreiung an die Klägerin durch Beschluss des AG Potsdam vom 25. November 2008 dürfte die - infolge der unwirksamen Aufrechnung noch nicht erloschene - Beitragsforderung der DRV Mitteldeutschland allerdings nicht mehr durchsetzbar sein (zur Umwandelung einer Forderung aufgrund einer Restschuldbefreiung in eine Naturalobligation vgl. Lang in Braun, InsO, 5. Auflage 2012, § 301 Rdnr. 2)." Durch die rechtswirksame Restschuldbefreiung des Klägers im Sinne von § 300 InsO in Verbindung mit § 302 Nr. 1 InsO vom 10. Oktober 2012 könnten die bestandskräftig festgestellten Beitragsforderungen der Beigeladenen gegen den Kläger, soweit diese Beitragsforderungen durch den Kläger nicht bereits durch eine Verrechnung nach § 51 Abs. 2 SGB I i.V.m. § 52 SGB I tatsächlich erfüllt worden seien, durch die Beklagte nicht mehr gemäß § 51 Abs. 1 SGB I i.V.m. § 52 SGB I mit der Altersrente für schwerbehinderte Menschen nach dem SGB VI des Klägers verrechnet werden.

Dagegen haben sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene Berufung eingelegt.

Die Beigeladene ist der Auffassung, die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig. Eine Verrechnung sei trotz der Restschuldbefreiung möglich. Der Gesetzgeber habe mit § 51 Abs. 2 SGB I die Sozialleistungsträger bei der Durchsetzung von Beitrags- und Erstattungsforderungen im Wege der Aufrechnung bzw. Verrechnung gegenüber anderen Gläubigern bewusst privilegiert, denen (bereits) durch die Unpfändbarkeit die Möglichkeit versperrt ist, ihre Forderung im Wege der Zwangsvollstreckung durchzusetzen. Zu berücksichtigten sei dabei, dass nur laufende Rentenleistungen auf- bzw. verrechnet werden könnten, die unterhalb der Pfändungsfreigrenzen liegen und zuvor nicht zur Insolvenzmasse gehörten und somit während des gesamten Insolvenzverfahrens grundsätzlich gemäß §§ 52, 51 Abs. 2 SGB I bis zur Grenze der Sozialhilfebedürftigkeit aufgerechnet werden könnten. Insoweit würde es einen Wertungswiderspruch bedeuten, wenn nach der Beendigung des Insolvenzverfahrens bzw. Erteilung der Restschuldbefreiung dies nicht mehr möglich sei. Auf das Urteil des Bayer. LSG vom 26. April 2016 - L 13 R 25/17 und das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 28. Oktober 2015 - L 3 U 561/13 werde Bezug genommen.

Die Beigeladene beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 25. Januar 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beigeladenen zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für richtig. Ergänzend führt er aus, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 387 BGB lägen nicht vor. Es fehle an der Durchsetzbarkeit der Forderung der Beigeladenen. Diese sei durch Erteilung der Restschuldbefreiung zu einer unvollkommenen Forderung geworden. § 51 SGB I sehe von dem Erfordernis der Durchsetzbarkeit nicht ab. Die Forderung sei zur Tabelle angemeldet worden und sei damit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden. Dagegen sei der Rentenanspruch des Klägers erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden. Falsch sei die Ansicht, der Rentenanspruch sei für die Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens für den Kläger durchsetzbar bzw. für die Beklagte erfüllbar. Eine Aufrechnungslage vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens habe nicht bestanden. § 94 InsO treffe nicht zu. Die Rente sei über Jahre gezahlt worden. Eine Aufrechnung /Verrechnung analog § 114 InsO sei allein aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr möglich. Im Übrigen werde auf das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15. März 2018 - L 19 AS 1286/17 Bezug genommen.

Die Beklagte hat ihre Berufung mit Schriftsatz vom 23. Mai 2018 zurückgenommen und sich in der Sache nicht geäußert.

Der Senat hat die Akten des AG Gera - Insolvenzgericht - 8 IN 517/05 beigezogen. Hieraus ergibt sich im Wesentlichen Folgendes:

Die ... beantragte am 20. Juni 2005 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens wegen rückständiger Beiträge zur Sozialversicherung. Der Kläger stellte seinen Betrieb zum 31. August 2005 ein und beantragte am 25. August 2005 ebenso die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Restschuldbefreiung. Die Beigeladene meldete ihre Forderung, die sie zuletzt mit 13.435,45 Euro bezifferte am 6. September 2005 zur Tabelle an und wurde als laufender Gläubiger 1 geführt. Nur die ... Thüringen und die ... Pfalz meldeten auch Forderungen aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung an. Mit Beschluss vom 10. Oktober 2012 genehmigte das Amtsgericht die vom Insolvenzverwalter vorgeschlagene Schlussverteilung. Mit Beschluss vom gleichen Tag erteilte es dem Kläger Restschuldbefreiung. Aus der Insolvenzmasse wurden im Herbst 2014 1.565,22 Euro an die Beigeladene ausgekehrt (Quote von 11,65 %). Mit Beschluss vom 3. März 2015 hob das Amtsgericht das Insolvenzverfahren nach der Schlussverteilung auf.

Gründe

Die Berufung der Beigeladenen ist trotz Rücknahme der Berufung der Beklagten weiterhin zulässig.

Durch die Beiladung - im Falle der Beigeladenen eine notwendige im Sinne von § 75 Abs. 2 SGG - hat die Beigeladene die Rechtsstellung eines am Verfahren Beteiligten nach § 69 Nr. 3 SGG erlangt. In dieser Eigenschaft kann sie innerhalb der Anträge der anderen Beteiligten (Beklagte/Kläger) selbständig Verteidigungs- oder Angriffsmittel geltend machen und alle Verfahrenshandlungen nach § 75 Abs. 4 SGG vornehmen. Zu diesen Handlungen gehört auch das Einlegen von Rechtsmitteln. Er muss auch die Möglichkeit haben, ein für ihn negatives Urteil, das ihn wie die anderen Beteiligten bindet, aus eigenem Recht anzugreifen (vgl. schon BSG, Urteil vom 27. November 1962 - 3 RK 37/60).

Die Berufung der Beigeladenen ist unbegründet.

Die Klage ist als reine Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG statthaft und auch ansonsten zulässig (vgl. zur Befugnis die Aufrechnung / Verrechnung durch Verwaltungsakt vorzunehmen: BSG, Beschluss des Großen Senats vom 31. August 2011 - Gs 2/10) . Anders als in dem vom LSG Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 15. März 2018 - L 19 AS 1286/17 entschiedenen Fall - hier griff der Kläger zunächst einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid (als Grundlage einer etwaigen, nachfolgenden Aufrechnung seitens des Beklagten) an - steht vorliegend die zur Aufrechnung (Verrechnung) gestellte Gegenforderung nicht mehr im Streit. Der Bescheid der Beigeladenen vom 18. April 2006 mit der Beitragsforderung für 2005 inklusive der Bescheid vom 17. Januar 2006 über Säumniszuschläge i.H.v. 891,50 Euro ist lange vor dem Beginn des hier streitigen Verrechnungszeitraums bindend geworden. Der Kläger wendet sich direkt gegen die erklärte Verrechnung. Bei dieser handelt es sich um einen der Zwangsvollstreckung ähnlichen, außergerichtlichen Zugriff auf die Gegenforderung, um einen Forderungsdurchsetzung im Wege der Selbsthilfe (vgl. BSG, Urteil vom 7. Februar 2012 - B 13 R 85/09 R).

Nach § 52 SGB I kann der für eine Geldleistung zuständige Leistungsträger - hier die Beklagte - mit Ermächtigung eines anderen Leistungsträgers - hier die Beigeladene - dessen Ansprüche gegen den Berechtigten - hier der Kläger - mit der ihm obliegenden Geldleistung verrechnen, soweit nach § 51 SGB I die Aufrechnung zulässig ist. Gemäß § 51 Abs. 1 SGB I kann der zuständige Leistungsträger gegen Ansprüche auf Geldleistung - hier die Rentenzahlung - mit Ansprüchen jedweder Art gegen den Berechtigten aufrechnen, soweit die Ansprüche auf Geldleistungen nach § 54 Ab. 1 und Abs. 4 SGB I pfändbar sind. Mit Ansprüchen auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen oder mit Beitragsansprüchen nach dem SGB kann der zuständige Leistungsträger nach § 51 Abs. 2 SGB I gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen, wenn der Leistungsberechtigte nicht nachweist, dass er dadurch hilfebedürftig nach den Vorschriften des SGB XII über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung nach dem SGB II wird (§ 51 Abs. 2 SGB I). Eine wirksame Verrechnung setzt mithin - mit Ausnahme der Gegenseitigkeit der Forderungen - eine Aufrechnungs- und damit eine Verrechnungslage voraus. Das Erfordernis einer Aufrechnungslage nach § 387 BGB wird durch die §§ 51,52 SGB I - mit Ausnahme der Gegenseitigkeit der Forderungen bei der Verrechnung - nicht modifiziert.

Die angefochtenen Bescheide leiden an einem Ermessensfehler und sind allein schon aus diesem Grund rechtswidrig.

Nach allgemeiner Auffassung muss die Behörde bei der Ermessenentscheidung von einer richtigen Beurteilung der Voraussetzungen für das Ermessen und bei dessen Ausübung vom richtigen und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgehen; sie darf nur eine Rechtsfolge aussprechen und muss überhaupt eine Ermessensentscheidung treffen, wo das Gesetz eine solche vorsieht (vgl. BSG; Urteil vom 14. November 1985 - 7 RAR 123/84).

Die Beklagte ist bei Erlass der angefochtenen Bescheide von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen. Die Beigeladene hat ihre Forderung unverändert mit 13.435,45 Euro beziffert. Tatsächlich reduzierte sich die Forderung nach Auskehr von 1.565,22 Euro aus der Insolvenzmasse auf 11.870,23 Euro. Die teilweise Befriedigung im Insolvenzverfahren hat die Beklagte bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt.

Die angefochtenen Bescheide erweisen sich zudem aus den nachfolgenden Gründen als rechtswidrig.

Eine Aufrechnungslage (Verrechnungslage) erfordert, dass die Forderungen gleichartig sind, die Gegenforderung - hier die Beitragsforderung für 2005 - vollwirksam, fällig und erzwingbar ist (vgl. BGH, Urteil vom 19. Mai 2011 - IX ZR 222/08). Die Hauptforderung - hier die Altersrente für schwerbehinderte Menschen - muss mindestens erfüllbar sein.

Im Zeitpunkt des Erlasses des vorliegend angefochtenen Verrechnungsbescheids vom 9. Juni 2015 fehlte es an einer Verrechnungslage analog § 387 BGB. Infolge der mit Beschluss des AG Gera vom 10. Oktober 2012 - 8 IN 517/017 erteilten Restschuldbefreiung hat sich die Beitragsforderung der Beigeladenen in eine Naturalobligation, d. h. in eine unvollkommene Verbindlichkeit umgewandelt (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2015 - B 12 KR 19/14 R und BSG, Urteil vom 14. März 2013 - B 13 R 5/11 R). Die Forderung ist weiterhin erfüllbar, eine Erfüllung kann aber nicht erzwungen werden bzw. rechtlich durchgesetzt werden. Eine unvollkommene Verbindlichkeit ist tauglicher Rechtsgrund, die Erfüllung einer Forderung zu behalten, sie ist aber nicht geeignet Erfüllung verlangen zu können. Eine solche Verbindlichkeit begründet keine Verrechnungslage analog § 387 BGB. Ob die Restschuldbefreiung von Amts wegen oder nur auf Einrede - wie bei der Verjährung - zu beachten ist, kann vorliegend dahinstehen. Der Kläger hat schon im Anhörungsverfahren darauf hingewiesen, dass die erteilte Restschuldbefreiung einer Verrechnung entgegenstehe.

Die Beitragsforderung der Beigeladenen wird von der Restschuldbefreiung erfasst.

Ist der Schuldner eine natürliche Person, wird er nach § 286 InsO nach Maßgabe der §§ 287 ff. InsO von den im Insolvenzverfahren nicht erfüllten Verbindlichkeiten gegenüber den Insolvenzgläubigern befreit. Die Restschuldbefreiung wirkt gemäß § 301 Abs. 1 S. 1 InsO gegen alle Insolvenzgläubiger. Von der Restschuldbefreiung erfasst werden neben privatrechtlichen Ansprüchen öffentlich-rechtliche Ansprüche, wie Steuerforderungen, öffentliche Abgaben oder Sozialversicherungsbeiträge. Insolvenzgläubiger sind nach § 38 InsO alle persönlichen Gläubiger des Schuldners, die zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben. Unter welchen Voraussetzungen der Vermögensanspruch i.S.d. § 38 InsO begründet ist, richtet sich nach den Regelungen des Insolvenzrechts. Auf der Grundlage des einschlägigen öffentlichen Rechts ist nur zu beantworten, ob bei der Eröffnung des Insolvenzverfahrens diese Voraussetzungen erfüllt waren. Begründet ist ein Anspruch nicht erst dann, wenn er bereits entstanden oder fällig ist bzw. durch Bescheid festgestellt wird. Allgemein gilt, dass ein Anspruch begründet ist, wenn der anspruchsbegründende Tatbestand bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt, d.h. der Rechtsgrund der Entstehung bereits gelegt war, selbst wenn sich eine Forderung hieraus erst nach Verfahrenseröffnung ergibt (vgl. BGH, Urteil vom 5. April 2016 - VI ZR 283/15). Der anspruchsbegründende Tatbestand liegt hier in dem Betreiben des Trockenbauunternehmens bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit der Folge der Beitragspflicht nach § 2 SGB VII. Im Übrigen wurde die Forderung von der Beigeladenen zur Tabelle angemeldet und vom Insolvenzverwalter nicht bestritten. Dieser Umstand allein begründet die Stellung eines Insolvenzgläubigers nach § 38 InsO.

Der Beigeladenen ist es verwehrt, sich auf die Privilegierung des § 302 Nr. 1 InsO zu berufen. Danach werden u.a. Verbindlichkeiten des Schuldners aus vorsätzlich unerlaubter Handlung von der Erteilung der Restschuldbefreiung nicht berührt. Die Beigeladene hat die Beitragsforderung nicht, wie schon nach dem Wortlaut notwendig aus "einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung" zur Tabelle angemeldet (vgl. §§ 174 Abs. 2, 175 Abs. 2 InsO). Ausweislich der Akten des Insolvenzgerichts und dem darin enthaltenen Schuldnerverzeichnis wurde die Beitragsforderung nur als "einfache" Forderung nach § 174 Abs. 1 InsO zur Tabelle angemeldet.

Eine Verrechnung ist nach der rechtskräftigen Erteilung der Restschuldbefreiung auch nicht mehr im Hinblick auf § 94 InsO möglich. Nach § 94 InsO gilt: Ist ein Insolvenzgläubiger zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens kraft Gesetzes oder auf Grund einer Vereinbarung zur Aufrechnung berechtigt, so wird dieses Recht durch das Verfahren nicht berührt. Ein bei der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehendes Aufrechnungsrecht bleibt auch dann erhalten, wenn die aufgerechnete Gegenforderung nach einem rechtskräftig bestätigten Insolvenzplan als erlassen gilt (vgl. BGH, Urteil vom 19. Mai 2011 - IX ZR 222/08). Die Erwägungen des BGH zur Insolvenzfestigkeit einer vor Eröffnung des Verfahrens bestehenden Aufrechnungsberechtigung können nach der Ansicht des Senats ohne weiteres auf den vorliegenden Fall, nämlich der Erteilung durch Restschuldbefreiung durch Beschluss, übertragen werden. Die Erwägungen gelten gleichermaßen für eine Verrechnung, die der Aufrechnung gleichzustellen ist.

Eine Aufrechnungs-(Verrechnungs-)lage bestand zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit dem Beschluss des AG Gera vom 29. August 2005 - 8 IN 517/05 jedoch nicht. Jedenfalls war die hier zur Verrechnung gestellte Gegenforderung des Beigeladenen; nämlich die Beitragsforderung für 2005 und die Säumniszuschläge noch nicht entstanden bzw. fällig. Die Beitragsforderung für 2005 wurde erst mit Bescheid vom 18. April 2006 bei Fälligkeit zum 15. Mai 2006 festgesetzt. Die hier zur Verrechnung gestellten Säumniszuschläge wurden mit Bescheid vom 17. Januar 2006 bei Fälligkeit zum Februar 2006 festgesetzt. Die zur Verrechnung gestellten Kosten i.H.v. 162,05 Euro waren zum 1. Januar 2009 fällig. Im Übrigen bewilligte die Beklagte dem Kläger erst ab Mai 2009 Altersrente für schwerbehinderte Menschen.

Sofern die Beigeladene darauf hinweist, dass die §§ 51, 52 SGB I eine Privilegierung der Sozialleistungsträger bewirken, ist dies grundsätzlich zutreffend. So wird im Rahmen der Verrechnung auf das Erfordernis der Gegenseitigkeit der Forderungen verzichtet. Richtig ist auch, dass Sozialleistungsträger bei Beitragsansprüchen und Erstattungsforderungen wegen zu Unrecht erbrachter Sozialleistungen nicht an die Pfändungsgrenzen der ZPO gebunden sind und eine Aufrechnung/Verrechnung mit der Hauptforderung vornehmen können, soweit der Leistungsberechtigte hierdurch nicht hilfebedürftig im Sinne des SGB XII oder SGB II wird. Hieraus resultiert in der Regel im Vergleich zu anderen Gläubigern eine erweiterte Zugriffsmöglichkeit. Anerkannt ist auch, dass diese erweiterte Zugriffsmöglichkeit mit unpfändbaren Forderungen aufzurechnen/zu verrechnen auch während der Restschuldbefreiungsphase ("Wohlverhaltensphase") möglich ist (vgl. zum Ganzen: BSG, Urteil vom 7. Februar 2012 - B 13 R 85/03 R).

Aus den oben genannten Privilegierungen folgt für den Senat aber nicht, dass die Gegenforderung (hier: Beitragsansprüche und Säumniszuschläge der Beigeladenen) nicht an der Wirkung der Restschuldbefreiung teilnimmt und eine Verrechnung/Aufrechnung mit Forderungen im Sinne des § 51 Abs. 2 SGB I weiterhin möglich ist (so aber: Bayer. LSG, Urteil vom 21. März 2018 - L 13 R 25/17). Auch diese wandelt sich in eine unvollkommene Verbindlichkeit ("Naturalobligation") um. Nach § 300 Abs. 1 InsO wirkt die Restschuldbefreiung gegen alle Insolvenzgläubiger. Die § 51, 52 SGB I modifizieren diesen Grundsatz - jedenfalls dem Wortlaut nach - nicht. Im Gegenteil folgt aus einem Umkehrschluss des § 302 InsO, das auch die in § 51 Abs. 2 SGB I genannten Forderungen von der Wirkung erfasst werden. In dem Katalog des § 302 InsO (ausgenommene Forderungen) werden die eben genannten Forderungen nicht genannt. Der Katalog ist nach der Ansicht des Senats abschließend und nicht erweiterungsfähig ("enumeratio ergo limitatio").

Der Senat stellt sich nicht in Widerspruch zu dem Urteil des BSG vom 7. Februar 2012 - B 13 R 85/09 R. Das Urteil erging zu § 18 Abs. 2 S. 3 GesO. In der Vorschrift ist von Vollstreckungsmaßnahmen die Rede. Bei einer Aufrechnung/Verrechnung handelt es sich aber nicht um eine Vollstreckung im Sinne des § 18 Abs. 2 S. 3 GesO, sondern nur um einen vollstreckungsähnlichen, außergerichtlichen Zugriff des Gläubigers. Nach § 18 Abs. 2 S. 3 GesO wandelt sich die Schuld auch nicht in eine Naturalobligation, sondern die Vollstreckungsmöglichkeiten werden eingeschränkt.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183,193 SGG. Der Senat hält es nicht für billig die Beklagte an den Kosten im Berufungsverfahren zu beteiligen, weil sie ihre Berufung zeitnah zurückgenommen hat.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Die Frage, ob eine Verrechnung/Aufrechnung auch nach Erteilung der Restschuldbefreiung möglich wird, wird - soweit ersichtlich - von den Tatsachengerichten uneinheitlich beantwortet. Auf die Antwort kommt es letztlich nicht an. Die Bescheide erweisen sich schon allein deswegen als rechtswidrig, weil sie an einem Ermessensfehler leiden.

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