SG Köln, Beschluss vom 04.06.2021 - S 7 AS 1501/21 ER
Fundstelle
openJur 2021, 32122
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • nachfolgend: Az. L
Tenor

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 28.04.2021 bis zum 31.10.2021, jedoch längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Verfahren in vollem Umfang zu erstatten.

Gründe

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 28.04.2021, gerichtet auf die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II an die Antragstellerin, ist zulässig und begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antragsteller den Anordnungsanspruch, das heißt den materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, und den Anordnungsgrund, das heißt die Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, glaubhaft macht (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Die Antragstellerin hat zunächst einen Anordnungsgrund, d.h. die erforderliche Eilbedürftigkeit ihres Begehrens hinreichend glaubhaft gemacht.

Die Antragstellerin verfügt derzeit über kein Einkommen und auch über kein Vermögen, um ihren Lebensunterhalt vollständig sicherzustellen.

Dies ergibt sich vor allem aus der eidesstattlichen Versicherung der Antragstellerin aus welcher hervorgeht, dass sie in den letzten Monaten kein Arbeitslosengeld erhalten hat und auch ansonsten über kein Einkommen verfügt.

Dies wird vorliegend von dem Antragsgegner auch nicht bestritten. Vielmehr erfolgte die Ablehnung von Leistungen nach dem SGB II mit Bescheid vom 26.02.2021 vor allem wegen einem angenommenen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II. Es habe kein 5-jähriger Aufenthalt in der BRD, kein Daueraufenthaltsrecht, noch ein Arbeitnehmerstatus festgestellt werden können.

Die Antragstellerin hat weiterhin einen Anordnungsanspruch, d.h. den Anspruch auf Weitergewährung von Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe hinreichend glaubhaft gemacht.

Gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenzen nach § 7a noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben (§ 7 Abs. 2 S. 1 SGB II). Ausgenommen sind gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II 1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. Ausländerinnen und Ausländer, a) die kein Aufenthaltsrecht haben, b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, und ihre Familienangehörigen, 3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Zunächst hat die Antragstellerin die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II hinreichend glaubhaft gemacht. Sie erfüllt die vorgesehene Altersvorgabe, ist hilfebedürftig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in L und damit in der Bundesrepublik Deutschland. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.

Als italienische Staatsangehörige ist die Antragstellerin auch rechtlich erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs. 2 SGB II. Anhaltspunkte für eine mangelnde tatsächliche Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB II, d.h. eine Erwerbsunfähigkeit von mehr als sechs Monaten liegen nicht vor.

Ob sich ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitssuche ergibt, und sie damit vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II erfasst wird, kann dahingestellt bleiben. Denn die Antragstellerin hat einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland seit dem

15.01.2016 und damit die Voraussetzungen für einen Ausschluss vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II hinreichend glaubhaft gemacht.

Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländer und ihre Familienangehhörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde (§ 7 Abs. 1 S. 4 SGB II).

Gemäß § 7 Abs. 1 S. 5 SGB II beginnt die Frist nach Satz 4 mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde.

Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Erstanmeldung der Antragstellerin in der Stadt L erfolgte ausweislich der eingereichten Meldebescheinigung am 15.01.2016.

Insgesamt ergeben sich aus der eingereichten Meldebescheinigung folgende gemeldete Wohnsitze:

- 15.01.2016 bis zum 01.05.2017: 50969 Köln, OT Zollstock, Gottesweg 39

- 01.05.2017 bis zum 01.08.2018: 53340 Meckenheim, Am Jungholz 6

- 01.01.2019 bis heute: 50969 Köln, OT Zollstock, Gottesweg 39

Soweit sich aus der eigenreichten Meldebescheinigung eine melderechtliche Lücke vom 02.08.2018 bis zum 31.12.2018, also von 5 Monaten, ergibt, so haben sowohl die Antragstellerin als auch deren Mutter in dem hiesigen Verfahren unter eidesstatt versichert, dass sich die Antragstellerin auch in diesem Zeitraum in L, H-weg aufgehalten hat. Bei dieser Wohnadresse handelt es sich insoweit um die elterliche Wohnung. Eine Anmeldung sei anfänglich zunächst nur nicht erfolgt, da der Vermieter der Mutter hiermit nicht einverstanden gewesen sei. Daher habe sich die Antragstellerin zunächst ohne festen Wohnsitz gemeldet.

Bei summarischer Prüfung liegt damit ein durchgehender gewöhnlicher Aufenthalt der Antragsteller ohne relevante Unterbrechungen in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 15.01.2016, und zusätzlich eine die Regelung des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II auslösende Erstanmeldung bei der damals zuständigen Meldebehörde in L im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 5 SGB II vor. Anhaltspunkte für einen Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU liegen eben so wenig vor, wie Aufenthaltszeiten mit einer Ausreiseverpflichtung.

Soweit der Antragsgegner der Auffassung ist, die Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB II setze neben einer einmal erfolgten (Erst-) Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde fortwährende und lückenlose Meldungen während der gesamten Dauer der Fünfjahresfrist voraus, folgt die Kammer dem nicht.

Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist der gewöhnliche Aufenthalt von mindestens fünf Jahren die maßgebliche Voraussetzung der Rückausnahme, wobei die Fünfjahresfrist lediglich mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde beginnt.

Das Erfordernis lückenloser Meldungen lässt sich dem Gesetzestext hingegen nicht entnehmen. Selbiges gilt für die Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 18/10211, S. 13ff.). Vielmehr spricht der Gesetzgeber selbst davon, dass ausländische Personen, die sich auf die Rückausnahme vom Leistungsausschluss berufen und einen mindestens fünfjährigen Aufenthalt in Deutschland behaupten, hierfür im Zweifelsfall Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers geeignete Nachweise zu erbringen haben.

Er spricht nicht davon, dass eine melderechtskonforme Meldung bei den zuständigen Meldebehörden unverzichtbar und in jedem Fall beizubringen ist, bzw. dass es auf den Beweis eines mehr als fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthalts durch andere Beweismittel als eine Anmeldung überhaupt nur dann ankommt, wenn jedenfalls eine durchgehende Meldung vorliegt und sich unabhängig von ihr Zweifel an der Dauer des gewöhnlichen Aufenthalts ergeben (Landessozialgericht Hamburg, Beschluss vom 20.06.2019, Az.: L 4 AS 34/19 B ER; vgl. auch Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.04.2018, Az.: L 7 AS 2162/17 B ER; BeckOK SozR/Mushoff, SGB II, § 7 Rn. 46).

Soweit zur Frage der Auslegung des § 7 Abs. 1 S. 4 u. 5 SGB II abweichende Auffassungen existierten (vgl. Landessozialgerichts Schleswig-Holstein, Beschluss vom 04.05.2018, Az.: L 6 AS 59/18 B ER) führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn dies zeigt lediglich auf, dass die konkreten Voraussetzungen des Rückausschlusses in der obergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur umstritten sind. Mangels höchstrichterlicher Rechtsprechung zu dieser Problematik, wäre eine Folgenabwägung vorzunehmen, die zu Gunsten der Antragstellerin ausfällt. Dieser drohen im Falle einer Leistungsablehnung existenzielle Nachteile, da sie ihren Lebensunterhalt ohne die Leistungen nach dem SGB II nicht mehr sichern kann. Auch besteht kein ausreichender Krankenversicherungsschutz. Auf Seiten des Antragsgegners sind lediglich finanzielle Interessen zu berücksichtigen, die bei einer Gesamtabwägung zurückzustehen haben.

Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sind von dem Antragsgegner in gesetzlicher Höhe zu erbringen.

Über den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II war hier zunächst gemäß § 41 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 SGB II für einen Zeitraum von sechs Monaten zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §§ 183, 193 SGG.

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