LG Waldshut-Tiengen, Urteil vom 23.03.2004 - 2 Ns 13 Js 10959/99
Fundstelle
openJur 2021, 30494
  • Rkr:

Unzulässigkeit der Ausführung ärztlich verordneter subkutaner Injektionen durch Personen ohne einschlägige Ausbildung und ohne ärztliche Anleitung oder Aufsicht

Tenor

Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts Bad Säckingen vom 16.08.2001 aufgehoben.

Die Angeklagte wird wegen Urkundenfälschung und Anstiftung zur Körperverletzung unter Einbeziehung der Geldstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts B. vom ... zu einer Gesamtgeldstrafe von 80 Tagessätzen zu je EUR 30,00 verurteilt.

Im Übrigen wird sie freigesprochen.

Die weiter gehende Berufung wird verworfen.

Die Staatskasse trägt die ausscheidbaren Kosten und notwendigen Auslagen der Angeklagten bezüglich des erstinstanzlichen Verfahrens, soweit die Angeklagte freigesprochen wurde. Im Übrigen trägt die Angeklagte die erstinstanzlichen Kosten.

Die Angeklagte trägt die Gerichtsgebühr des Berufungsverfahrens, die um 2/3 ermäßigt wird. Die gerichtlichen Auslagen und die notwendigen Auslagen der Angeklagten im Berufungsrechtszug tragen die Staatskasse zu 2/3 und die Angeklagte zu 1/3

Angewandte Vorschriften:

§§ 267 Abs. 1, 1. und 3. Alt., 223, 26, 53, 54, 55 StGB

Gründe

(abgekürzt gemäß § 267 Abs. 4 StPO)

I.

Der Strafrichter beim Amtsgericht Bad Säckingen verurteilte die Angeklagte am 16.08.2001 wegen Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je DM 10,00. Wegen weiterer Taten, die Gegenstand der Ziffern 2 bis 5 der Anklageschrift vom 22.11.2000 gewesen waren, wurde die Angeklagte freigesprochen.

Hiergegen hat die Staatsanwaltschaft fristgerecht Berufung eingelegt. Soweit die Angeklagte verurteilt wurde, hat die Staatsanwaltschaft die Berufung auf die Frage der Höhe des Tagessatzes beschränkt; sie hat die Festsetzung eines höheren Tagessatzes begehrt. Wegen der übrigen Vorwürfe hat die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung begehrt.

Im Verlauf der Berufungshauptverhandlung hat die Staatsanwaltschaft die Berufung hinsichtlich des Vorwurfs, der Gegenstand der Ziffer 3 der Anklage vom 22.11.2000 war, mit Zustimmung der Angeklagten zurückgenommen.

Ebenfalls in der Berufungshauptverhandlung wurde das Verfahren hinsichtlich der Anklagepunkte Ziffer 2 und 4 gemäß § 154 StPO eingestellt.

Im Übrigen hatte die Berufung im Wesentlichen Erfolg.

II.

Hinsichtlich der Urkundenfälschung, die Gegenstand der Ziffer 1 der Anklage war, und wegen der erstinstanzlich eine Verurteilung erfolgt ist, stehen der Sachverhalt (II. des angefochtenen Urteils) und dessen rechtliche Würdigung (VI. des Urteils) in Folge der wirksamen Beschränkung der Berufung auf die Höhe des Tagessatzes fest. Ebenso steht die verhängte Zahl der Tagessätze fest.

Da die Angeklagte inzwischen ein monatliches Einkommen von EUR 1.400,00 bis 1.600,00 hat, das allerdings zu einem erheblichen Teil wegen der Schulden aus dem früheren Betrieb des Altersheims gepfändet wird, so dass der Angeklagten monatlich EUR 900,00 zum Leben bleiben, war der Tagessatzes auf EUR 30,00 festzusetzen.

III.

Hinsichtlich des Vorwurfs, der Gegenstand der Ziffer 5 der Anklage war, hat die Kammer festgestellt:

Die Angeklagte leitete bis Mitte 2001 in die Seniorenresidenz "M. in H. Dort beschäftigte sie ab Oktober 1999 den Zeugen U. St. als Pflegehilfe. Der Zeuge war gelernter Kraftfahrzeugmechaniker und hatte keinerlei medizinische oder pflegerische Ausbildung oder Erfahrung, als er seine Tätigkeit im Betrieb der Angeklagten aufnahm. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Oktober oder November 1990 wies die Angeklagte den Zeugen an, der Heimbewohnerin M. Sch. subkutan Insulin zu spritzen, was der Zeuge auch am 2., 3., 4., 5., 6., 7., 12. und 14.11.1999 tat. In diese Tätigkeit wurde er zuvor von der Angeklagten, die examinierte Altenpflegerin ist, eingewiesen. Eine Einweisung oder unmittelbare Beaufsichtigung durch einen Arzt erfolgte zu dieser Zeit nicht. Das Insulin war ärztlich verordnet worden und medizinisch notwendig. Die erforderliche Einwilligung der Patienten oder ihre gesetzlichen Vertreter in die ärztliche Behandlung lag vor. Frau Sch. oder ihre gesetzlichen Vertreter wurden jedoch nicht im Voraus über die spezifische Qualifikation des Zeugen unterrichtet. Die Spritzungen wurden vom Zeugen in technischer Hinsicht ordnungsgemäß durchgeführt.

Die Angeklagte hat sich damit der Anstiftung zu einer Körperverletzung schuldig gemacht.

Das Verabreichen einer Spritze stellt einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Empfängers dar. Das erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB. Eine die Körperverletzung rechtfertigende Einwilligung der Patienten lag bei den oben festgestellten Spritzungen nicht vor.

Die Einwilligung eines Patienten in eine medizinische Behandlung bezieht sich in erster Linie auf die Behandlung durch den Arzt. Sie deckt allerdings auch die Delegation auf medizinisches Hilfspersonal, so weit eine solche Delegation üblichem und ordentlichem Standard entspricht, wenn der Patient nicht Art und Umfang seiner Einwilligung näher bestimmt. Maßgeblich ist dabei nicht, was sich der Patient unter einer zulässigen Delegation vorstellt (sofern er dies nicht ausdrücklich zum Gegenstand seiner Einwilligung macht), sondern was nach objektiven Maßstäben als zulässig anzusehen ist.

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Vorstellungen in Fachkreisen darüber, in welchem Umfang medizinische Maßnahmen auf Hilfspersonal delegiert werden dürfen, gewandelt, und zwar im Sinne einer erweiterten Zulässigkeit der Delegation. Bezüglich subkutaner Injektionen besteht seit langem ein Konsens dahingehend, dass diese nicht vom Arzt selbst vorgenommen werden müssen. Unterschiedliche Auffassungen gibt es jedoch hinsichtlich der Qualifikation, die beim eingesetzten Hilfspersonal vorauszusetzen ist und in welchem Maße eine Aufsicht und Anleitung durch den Arzt erforderlich ist. Klare Richtlinien bestehen insoweit nicht. Insbesondere gibt es auch unterschiedliche Auffassungen darüber, inwieweit eine formelle Qualifikation oder aber eine tatsächliche Befähigung erforderlich oder ausreichend ist.

Weder der gesichteten Literatur noch den Angaben der in der Hauptverhandlung gehörten Ärzte vermochte die Kammer eine eindeutige Äußerung dazu zu entnehmen, ob ein breiter Konsens in medizinischen Fachkreisen hinsichtlich der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Einsatzes eines medizinisch und pflegerisch unerfahrenen Kraftfahrzeugmechanikers zum Verabreichen subkutaner Spritzen nach kurzer Einweisung ohne ärztliche Anleitung oder Überwachung.

Ganz wesentlich für die Entscheidung der Kammer war jedoch, dass in der als Sachverständiger gehörte Dr. A., der in seiner Eigenschaft als stellvertretender Vorsitzender der Bezirksärztekammer ... Auskunft über dem Vorstellungen der Ärzteschaft zu dieser Frage geben sollte, sich gerade deshalb nicht in der Lage sah, sich eindeutig zur Beurteilungen des hier in Rede stehenden Falles zu äußern, weil ihm Vergleichbares noch nie untergekommen war. Das zwingt angesichts des einem hohen Verbandsvertreter zur Verfügung stehenden weiten Überblicks und der Jahrzehnte langen beruflichen Erfahrung des Sachverständigen eben zur Schlussfolgerung, dass der Einsatz von Personal ohne jede Qualifikation oder Erfahrung und ohne jede ärztliche Anleitung oder Überwachung zum Verabreichen von Spritzen nicht dem üblichen Standard entspricht.

Die Diskussion in der Literatur über die Voraussetzungen für den Einsatz von Hilfspersonal für Injektionen, insbesondere auch für subkutane Injektionen, bezieht sich dementsprechend auch nur darauf, welches Maß an Erfahrung und Qualifikation sowie an ärztlicher Anleitung und Überwachung erforderlich ist, nicht aber darauf, dass auf jegliche formelle Qualifikation und Erfahrung sowie auf jegliche ärztliche Anweisung und Anleitung verzichtet werden könne.

Ohne entscheidende Bedeutung ist dabei, dass sowohl Dr. A. als auch der weitere gehörte Arzt, Dr. J., meinen, es sei üblich und unbedenklich, dass sich Diabetiker Insulinspritzen von Freunden und Angehörigen verabreichen lassen. Hierbei geht es nämlich jeweils um in die von einer konkreten Einwilligung des Patienten gedeckten Handlung einer bestimmten Einzelperson. Dies ist nicht übertragbar auf die in einer Institution zu erwartenden professionellen Maßstäbe. Hier kann der Patient nicht ohne weiteres selbst entscheiden, wer ihm mit welcher Qualifikation die Spritze verabreicht. Auch wenn das Setzen von Insulinspritzen durch Laien nicht generell bedenklich ist, kann dies nicht in einem massenhaften institutionellen Rahmen zugelassen werden.

Der Zeuge St. hat insoweit vorsätzlich gehandelt. Er kannte alle Umstände, die die Rechtswidrigkeit seines Tuns ergaben. Sofern er dennoch die Rechtswidrigkeit nicht erkannt haben sollte, handelte es sich um einen Verbotsirrtum, der als solcher am Vorsatz nichts ändert. Im Übrigen wäre der Verbotsirrtum auch vermeidbar gewesen. Gerade einem Laien drängt sich auf, dass man ohne jede medizinische Erfahrung oder Qualifikationen nicht berufsmäßig Spritzen verabreichen darf.

Zu dieser vorsätzlichen und rechtswidrigen Handlung hat die Angeklagte den Zeugen bestimmt. Zu ihren Gunsten ist von einer einmaligen Anweisung, mithin einer einzigen Tat auszugehen.

Auch bei der Angeklagten wäre ein etwaiger Verbotsirrtum ohne weiteres vermeidbar gewesen. Als Leiterin eines Altenheims mussten ihr die üblichen Standards für das Verabreichen von Spritzen bekannt sein.

Bei der Strafzumessung für diese Tat war zu berücksichtigen, dass die Angeklagte zwar nicht vorbestraft war, dass es sich aber hier auch nicht um einen absoluten strafrechtlichen Einzelfall bei ihr handelte. Sie hatte zuvor die bereits rechtskräftig festgestellte Urkundenfälschung begangen und ist inzwischen nochmals wegen einer Straftat (falsche Versicherung an Eides statt, zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je EUR 35,00 gemäß Strafbefehl des Amtsgerichts B... vom ...) verurteilt worden.

Zu ihren Gunsten ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Spritzen objektiv notwendig waren und ordnungsgemäß ausgeführt wurden, so dass die Patientin nicht zu Schaden kam. Allerdings kann die Tat deshalb nicht zur reinen Formalie herabgestuft werden. Immerhin in geht es um das Selbstbestimmungsrecht und letztlich die Menschenwürde der Patientin.

Schließlich war der lange seit der Tat verstrichene Zeitraum zu berücksichtigen.

Insgesamt erschien daher eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen als angemessen, wobei der Tagessatz wiederum mit EUR 30,00 anzusetzen war.

IV.

Aus diesen beiden Einzelstrafen war eine Gesamtstrafe zu bilden. Dabei war auch gemäß § 55 StGB die Geldstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts B... vom ... (40 Tagessätzen zu je EUR 35,00) einzubeziehen.

Unter Würdigung aller Umstände erschien eine Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je EUR 30,00 als angemessen.

V.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 465, 467, 473 StPO.

Im Interesse der Übersichtlichkeit wurde die erstinstanzliche Entscheidungsformel insgesamt neu gefasst, auch soweit das Urteil bereits rechtskräftig war.

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