AG Mannheim, Beschluss vom 06.09.2002 - 2B 27/00
Fundstelle
openJur 2021, 30028
  • Rkr:

Allein die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, z. B. den Zeugen Jehovas, disqualifiziert einen Elternteil nicht für die Ausübung der elterlichen Sorge, insbesondere wenn die freie Entfaltung der Persönlichkeit dadurch nicht beeinträchtigt wird.

Tenor

1. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den gemeinsamen minderjährigen Sohn ..., geb. ...

2. wird der Mutter übertragen.

3. Der Antrag des Vaters auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungerechtes wird zurückgewiesen.

4. Die Gerichtskosten des Verfahrens tragen die Kindeseltern je zur Hälfte; außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

5. Der Geschäftswert wird auf 5,000,00 DM festgesetzt.

Gründe

... Eltern sind beide italienische Staatsangehörige. Ihre Ehe wurde durch Urteil des erkennenden Gerichts vom 21.06.2000 - rechtskräftig seit 08.08.2000 - getrennt, Az. 2A F 15/00. Bis zu ihrer tatsächlichen Trennung am 16.09.1999, als der Ehemann seine Frau bei einem heftigen Streit in Gegenwart des Kindes körperlich mißhandelte und ihr erhebliche Verletzungen zufügte, hatte die Familie gemeinsam in Ho. gelebt. Seither wächst ... bei der Mutter auf, zunächst in H., danach in M.. Mit dem Vater, der weiterhin in Ho. wohnt, hat er – jedenfalls seit Mai diesen Jahres wieder regelmäßigen - Umgang, wobei es in der Vergangenheit wiederholt zu Unterbrechungen kam. Geregelt ist der väterliche Umgang in einer gerichtlich bestätigten Elternvereinbarung vom 18.12.2000, Az. 2A F 136/00.

Die Mutter ist halbtags - vormittags - berufstätig, der Vater ganztags. Anlaß des zu ihrer Trennung führenden Streits war die intensive Zuwendung der Mutter zu der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas, der sie auch heute noch angehört. Der Vater fürchtet deren Einflußnahme auf die Erziehung und Entwicklung des Sohnes und möchte ... bei sich in seinem früheren, vertrauten sozialen Umfeld aufwachsen sehen. Die Betreuung des Sohnes möchte er durch eine Tagesmutter sicherstellen. Die Mutter wirft dem Vater vor, sie vor dem Jungen herabzuwürdigen und hält ihn für nur eingeschränkt erziehungsgeeignet. Nach ihren unwidersprochen gebliebenen Angaben im Anwaltsschriftsatz vom 16.07.2002 bedachte sie der Vater bei einem vorangegangenen Umgangskontakt in Gegenwart des Kindes mit üblen Schimpfworten und erzählte ..., nach einer gemeinsamen Urlaubsreise von Vater und Sohn würden sie sich nicht mehr sehen.

Nach früheren weitergehenden Anträgen beantragen beide Eltern zuletzt nur noch jeweils das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht unter Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge im übrigen.

Beide Eltern wurden im Laufe des Verfahrens persönlich angehört, am 10.08.2001 und am 12.06,2002, ... selbst ebenfalls am 10.08,2001. Auf die Niederschriften wird verwiesen. ..., der sich zuvor in diagnostischer Beobachtung bei der psychologischen Beratungsstelle der Caritas in M. befunden hatte, besucht seit dem Schuljahr 2001/2002 die Grundschule und den Hort, wobei er anfangs erhebliche Eingewöhnungsschwierigkeiten und auch viele Fehlzeiten hatte. Nach einem Schulgespräch mit beiden Eltern am 05.12.2001 - auf das aktenkundige Protokoll wird verwiesen - nimmt er ausweislich einer Bescheinigung der Klassenlehrerin regelmäßig und pünktlich am Unterricht teil und macht seine Hausaufgaben gewissenhaft.

Das Stadtjugendamt Mannheim wurde am Verfahren beteiligt und hat beide Eltern beraten. Die [für] ... bestellte Verfahrenspflegerin hat in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 26.02.2002 hervorgehoben, daß ... die Sicherheit benötige, daß auch in Zukunft beide Eltern für ihn da seien und daß deshalb gute und regelmäßige Kontakte zu beiden Elternteilen erforderlich seien. Eine freie Persönlichkeitsentwicklung ... hält sie bei Beibehaltung des Lebensmittelpunktes bei der Mutter nicht für möglich, da ... dort sehr auf die Lebensvorstellungen, Werte, Normen und sozialen Kontakte der Zeugen Jehovas festgelegt werde. In der letzten mündlichen Verhandlung vom 12.06.2002 hat sie empfohlen, zunächst noch keine Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu treffen, sondern zunächst den Umgang mit Hilfe eines Umgangspflegers zu stabilisieren bei Wiederaufnahme einer gemeinsamen Elternberatung. Der Vater ist im Hinblick auf einen früheren Beratungsabbruch durch die Mutter nicht mehr zu einer weiteren gemeinsamen Beratung bereit. Die Mutter hingegen hat sich zu einer solchen bereit erklärt.

Im Laufe des Verfahrens hat das Gericht zwei Zeuginnen vernommen, zum einen die Zeugin S., Leiterin eines M.er Frauenhauses, in dem sich Mutter und Sohn von August 2000 bis 30.04.2001 aufgehalten hatten, zur Frage, wie die Mutter mit dem Sohn umgegangen ist und welchen Einfluß dabei ihre Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas gespielt hat. Auf die Niederschrift vom 10.08.2001 wird verwiesen. Zum anderen wurde die Zeugin H. vernommen zu den Behauptungen des Vaters, die Mutter ermögliche ihm keinen regelmäßigen Umgang und habe geäußert, sich mit ihm nicht über die Kindesbelange unterhalten zu wollen. Auf die Niederschrift vom 12.06.2002 wird verwiesen.

Das angerufene Familiengericht Mannheim ist nach Art. 1 des Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 05.10.1961 (MSA) für die begehrte Sorgerechtsregelung international zuständig, da ... hier seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Anzuwenden ist nach Art. 2 MSA das Recht des Aufenthaltstaates, also deutsches Recht. Nach § 1671 Abs. 1 BGB kann jeder Elternteil beantragen, daß ihm das Familiengericht die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge, z. B. das Aufenthaltsbestimmungsrecht, allein überträgt. Einem solchen Antrag ist nach § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB dann stattzugeben, wenn die - teilweise - Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Im Laufe des Verfahrens ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, daß, jedenfalls hinsichtlich des Aufenthaltsbestimmungsrecht B, die Aufhebung der gemeinsamen Sorge im Kindesinteresse dringend geboten ist, da die Eltern insoweit keine Einigung erzielen können und dieser Streitpunkt, solange er nicht entschieden ist, ein Zusammenwirken der Eltern in den anderen Teilbereichen der elterlichen Sorge zumindest erschwert.

Die Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts an einen Elternteil alleine schafft auch eine sichere Ausgangsbasis für regelmäßige und stabile Umgangskontakte des Kindes mit dem anderen Elternteil. Nur wenn der Lebensmittelpunkt des Kindes fest bestimmt ist, kann sich ein entspannter Umgang entwickeln ohne weiteren Kampf der Eltern um das Kind. Insoweit schließt sich das Gericht daher nicht der Empfehlung der Verfahrenspflegerin an, vor einer Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht zunächst mittels eines Umgangspflegers den Umgang zu stabilisieren. Eine solche Maßnahme kann - in einem gesonderten Verfahren - erforderlichenfalls auch noch später erfolgen, wenn wider Erwarten nicht schon die Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrechts zu einer Stabilisierung des Umgangs führen sollte.

Bei der sich anschließenden Frage, welchem Elternteil das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu übertragen ist, kommt das Gericht unter Abwägung aller Gesichtspunkte zu dem Ergebnis, daß die Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts allein an die Mutter dem Kindeswohl am ehesten entspricht. Allgemein anerkannt ist in der Rechtsprechung, daß allein die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, z. B. den Zeugen Jehovas, einen Elternteil nicht von vornherein für die Ausübung der elterlichen Sorge disqualifiziert (siehe Palandt/Diderichsen, BGB, 61. Auflage, 2002, Randnr. 26 zu § 1671 mit weiteren Nachweisen; OLG Celle, FuR 1997, 56f). Es ist auch nicht so, daß die Mutter ihre Religion etwa eifernd und intolerant leben würde. Die Zeugin S. die das Zusammenleben von Mutter und Sohn mehr als ein halbes Jahr aus relativer Nähe beobachten konnte, hat glaubhaft geschildert, daß die Mutter zwar regelmäßig die Versammlungen der Zeugen Jehovas besucht, sich im übrigen aber völlig unauffällig verhalten und nicht missionarisch gearbeitet habe und immer tolerant aufgetreten sei. Die Zeugin hat ein positives Mutter-Kind-Verhältnis beschrieben und negative Auswirkungen der Zugehörigkeit der Mutter zu den Zeugen Jehovas auf ... verneint. Auch das Gericht selbst hat in der Anhörung von ... solche nicht feststellen können, auch das Jugendamt hat nichts dergleichen berichtet. Das Gericht sieht daher nicht die Gefahr, daß die Bestimmung des Lebensmittelpunktes von ... bei der Mutter die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit beeinträchtigen würde.

Geht man die maßgeblichen Aspekte des Kindeswohls im einzelnen durch, ist zunächst festzustellen, daß beide Eltern gleichermaßen fähig und auch willens scheinen, die weitere Entwicklung ... bestmöglich zu fördern. Auch sind gleichwertige, intensive Bindungen des Kindes zu beiden Elternteilen vorhanden und sollten auch weiterhin gepflegt werden. Hinsichtlich der Bindungstoleranz, also der Fähigkeit, die Bindungen des Kindes zum anderen Elternteil zu akzeptieren und auch zu fördern, hat das Gericht wiederum gleichermaßen bei beiden Elternteilen Zweifel, ob die jeweils geäußerten Bekenntnisse zu einer aktiven Bindungstoleranz zum Teil nicht nur Lippenbekenntnisse sind. So hat die Mutter in der Vergangenheit den väterlichen Umgang mit ... zeitweise erheblich erschwert. Andererseits hat aber auch der Vater wiederholt seiner Geringschätzung der Mutter gegenüber dem Kind Ausdruck gegeben und damit destabilisierend auf die Mutter-Kind-Bindung eingewirkt. Wenn das Gericht nunmehr das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter überträgt, geschieht das vor dem Hintergrund, daß der väterliche Umgang jedenfalls seit Mai diesen Jahres grundsätzlich wieder funktioniert und in der Erwartung, daß er fortgesetzt und stabilisiert werden kann. Dazu gehört nicht nur, daß der Umgang regelmäßig stattfindet, sondern auch, daß er störungsfrei verläuft, d. h. insbesondere auch ohne Herabwürdigungen der Mutter durch den Vater und umgekehrt. Das von der Mutter in diesem Zusammenhang zuletzt geschilderte Verhalten des Vaters läßt ihn nur eingeschränkt erziehungsgeeignet erscheinen. Wer die Mutter eines Kindes in dessen Gegenwart als Hure beschimpft, kann für sich nicht in Anspruch nehmen, das Kind zur Achtung und Liebe gegenüber der Mutter zu erziehen.

Schließlich spricht der Gesichtspunkt der Kontinuität für einen Verbleib ... bei der Mutter. Dort hat er die letzten drei Jahre seinen Lebensmittelpunkt gehabt, von dort aus besucht er seit zwei Jahren die Schule. Sicherlich hat er auch in Ho. noch Freunde und andere soziale Beziehungen. Die letzten Jahre sind jedoch durch die Sozialisation im Umfeld der Mutter geprägt. Es besteht keine Notwendigkeit, ihn dort herauszureißen und sich auf das Experiment einer u.a. mit einem Schulwechsel verbundenen Änderung seines Lebensmittelpunkts einzulassen.

Die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Mutter läßt im übrigen die gemeinsame elterliche Sorge fortbestehen. Um diese dem Kindeswohl verträglich handhaben zu können, ist dringend eine Verbesserung der Kommunikation zwischen den Eltern erforderlich. Ihnen wird daher noch einmal dringend nahegelegt, hierzu gemeinsam eine Beratung in Anspruch zu nehmen.

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