VG Berlin, Beschluss vom 10.09.2021 - 33 L 204/21 A
Fundstelle
openJur 2021, 27108
  • Rkr:
Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage - VG 33 K 205/21 A - gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Mai 2021 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

Der Antrag des russischen Antragstellers,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage VG 33 K 205/21 A gegen die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Mai 2021 anzuordnen,

über den die Berichterstatterin als Einzelrichterin entscheidet (§ 76 Abs. 4 S. 1 AsylG), ist statthaft, weil die Klage gegen die Abschiebungsandrohung keine aufschiebende Wirkung hat (§§ 80 Abs. 5 S. 1 Var. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 S. 1 AsylG). Er ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere innerhalb der einwöchigen Antragsfrist des §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 3 S. 1 AsylG gestellt worden (vgl. zur entsprechenden Anwendbarkeit von § 36 AsylG den Gerichtsbescheid des Gerichts vom 20. Mai 2021 - VG 33 K 452/20 A - S. 3 des amtlichen Abdrucks).

Der Antrag ist begründet. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung war anzuordnen. Die aufschiebende Wirkung darf nur angeordnet und damit die Abschiebung ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen (§§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 4 S. 1 AsylG). Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) auf der Grundlage von §§ 71a Abs. 4, 34 Abs. 1, 36 Abs. 1 AsylG, § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1516/93 - juris Rn. 93, 99). Dies ist hier der Fall.

Rechtmäßig ist eine mit einer Ausreisefrist von einer Woche (vgl. §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 1 AsylG) versehene Abschiebungsandrohung, wenn die Voraussetzungen für die Ablehnung des Asylantrages als unzulässiger Zweitantrag vorliegen, der Abschiebung des Asylbewerbers in den in der Abschiebungsandrohung benannten Staat keine Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG entgegenstehen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ausnahmsweise zulässig ist, der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt und die Abschiebungsandrohung auch sonst nicht zu beanstanden ist (vgl. §§ 71a Abs. 4, 34 Abs. 1 AsylG, § 59 AufenthG).

Es bestehen ernstliche Zweifel, dass die Voraussetzungen für die von der Antragsgegnerin auf der Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71a Abs. 1 AsylG vorgenommene Ablehnung des Asylantrages als unzulässiger Zweitantrag vorliegen. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unter anderem dann unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrages nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Ein Zweitantrag liegt nach § 71a Abs. 1 AsylG vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt. Er hat zur Folge, dass ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen ist, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt.

Der Antragsteller hat seinen Asylantrag im Bundesgebiet nicht nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat gestellt. Ein erfolgloser Abschluss im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrages beziehungsweise dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - BVerwG 1 C 4.16 - juris Rn. 29). Maßgeblicher Zeitpunkt für den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat ist die Antragstellung in Deutschland und nicht der eines etwaigen späteren Zuständigkeitsübergangs auf Deutschland (vgl. u.a. VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 1. März 2021 - 10 L 31/21.A - juris Rn. 18; VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 30. April 2020 - VG 9 L 662.18 A - S. 5 f. des amtlichen Abdrucks und Beschluss vom 24. Juli 2019 - VG 25 L 292.19 A - S. 3 des amtlichen Abdrucks; VG Regensburg, Urteil vom 8. August 2018 - RN 12 K 18.31824 - juris Rn. 21; a.A. OVG Bremen, Urteil vom 3. November 2020 - 1 LB 28/20 - juris Rn. 32; VG Oldenburg, Beschluss vom 1. März 2021 - 15 B 1052/21 - juris Rn. 8 ff.; VG Cottbus, Urteil vom 24. April 2020 - 3 K 104/17 - juris Rn. 23; VG München, Beschluss vom 1. April 2020 - M 13 S 19.33925 - juris Rn. 19 ff.; VG Hannover Beschluss vom 7. Februar 2019 - 3 B 217/19 - juris Rn. 33; offen gelassen BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - BVerwG 1 C 4.16 - juris Rn. 40). Dies folgt aus dem eindeutigen Wortlaut von § 71a Abs. 1 Halbs. 1 AsylG ("Stellt der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat, ..., im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag), ..."). Der Gesetzgeber hat den Zweitantrag definiert. Voraussetzung für einen Zweitantrag ist, dass der Ausländer nach erfolglosem Abschluss des Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Bundesgebiet einen Asylantrag gestellt hat (vgl. zur Wortlautgrenze bei der Auslegung bspw. BVerwG, Urteil vom 27. März 2014 - BVerwG 2 C 2.13 - juris Rn. 15). Hätte der Gesetzgeber regeln wollen, dass Voraussetzung für einen Zweitantrag ist, dass das in einem sicheren Drittstaat betriebene Asylverfahren bis zum Zuständigkeitsübergang erfolglos abgeschlossen ist, hätte er dies im Gesetzestext oder jedenfalls in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck bringen können. Dies hat er nicht getan. Die Gesetzesbegründung verhält sich zur Frage, wann ein Zweitantrag vorliegt, nicht. Ihr ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber auch dann vom Vorliegen eines Zweitantrages ausgeht, wenn das Asylverfahren im sicheren Drittstaat erst nach Antragstellung in Deutschland abgeschlossen wird (vgl. BT-Drs. 12/4450 S. 8, 27).

Die auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsüberganges abstellende Gegenauffassung überzeugt nicht. Das vom Bundesamt für die Gegenauffassung vorgebrachte Argument, wonach der Zuständigkeitsübergang deshalb Voraussetzung für einen Zweitantrag sei, weil jeder vor dem Zuständigkeitsübergang gestellte Asylantrag vorrangig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG und nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen sei (vgl. den Vermerk des Bundesamtes vom 22. März 2021 in der Asylakte), widerspricht der Legaldefinition des Zweitantrages. Für die Frage, ob ein Zweitantrag vorliegt, kommt es auf den Zuständigkeitsübergang nicht an. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG verhält sich dazu auch nicht. Die Vorschrift findet im Einklang mit Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO auf die Zweitanträge Anwendung, für die die Bundesrepublik Deutschland bisher nicht zuständig geworden ist.

Soweit die Gegenauffassung zudem unter Verweis auf den Zweck von § 71a AsylG anführt, die Vorschrift solle verhindern, dass ein Ausländer nach Abschluss des Asylverfahrens im sicheren Drittstaat seine bereits geprüften Asylgründe erneut im Bundesgebiet zur Prüfung stellen kann, wird dieses Ziel durch das Abstellen auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs nicht erreicht. Der Gesetzgeber hat mit § 71a Abs. 1 AsylG gerade keine Regelung für alle Ausländer mit abgeschlossenen Asylverfahren in sicheren Drittstaaten getroffen. Denn auch diejenigen Ausländer, deren Asylverfahren im sicheren Drittstaat erst nach Zuständigkeitsübergang erfolglos abgeschlossen worden sind (denkbar sind die Zeitpunkte der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung in Deutschland, vgl. dazu Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 1. August 2021, § 71a AsylG Rn. 19), können ihre bereits geprüften Asylgründe in Deutschland erneut zur Prüfung stellen, weil sie die Voraussetzungen von § 71a Abs. 1 AsylG - selbst nach der dem Wortlaut dieser Vorschrift zuwiderlaufenden Auffassung - nicht erfüllen.

Das Asylverfahren des Antragstellers in Estland und damit in einem sicheren Drittstaat (§ 26 a Abs. 1 S. 1 AsylG, Art. 16a Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG), für den die unionsrechtlichen Bestimmungen der Dublin III-VO gelten, war im Zeitpunkt der Stellung des Asylantrages in Deutschland am 15. Juli 2020 noch nicht unanfechtbar abgeschlossen. Es endete nach Angaben der estnischen Behörden erst im September 2020.

Die mangels Vorliegens eines Zweitantrages zu Unrecht auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gestützte Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrages kann auch nicht auf der Grundlage einer anderen Rechtsgrundlage aufrechterhalten oder in eine solche umgedeutet werden (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - BVerwG 1 C 4.16 - juris Rn. 21 und vom 21. November 2017 - BVerwG 1 C 29.16 - juris Rn. 42 ff.). Bereits die Voraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG liegen nicht or. Einer Unzulässigkeitsentscheidung auf der Grundlage des einzigen ernsthaft in Betracht zu ziehenden Unzulässigkeitstatbestandes in § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit a) AsylG steht bereits die durch Ablauf der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO begründete Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für das Asylverfahren des Antragstellers entgegen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt, da der Antragsteller ihrer nach der unanfechtbaren Kostenentscheidung zulasten der Antragsgegnerin nicht bedarf.

Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.

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