SG Dessau-Roßlau, Urteil vom 05.12.2019 - S 6 R 211/16
Fundstelle
openJur 2021, 26364
  • Rkr:
Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über eine Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung SGB VI).

Der am ... 1972 geborene Kläger absolvierte nach dem Abschluss der 10. Klasse eine Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann für Land- und Nahrungsgüterwirtschaft und arbeitete nachfolgend zuletzt bis 2009 als Bürokaufmann. Der Kläger hatte im November 1988 eine Augenverletzung und 1992 einen Motorradunfall erlitten.

Am 15. Mai 2014 beantragte der Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten. Wegen des Verlustes des rechten Auges, häufiger Kopfschmerzen, zunehmender Konzentrationsschwierigkeiten, Depressionen, ständigen Tränens der Augenprothese und eines rechten zertrümmerten Unterschenkels nach einem Motorradunfall sei er nicht mehr in der Lage, eine Erwerbstätigkeit auszuüben.

Die Beklagte holte ein orthopädisches Gutachten von Dr. E. nach Untersuchung vom 17. Juli 2015 ein. Mit Gutachten vom 17. Juli 2015 teilte Dr. E. folgende Diagnosen mit:

chronisches lumbales vertebragenes Schmerzsyndrom ohne neurologische Defizite und ohne wesentliche Funktionseinschränkung

leichtgradige Funktionseinschränkung des rechten oberen Sprunggelenkes bei Zustand nach operativ behandelter Unterschenkelfraktur rechts

Verlust des rechten Auges.

Dr. E. schätzte aus orthopädischer Sicht ein, dass der Kläger leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in überwiegend sitzender Körperhaltung mit der Möglichkeit des Haltungswechsels ohne häufiges Bücken, Hocken und Knien sowie ohne das ständige Heben, Bewegen und Tragen mittelschwerer oder schwerer Lasten und ohne Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten sechs Stunden und mehr ausführbar seien. Auch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Bürokaufmann könne der Kläger sechs Stunden und mehr täglich verrichten.

Zudem ließ die Beklagte den Facharzt f. Neurologie und Facharzt f. Psychiatrie Dipl. Med. S. nach Untersuchung vom 9. Juli 2015 ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten erstatten. Dipl. Med. S. berichtete über eine Schussverletzung des Klägers mit 16 Jahren durch eine selbstgebaute Pistole. Hinsichtlich der Diagnosen teilte Dipl. Med. S. folgende mit:

Verdacht auf leichtes depressives Syndrom (Differenzialdiagnose Dysthymia)

Sensibilitätsstörungen im Bereich des rechten Unterschenkels

derzeit keine feststellbare neurologische Erkrankung

Ausschluss einer kognitiven Störung

Verlust des rechten Auges.

Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht sei der Kläger in der Lage, sechs Stunden und mehr täglich einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 22. Oktober 2015 ab. Bei dem Kläger liege trotz der festgestellten Krankheiten und Behinderungen ein Leistungsvermögen für mindestens sechs Stunden täglich vor.

Hiergegen erhob der Kläger am 17. November 2015 Widerspruch, den er mit seiner Behinderung aufgrund der Einäugigkeit begründete. Aufgrund der Einäugigkeit sei er unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes qualitativ nicht einsetzbar.

Im Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte den Facharzt f. Augenheilkunde Dr. U. am 5. April 2016 nach Untersuchung am 24. März 2016 ein augenärztliches Gutachten erstatten. Dr. U. verwies darauf, dass 1988 nach dem Lösen der hinteren Laufverriegelung einer selbstgebauten Pistole der Kläger eine perforierte Augenverletzung rechts erlitt und nachfolgend eine Augenprothese angepasst werden musste. Der Kläger habe nach der Verletzung die Lehre zum Bürokaufmann erfolgreich durchlaufen und war nachfolgend mehrere Jahre im erlernten Beruf tätig. Dr. U. hielt fest, dass der Kläger nicht räumlich sehen kann und unter einer Rot-Grün-Schwäche leidet sowie einer stark erhöhten Blendempfindlichkeit und einem stark eingeschränkten Kontrastsehen. Das Gesichtsfeld links sei nicht eingeschränkt. Aus augenärztlicher Sicht sind folgende Diagnosen festzustellen:

Glasaugenprothese rechts bei Zustand nach Enukleatio bulbi im Rahmen einer Schussverletzung 1988

Myopie und beginnende Pressbyopie links

amelanotischer Irisnaevus, Differenzialdiagnose Iriszyste links

Nachtblindheit

Farbsehstörung.

Dr. U. wies darauf hin, dass bei bester Korrektur das linke Auge nicht sehbehindert sei. Das Nahsehen sei nur altersbedingt eingeschränkt und könne durch eine Brillenanpassung begegnet werden. Zudem seien das räumliche Sehen nicht möglich und das Kontrast-, Nach- und Dämmerungssehen deutlich eingeschränkt. Der Kläger sei tagsüber mit Brille fahrtauglich für Pkw und nicht höhentauglich. Während der Untersuchung habe sich der Kläger zielgerichtet mit guter Raumorientierung bewegt. Der Kläger sei aus augenärztlicher Sicht in seinem erlernten Beruf als Bürokaufmann für mehr als sechs Stunden einsetzbar. Der Arbeitsplatz sollte gut ausgeleuchtet sein. Nach Anpassung von Fern- und Nahbrille und ausreichender Arbeitsplatzbeleuchtung seien dem Kläger alle Tätigkeiten, die keine erhöhte Anforderung an das räumliche Sehen stellen, möglich. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten überwiegend im Sitzen ohne Tätigkeiten auf Leitern oder Gerüsten seien vor allem in Tagschicht sechs Stunden und mehr dem Kläger zumutbar. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 22. Juni 2016 Klage erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, die Beklagte sei zu weiterer Sachaufklärung verpflichtet. Nach früherer Rechtsprechung des Bundessozialgerichts führe die Einäugigkeit bereits zur Annahme einer schweren, spezifischen Leistungsbehinderung mit der Folge, dass dem Versicherten eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen sei. Von dieser Rechtsprechung sei das BSG zwar abgerückt und fordere nunmehr eine Bewertung sämtlicher Gesichtspunkte im Einzelfall. Es sei jedoch weder im Ausgangs- noch im Widerspruchsbescheid zu entnehmen, dass die Beklagte eine entsprechende Prüfung des Einzelfalls vorgenommen hätte. Auch habe die Beklagte nicht festgestellt, ob eine Wegefähigkeit des Klägers gegeben ist.

Der Kläger beantragt ausdrücklich,

die Beklage zu verurteilen, ihm unter Aufhebung des angegriffenen Bescheides vom 22. Oktober 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 2016 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Bescheid vom 22. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 2016 für zutreffend.

Auf Nachfrage des Gerichts zu den ambulanten Behandlungen der letzten Jahre hat der Kläger mitgeteilt, sich jährlich zur Prophylaxe in zahnärztlicher Behandlung zu befinden. Ansonsten sei er zur Routineuntersuchung im Zusammenhang mit der Ausstellung eines neuen Rezeptes für eine Augenprothese bei Dr. S. in augenärztlicher Behandlung.

Nach Durchführung eines Erörterungstermins, mit dem Hinweis, dass keine Erfolgsaussichten für das Klageverfahren gesehen werden, haben die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der Beratung gewesen ist, Bezug genommen.

Gründe

Mit Einverständnis der Beteiligten hat die Kammer ohne mündliche Verhandlung entscheiden können (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet.

Die Beklagte hat den Antrag des Klägers zu Recht abgewiesen, weil diesem ein Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Mai 2014 nicht zusteht. Der ablehnende Bescheid vom 22. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger deshalb nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Nach § 43 Abs. 1, Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Der Kläger ist jedoch weder teilweise noch voll erwerbsgemindert. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder wegen Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigten.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann der Kläger unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Dabei geht die Kammer von folgendem Leistungsbild aus:

Der Kläger kann noch leichte, körperliche Tätigkeiten überwiegend im Sitzen sechs Stunden und mehr täglich verrichten. Dabei sind folgende Einschränkungen zu berücksichtigen: ohne häufiges Bücken, Hocken, Knien, ohne Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten in Tagschicht mit Anpassung von Fern- und Nahbrille und ausreichender Arbeitsplatzbeleuchtung, ohne erhöhte Anforderungen an das räumliche Sehen.

Dieses Leistungsbild ergibt sich für die Kammer aufgrund eigener Urteilsbildung aus dem Gesamtbild der medizinischen Ermittlungen in den voran gegangenen Verwaltungsverfahren, insbesondere aus den überzeugenden Gutachten von Dr. E. vom 17. Juli 2015, Dipl. Med. S. vom 16. Juli 2015 und Dr. U. vom 5. April 2016.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bestehen bei dem Kläger vordergründig Gesundheitsstörungen auf orthopädischem und auf augenärztlichem Fachgebiet. Er leidet unter dem Verlust des rechten Auges. Aufgrund dessen ist das räumliche Sehen ausgeschlossen und des bestehen Einschränkungen im Kontrast-, Nacht- sowie Dämmerungssehen. Das linke Auge ist nicht sehbehindert und auch hinsichtlich des linken Auges ist das Gesichtsfeld nicht eingeschränkt. Die von dem Kläger geschilderten Kopfschmerzen resultieren aus der fehlerhaften Anpassung der Brillenversorgung. Dies hat Dr. U. ausdrücklich bestätigt.

Darüber hinaus leidet der Kläger unter einem chronischen lumbalen vertebragen Schmerzsyndrom. Neurologische Defizite oder wesentliche Funktionseinschränkungen sind durch dieses Schmerzsyndrom nicht belegt. Der Kläger befindet sich nicht in fachorthopädischer Behandlung. Auch die leichtgradigen Funktionseinschränkungen des rechten oberen Sprunggelenks begründen lediglich qualitative Leistungseinschränkungen, jedoch keine zeitliche Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens auf unter sechs Stunden. Eine Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit der Hände ist nicht gegeben.

Auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet hat Dipl. Med. S. lediglich eine Sensibilitätsstörung im Bereich des rechten Unterschenkels festgestellt. Eine neurologische Erkrankung liegt nicht vor und lediglich der Verdacht auf ein leichtes depressives Syndrom. Kognitiv ist der Kläger nicht beeinträchtigt.

Eine körperlich leichte Arbeit im Wechsel von Stehen, Gehen und überwiegendem Sitzen ist dem Kläger somit zumutbar.

Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger wegen einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein konnte. Insoweit kommt nur die Fallgestaltung einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung wegen des Verlustes des rechten Auges in Betracht. Das linke Auge ist jedoch nicht beeinträchtigt, so dass nur das räumliche Sehen sowie das Nacht- und Dämmerungs- sowie Kontrastsehen eingeschränkt ist. Die drei Gutachter haben übereinstimmend ausgeführt, dass der Kläger noch in der Lage ist, seine erlernte Tätigkeit im Büro sechs Stunden und mehr zu verrichten, so dass das Restleistungsvermögen des Klägers noch für Verrichtungen wie z. B. Bürohilfsarbeiten ausreicht (vgl. die Aufzählungen in dem Beschluss des Großen Senats des Bundessozialgerichts vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95, in der Anwendbarkeit auf die aktuelle Rechtslage bestätigt in BSG, Urt. v. 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - juris Rn. 14 ff.).

Schließlich war der Kläger auch aus gesundheitlichen Gründen nicht gehindert, einen Arbeitsplatz aufzusuchen. Denn es besteht kein Zweifel, dass der Kläger viermal täglich Fußwege von mehr als 500 Meter in jeweils weniger als 20 Minuten zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzen kann. Einschränkungen der Wegefähigkeit sind weder aus orthopädischer noch aus neurologischer Sicht bestätigt. Zudem ist der Kläger in der Lage, ein Kfz zu führen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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