VG Freiburg, Urteil vom 16.07.2021 - A 4 K 6047/17
Fundstelle
openJur 2021, 25987
  • Rkr:

Das Einverständnis eines Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ist grundsätzlich bindend. Etwas Anderes kommt nur bei einer wesentlichen Änderung der Prozesslage in Betracht (hier verneint).

Nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für einen an einer chronischen Lungensarkoidose leidenden 35-jährigen Nigerianer.

Auf der Grundlage der aktuellen Auskunftslage lässt sich nicht annehmen, dass eine schwere Lungensarkoidose (radiologisch Stadium 2) mit bislang unkontrolliertem Krankheitsverlauf in Nigeria behandelbar ist.

Tenor

Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger seine Klage zurückgenommen hat.

Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Nigeria vorliegt. Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 05.07.2017 werden aufgehoben.

Der Kläger trägt 2/3 und die Beklagte 1/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Nigeria.

Der Kläger ist nigerianischer Staatsangehörige. Eigenen Angaben zufolge verließ er sein Heimatland im Oktober 2015 und reiste am 27.05.2016 von Italien kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 16.06.2016 nahm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag des Klägers förmlich auf. Dabei gab dieser zu seiner Person an: Er sei am X.1986 in "X" (gemeint wohl: X, Nigeria) geboren, vom Volk der Ibo, christlichen Glaubens und ledig.

Bei seiner Bundesamtsanhörung am 18.10.2016 trug der Kläger vor: Er habe bis zu seiner Ausreise aus Nigeria in X gelebt. Seine Eltern seien bereits verstorben. Er habe die Schule bis zur zehnten Klasse besucht, aber keinen Abschluss gemacht. Er sei in Nigeria als Landwirt tätig gewesen, wie schon sein Vater. Nach dem Tod seines Vaters (am 12.09.2014) habe sein Onkel ihn bedroht und versucht ihn umzubringen, um an das Grundstück seines Vaters zu gelangen. Eines Tages sei er auf dem Grundstück von drei dort auf ihn wartenden Personen angegriffen und mit einer Flasche verletzt worden. Aus Furcht vor seinem Onkel habe er Nigeria verlassen. Seine finanzielle Situation vor der Ausreise sei durchschnittlich gewesen. Das Grundstück gehöre weiterhin ihm. Außer seinem Onkel habe er keine weiteren Verwandten mehr in Nigeria.

Mit Bescheid vom 05.07.2017, zugestellt am 11.07.2017, lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1), auf Asylanerkennung (Ziff. 2) und auf subsidiären Schutz (Ziff. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 4). Weiterhin forderte es den Kläger auf, Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen; für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Nigeria angedroht (Ziff. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 6).

In der Begründung des Bescheids führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Der Kläger habe weder einen Anspruch auf Asyl oder Flüchtlingsschutz noch auf subsidiären Schutz. Selbst bei Wahrunterstellung seines Vorbringens fehle es bereits an einem Anknüpfungsmerkmal gemäß § 3b AsylG. Zudem stünde dem Kläger im Hinblick auf die geltend gemachte Bedrohungslage durch seinen Onkel jedenfalls eine innerstaatliche Schutzmöglichkeit zur Verfügung. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Es sei nicht ersichtlich, warum der alleinstehende, junge und arbeitsfähige Kläger nicht mehr in der Lage sein sollte, seinen Lebensunterhalt in Nigeria zu sichern. Er könne voraussichtlich auch auf Unterstützung durch Familien- oder Stammesangehörige zurückgreifen. Seine Behauptung, dass er außer seinem Onkel niemanden mehr habe, sei angesichts der in Nigeria vorherrschenden familiären Strukturen nicht glaubhaft.

Am 20.07.2017 hat der Kläger Klage erhoben. Seine damalige Prozessbevollmächtigte hat mit Schriftsätzen vom 03.08.2018 und 19.11.2018 zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen: Der Kläger habe Nigeria wegen einer Erbstreitigkeit mit seinem Onkel verlassen, nachdem er von drei Personen, die vermutlich sein Onkel beauftragt habe, mit einer Flasche am Kopf verletzt worden sei. Im Falle einer Rückkehr fürchte er von seinem Onkel umgebracht zu werden. Darüber hinaus stehe sein Gesundheitszustand einer Abschiebung nach Nigeria entgegen. Er leide an einer schweren Lungensarkoidose, die einer engmaschigen fachärztlichen Verlaufskontrolle und einer medikamentösen Behandlung bedürfe, die er in seinem Heimatland nicht erhalten könne.

Im Laufe des Verfahrens legte der Kläger mehrere ärztliche Atteste vor, unter anderem den Bericht der Lungenfachklinik X vom 08.06.2018, die Berichte einer pneumologischen Arztpraxis in X vom 19.07.2018, 15.09.2018 und 14.03.2019 sowie Berichte des Universitätsklinikums X, Department Innere Medizin, Klinik für Pneumologie, vom 05.10.2018, 26.10.2018, 12.06.2019 und 27.06.2019. Aus diesen geht hervor, dass der Kläger an einer schweren Sarkoidose der Lunge (radiologisches Stadium 2) leide. Seit Oktober 2018 wurde er vom Universitätsklinikum X mit einer Reihe von Medikamenten medikamentös therapiert und regelmäßig fachärztlich untersucht. Im Bericht des Universitätsklinikums vom 12.06.2019 wird zudem angemerkt, dass die Lungenerkrankung des Klägers bei unzureichender Behandlung zu einer schweren respiratorischen Insuffizienz bis hin zum Tod führen könne.

Hierzu nahm das Bundesamt unter dem 09.07.2019 wie folgt Stellung: Die Erkrankung des Klägers sei in Nigeria behandelbar. Nach den Auskünften der deutschen Botschaft in Lagos vom 16.09.2004 und vom 10.05.2004 sei die Behandlung einer Sarkoidose dort grundsätzlich möglich, einschließlich Voruntersuchungen wie Lungenfunktionstest oder eine Sonographie der Leber. In den vergangenen 15 Jahren seit der Erteilung der Auskünfte habe sich die medizinische Versorgung in den größeren Städten in Nigeria sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor deutlich verbessert.

Mit Beschluss vom 31.07.2019 (A 4 K 6047/19) hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung einer Auskunft des Auswärtigen Amtes bzw. der deutschen Botschaft in Abuja zur Möglichkeit und Finanzierbarkeit einer ärztlichen und medikamentösen Behandlung der beim Kläger diagnostizierten Lungensarkoidose. Angefragt wurde unter anderem, ob die dem Kläger damals verschriebenen Medikamente (Cotrim ratio, Flutiform, Pantoprazol, Arava, Azathioprin, Decortin) oder wirkstoffgleiche Medikamente in Nigeria verlässlich erhältlich seien und welche monatlichen Kosten dem Kläger bei einer täglichen Einnahme dieser Medikamente entstünden. Gefragt wurde weiterhin, ob eine regelmäßige ärztliche Verlaufskontrolle (mit entsprechenden Untersuchungsmöglichkeiten einer Lungensarkoidose) verfügbar sei und eine jederzeitige stationäre Aufnahme des Klägers in X oder sonst in Nigeria gewährleistet wäre und wie hoch die zu erwartenden monatlichen Kosten für eine solche Behandlung wären.

Unter dem 09.09.2019 legte die damalige Prozessbevollmächtigte des Klägers die Kopie des Schwerbehindertenausweises des Klägers vor (Grad der Behinderung 50 %).

Mit E-Mail vom 13.03.2020 antwortete das Auswärtige Amt auf die gerichtliche Anfrage vom 31.07.2019. Zu Beweisfrage Ziffer 1 (halbjährige ärztliche Verlaufskontrolle und stationäre Aufnahme) wurde mitgeteilt, dass diese Behandlungen verfügbar seien. Zu Beweisfrage Ziffer 2 (Erhältlichkeit der genannten sechs Medikamente) wurde mitgeteilt: "Arava (Leflunomid) ggfs. über private Apotheke". Zu Beweisfrage Ziffer 3 (monatliche Kosten für die Behandlung) wurden nur die Kosten für drei der sechs angefragten Medikamente genannt (Cotrim ratio 480mg, eine Packung mit 100 Tabletten für 4.500 Naira; Decortin 20mg, eine Packung mit 100 Tabletten für 2.800 Naira; Pantoprazol 20mg, eine Packung mit 28 Tabletten für 1.500 Naira) und weiter mitgeteilt, dass diese drei Arzneistoffe bei "Mopeth Pharmacy Lekki" erhältlich seien; Angaben zu den voraussichtlichen Kosten der ärztlichen Behandlung in Nigeria fehlen vollständig. Zu Beweisfrage Ziffer 4 (medizinische Versorgung im Falle eines Rezidivs der Sarkoidose mit allmählicher Einschränkung der Lungenfunktion bis zur respiratorischen Insuffizienz und lebensbedrohlichen Komplikationen) wurde mitgeteilt, dass diese im privaten Sektor gewährleistet sei, in öffentlichen Krankenhäusern (3dl level) hingegen nur eingeschränkt "je nach Ausstattung und Funktionsfähigkeit".

Hierzu nahm das Bundesamt mit Schriftsatz vom 23.03.2020 Stellung: Aufgrund der Auskunft des Auswärtigen Amtes könne davon ausgegangen werden, dass eine stationäre Aufnahme in Nigeria möglich sei und im privaten Sektor eine medizinische Versorgung des Klägers auch bei einem Rezidiv der Sarkoidose gewährleistet sei. Die benötigten Medikamente wie Decortin und Arava seien ebenfalls verfügbar und könnten vom Kläger auch erworben werden, denn dieser sei immer noch Eigentümer von Grundstücken in Nigeria und somit in der Lage, durch den Verkauf seiner Grundstücke die notwendigen Mittel für den Erwerb der Medikamente zu erlangen. Außerdem könne von einer Unterstützung des Klägers durch seine Familie ausgegangen werden.

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers äußerte sich mit Schriftsatz vom 09.04.2020: Aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes gehe nicht hervor, wo in Nigeria eine Verlaufskontrolle und eine stationäre Aufnahme möglich seien und welche Kosten hierfür anfielen. Nach der Auskunft seien allenfalls drei der sechs benötigten Medikamente in Nigeria verfügbar, diese aber offenbar nur bei einer Pharmafirma (Mopeth Pharamacy Lekki) und nicht in einer Apotheke erhältlich. Allein die Kosten für je ein Päckchen der wohl verfügbaren drei Medikamente beliefen sich auf 8.800,- EUR, was umgerechnet derzeit 21,- EUR entspreche. Das durchschnittliche Monatseinkommen in Nigeria liege bei umgerechnet 138,- EUR, wobei der Kläger dieses allein wegen seiner Erkrankung nicht werde erzielen können. Die gerichtliche Anfrage zu den anfallenden Kosten sei hinsichtlich der Medikamente nur teilweise und hinsichtlich der Krankenhausbehandlungskosten gar nicht beantwortet worden. Da konkrete Angaben zur Höhe der voraussichtlichen Behandlungskosten fehlten, greife der pauschale Verweis des Bundesamts auf die Möglichkeit eines Verkaufs von Grundstücken nicht durch, zumal der Kläger nur ein Grundstück von seinem Vater geerbt habe und dieses Stück Agrarland als Landwirt seine Existenzgrundlage darstelle. Das besagte Stück Land sei zudem vom Onkel des Klägers zwischenzeitlich übernommen worden. Der Kläger könne nicht dorthin zurück, da es sich damit der Gefahr aussetzen würde, wieder von seinem Onkel angegriffen und verletzt zu werden. Darüber hinaus stelle die Lungenerkrankung des Klägers auch mit Blick auf die Corona-Pandemie eine erhebliche Lebensgefahr dar.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 17.06.2020 wurde das Auswärtige Amt ersucht, seine Auskunft vom 13.03.2020 zu erläutern und zu ergänzen. Unter anderem wurde um Konkretisierung gebeten, welche der angefragten sechs Medikamente in einer (staatlichen oder privaten) Apotheke in Nigeria verlässlich erhältlich seien und welche Kosten hierfür anfielen. Außerdem wurde um eine Beantwortung des Auskunftsbegehrens zu den monatlichen Kosten für die benötigte ärztliche Behandlung gebeten (ggf. mit einer Differenzierung nach einer Behandlung im öffentlichen oder im privaten Sektor).

Mit E-Mail vom 24.08.2020 teilte das Auswärtige Amt mit, dass der Dienstbetrieb der deutschen Botschaft in Abuja wegen der Corona-Pandemie nur eingeschränkt möglich sei und sich die Beantwortung der gerichtlichen Anfrage daher verzögere. Eine weitere Auskunft des Auswärtigen Amts ging bis zum heutigen Tag nicht ein.

Mit Beschluss vom 13.11.2020 (A 4 K 6047/17) hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines ärztlichen Gutachtens von Prof. Dr. med. X, Ärztlicher Direktor der Klinik für Pneumologie des Universitätsklinikums X. Angefragt wurde unter anderem, welchen Schweregrad die Lungenerkrankung des Klägers habe; welcher Behandlung (medikamentös, ärztliche Verlaufskontrolle etc.) der Kläger aktuell bedürfe; wie sich die Erkrankung bei ihm derzeit konkret äußere (Symptome, Beschwerden, Einschränkungen im Alltag, Arbeitsfähigkeit); mit welchen gesundheitlichen Folgen im Falle einer Abschiebung des Klägers nach Nigeria voraussichtlich zu rechnen wäre, wenn dort eine regelmäßige ärztliche Verlaufskontrolle gewährleistet wäre und die Medikamente Cotrim ratio sowie Decortin zur Verfügung stünden; mit welchen gesundheitlichen Folgen bei einem Behandlungsabbruch oder einer Unterbrechung der Behandlung über einen relevanten Zeitraum voraussichtlich zu rechnen wäre; wie hoch statistisch gesehen oder nach Erfahrungswerten die Wahrscheinlichkeit einer Spontanheilung der Erkrankung einerseits bzw. eines schweren oder lebensbedrohlichen Verlaufs andererseits sei und ob dies im Falle des Klägers naheliege.

In seinem fachärztlichen Gutachten vom 01.12.2020 führte der Sachverständige unter Ziffer I ("Anamnese") aus: Der Kläger habe im Rahmen des mithilfe einer Dolmetscherin geführten Anamnesegesprächs am 26.11.2020 von einem chronisch reduzierten Allgemeinbefinden berichtet. Im Vordergrund stünden unverändert die respiratorischen Beschwerden, wenngleich es tageweise Unterschiede gebe. Er habe anhaltend meist trockenen Reizhusten, der sich bei körperlicher Belastung und bereits beim Sprechen verstärke und ihn dann auch zu Unterbrechungen zwinge. Bedingt durch die Hustenattacken spüre er diffuse Thoraxschmerzen. Er sei insgesamt wenig belastbar und erschöpfe sich bei Belastung wie leichtem Fahrradfahren rasch, so dass auch einfache alltägliche Tätigkeiten erschwert ausführbar seien. Die immunsuppressive Therapie habe die Symptome nicht substantiell verbessern können. Juckende Hautveränderungen am Rücken habe er mit einer Salbe vom Hautarzt behandelt, auch an den Beinen habe er Juckreiz und Haarsausfall. Gelenk- oder Muskelschmerzen habe der Kläger verneint, ebenso wiederkehrende Visusstörungen; er habe nur vor längerer Zeit einmalig bei nächtlichem Erwachen Doppelbilder vernommen. Gelegentlich habe er reversible Hörstörungen und könne den Gesprächspartner nicht akustisch wahrnehmen. Nach eigenen Angaben bestanden keine Unterbrechungen in der Medikamenteneinnahme. Eine Steroidpsychose oder Induktion von Albträumen durch die Einnahme von Cortison habe der Kläger auf Nachfrage verneint, ebenso Nachtschweiß oder Fieber. Er sei bis November 2019 im Montagebereich einer Firma in X angestellt und danach arbeitsunfähig gewesen; demnächst würde er eine neue Arbeitsstelle in einer anderen Firma im Automobilbereich/Industrieservice antreten. Aktuelle Medikation: Pantoprazol 40mg (1-0-0), Prednison 10mg (1-0-0), Leflunomid 10mg (2-0-0), Cotrim Forte 960mg (0-1-0, Montag, Mittwoch, Freitag), Codein 22mg (0-0-0-1), Flutiform 250/10µg (2-0-2), Salbutamol 100µg (bei Bedarf), Metamizol 500mg (bei Bedarf). Unter Ziffer III ("Technische Untersuchungen") wurde ausgeführt: Erhöhte, aber leicht rückläufige Leberwerterhöhung, möglicherweise medikamentös bedingt durch den Sarkoidose-Befall. Deutlich erhöhte serologische Aktivitätsparameter im Rahmen der Sarkoidose. Messung der CO-Diffusionskapazität wiederholt nicht durchführbar aufgrund von ausgeprägtem Hustenreiz und der Unmöglichkeit einer Apnoe über zehn Sekunden. Hustenbedingt eingeschränkte Mitarbeit bei der Ganzkörperplethysmographie (spezifischer Lungenfunktionstest, u.a. zur Messung des Atemwiderstands und einer Lungenüberblähung). Leicht erhöhter zentraler Atemwegswiderstand. Mittel- bis schwergradige restriktive Ventilationsstörung mit leichter relativer Überblähung. Unter Ziffer 4 ("Diagnosen") heißt es: Chronische Sarkoidose radiologisch Stadium 2. Unter Ziffer 5 ("Zusammenfassung und Beurteilung") führte der Gutachter im Wesentlichen aus: Der Kläger sei bereits seit längerer Zeit in der pneumologischen Abteilung des Universitätsklinikums X angebunden, die erstmalige ambulante Vorstellung sei am 21.09.2018 erfolgt. Es bestehe zweifelsfrei eine Sarkoidose der Lunge und der thorakalen Lymphknoten. Die initiale Diagnostik sei in der Lungenfachklinik X im Mai 2018 erfolgt. Von den dortigen Kollegen sei eine Steroidtherapie mit 50 mg pro Tag eingeleitet worden. Eine mögliche steroidinduzierte psychische Beeinflussung mit verstärkten Albträumen sei damals angenommen worden, dies habe der Kläger aktuell aber nicht bestätigt. Eine regelmäßige Medikamenteneinnahme habe er glaubhaft versichert, z.B. ließen Juckreiz und Haarausfall auf eine regelmäßige Einnahme von Leflunomid schließen, da dies eine häufig beschriebene Nebenwirkungen sei. Im Verlauf der Behandlung habe sich sukzessive eine relevante lungenfunktionelle Verschlechterung über den Zeitraum von zwei Jahren eingestellt. Es bestehe eine mittel- bis schwergradige restriktive Ventilationsstörung. Die Vitalkapazität (VCmax) habe im Vergleich zum Jahr 2018 substantiell um 1200 ml abgenommen (von 71,1 % auf 47,7 %), die totale Lungenkapazität (TLC) um 990 ml. Die Diffusionskapazität als sehr sensitive Methode zur Erfassung einer Gasaustauschstörung sei aufgrund von rezidivierendem Hustenreiz bei der Messung nicht verfügbar und könne daher nicht zur Beurteilung herangezogen werden. Auffallend sei, dass trotz einer immunsuppressiven Therapie die Krankheitsaktivität und Symptomatik persistiere, was sich neben den fortbestehenden klinischen Beschwerden anhand des mehrfachen Nachweises einer ausgeprägten Lymphozytose sowie anhaltend erhöhten serologischen Aktivitätsparametern zeige. Auch unter der alternativen Zweitlinientherapie (Steroid + Leflunomid) müsse die Sarkoidose derzeit unverändert noch als aktiv bis refraktär gewertet werden, wenngleich in der aktuellen Untersuchung eine weitere signifikante lungenfunktionelle Verschlechterung verglichen zur Voruntersuchung ausgeblieben sei und auch die serologischen Aktivitätsparameter langsam fallend, wenngleich weiter deutlich erhöht seien. Es könne nur durch das Beobachten des Verlaufs erkannt werden, ob der Trend unter der jetzigen Therapie anhalte und, wenn auch verzögert, zu einer Remission oder einer ausreichenden Krankheitskontrolle führen werde. Eine "Ausheilung" der Sarkoidose könne im Fall des Klägers mit den aktuellen Befunden nicht erwartet werden, so dass ein chronischer Verlauf mit regelmäßigem Kontrollbedarf bestehe. Aufgrund der Möglichkeit einer disseminierten Organbeteiligung seien auch jährliche routinemäßige kardiologische und augenärztliche Kontrollen angezeigt. Bislang habe man eine solche Organaffektion ausschließen können. Aus dem klinischen Alltag sei ein gehäufter Anteil schwierig zu kontrollierender Verläufe bei Sarkoidose-Patienten afrikanischer Herkunft bekannt. Bei dieser Form einer seltenen Erkrankung bestünden keine Leitlinien zur standardisierten Therapien. Daher könnten medikamentöse Therapien nur der Erfahrung nach und mit dem Prinzip von Versuch und Irrtum ausprobiert werden. Die verfügbaren Therapieoptionen würden häufig auch nach Kostenüberlegungen ausgewählt, da für selektivere, experimentellere Therapien eine Kostenübernahmezusage des Kostenträgers vorliegen müsse. Bleibe eine wesentliche klinische Besserung in der nächsten Kontrolluntersuchung weiterhin aus, plane man eine Therapiefortsetzung z.B. mit dem Arzneistoff Mycophenolatmofetil oder alternativ auch intravenöse Cyclophosphamid-Stöße, die aufgrund der nur geringen Produktkosten eher realisierbar sein dürften. Bei ausbleibendem Ansprechen seien letztlich auch spezifische "TNF-alpha-neutralisierende Optionen" zu evaluieren, etwa eine Therapie mit Infliximab, Adalimumab oder inhalativem Aviptadil. Diese Therapien seien zwangsläufig mit viel höheren Kosten verbunden. Wegen der weiteren Einzelheiten und der Beantwortung der gerichtlichen Beweisfragen wird auf das Gutachten verwiesen.

Auf einen entsprechenden Hinweis des Gerichts vom 07.12.2020 hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers die Klage mit Schriftsatz vom 28.12.2020 auf die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Nigeria beschränkt und sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Das Bundesamt hat auf die gerichtlichen Schreiben vom 07.12.2020 und 17.06.2021 mit der Aufforderung zur Stellungnahme nicht reagiert.

Der Kläger beantragt (zuletzt noch),

die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Nigeria vorliegt, und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 05.07.2017 aufzuheben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Dem Gericht liegt ein pdf-Auszug der elektronischen Bundesamtsakte des Klägers (Az. 6761203-232, 88 Seiten) vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt dieser Akte und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Gründe

I.

Die Entscheidung ergeht durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer und ohne mündliche Verhandlung, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (vgl. § 87a Abs. 2 und 3, § 101 Abs. 2 VwGO).

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schriftsatz vom 28.12.2020 ihr Einverständnis nach § 101 Abs. 2 VwGO erteilt. Für die Beklagte hat das Bundesamt am 27.06.2017 eine entsprechende allgemeine Prozesserklärung für alle anhängigen Asylverfahren abgegeben. Soweit es diese mit Schreiben vom 23.12.2020 (und klarstellend mit Schreiben vom 20.01.2021) aufgehoben hat, kommt dem keine Rückwirkung für das vorliegende Verfahren zu. Denn der Verzicht eines Beteiligten auf mündliche Verhandlung ist im Grundsatz bindend (BVerwG, Beschl. v. 08.07.2008 - 8 B 29.08 - juris, Rn. 6 m.w.N.; Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, 40. Lfg. Februar 2021, § 101, Rn. 35, jeweils m.w.N.). Dies mag bei einer wesentlichen Änderung der Prozesslage jedenfalls dann, wenn den Beteiligten erneut rechtliches Gehör zu geben ist, anders sein (vgl. zum Streitstand Riese, in: Schoch/Schneider, a.a.O.). Eine solche Änderung der Prozesslage liegt hier aber nicht vor. Der Umstand, dass das Gericht mit Beschluss vom 13.11.2020 ein fachärztliches Gutachten zur der Lungenerkrankung des Klägers eingeholt und mit Hinweisen vom 07.12.2020 und 17.06.2021 seine vorläufige Rechtsauffassung dargelegt hat, fällt nicht darunter nicht. Denn es war bereits vor der gerichtlichen Beweiserhebung bekannt und wurde vom Bundesamt in seinen Stellungnahmen vom 09.07.2019 und 23.03.2020 auch nicht in Abrede gestellt, dass der Kläger an einer Lungensarkoidose leidet. Im Übrigen hat sich die Beklagte trotz Aufforderung zu dem Gutachten des Sachverständigen nicht geäußert.

II.

Nachdem der Kläger seine Klage zurückgenommen hat, soweit diese auf die Anerkennung als Asylberechtigter, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung von subsidiärem Schutz gerichtet war, wird das Verfahren insoweit gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingestellt. Das Bundesamt hat sich in seiner allgemeinen Prozesserklärung vom 27.06.2017 mit einer nachträglichen Klagerücknahme einverstanden erklärt (vgl. § 92 Abs. 1 Satz 2 VwGO) und diese Erklärung für bereits anhängige Asylverfahren im Schreiben vom 23.12.2020 auch nicht widerrufen.

III.

Soweit die Klage hinsichtlich der Zuerkennung eines Abschiebungsverbots bezüglich Nigeria aufrechterhalten wurde, ist sie als kombinierte Verpflichtungs- und Anfechtungsklage statthaft (vgl. § 42 Abs. 1 Alt. 1 und 2 VwGO) und auch sonst zulässig. Insbesondere ist die zweiwöchige Klagefrist (vgl. § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG) gewahrt.

IV.

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 05.07.2017 ist - soweit er angefochten wurde - rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Denn der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG, der seinem Sinn und Zweck nach auch auf den hier vorliegenden Fall anwendbar ist, dass eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht) einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Nigeria (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Daher waren die Ziffern 4 bis 6 des angegriffenen Bescheids aufzuheben (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im Einzelnen:

1. Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Nigeria, so dass die gegenteilige Feststellung in Ziffer 4 des Bescheids vom 05.07.2017 aufzuheben ist.

1.1 Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen ist nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen anzunehmen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Nach Satz 4 der Vorschrift ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist.

Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des betroffenen Ausländers, die dieser nicht mit einer Vielzahl seiner Landsleute teilt, so dass kein Bedürfnis für eine ausländerpolitische Leitentscheidung gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG besteht und die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG nicht greift, aufgrund der Verhältnisse im Zielstaat verschlimmert, ist als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Hinsichtlich der befürchteten individuellen Gesundheitsgefahr gilt damit der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn bei der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für den Eintritt der Gesundheitsgefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Die Gesundheitsgefahr ist hinreichend "konkret", wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald, d.h. zeitnah nach der Rückkehr des Betroffenen, einträte. Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung miteinzubeziehen. Eine krankheitsbedingte zielstaatsbezogene Gesundheitsgefahr kann sich dementsprechend auch daraus ergeben, dass die notwendige medizinische Behandlung oder Medikation im Zielstaat der Abschiebung zwar allgemein zur Verfügung steht, sie dem Betroffenen im Einzelfall jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. zum Ganzen zusammenfassend BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 - 1 C 3.11 -, juris Rn. 34; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, juris Ls. und Urt. v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, juris Ls. sowie VGH-Bad.-Württ., Urt. v. 11.04.2018 - A 11 S 1729/17 -, juris Rn. 368 ff., m.w.N.). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige ist ebenfalls in die gerichtliche Prognose miteinzubeziehen, ob eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, juris Rn. 10).

Krankheitsbedingte Gefahren, die sich allein als Folge des Abschiebungsvorgangs bzw. wegen des Verlassens des Bundesgebiets, nicht aber wegen der spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ergeben können, begründen hingegen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG und sind deshalb nicht vom Bundesamt im Asylverfahren, sondern als inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse von der zuständigen Ausländerbehörde zu prüfen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 - juris Ls. 2; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 07.11.2002 - A 12 S 907/00 -, juris Rn. 61).

1.2 Die tatsächlichen Verhältnisse in Nigeria stellen sich nach Durchsicht der vorhandenen Erkenntnismittel derzeit wie folgt dar: Die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage für die Mehrheit der nigerianischen Bevölkerung ist schwierig. Etwa 70% der Bevölkerung leben am Existenzminimum, wobei etwa 87 Millionen Nigerianer (ca. 40% der Bevölkerung) in extremer Armut leben, d.h. sie haben weniger als einen US-Dollar am Tag zur Verfügung. Frauen sind überdurchschnittlich stark von Armut betroffen. Der größte Teil der Bevölkerung lebt im Wesentlichen als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner vom informellen Handel sowie (Subsistenz-)Landwirtschaft; die Arbeitslosigkeit ist groß. Viele Menschen haben keinen Zugang zu Wasser und Strom (siehe zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 05.12.2020, Stand: September 2020, insb. S. 23; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria vom 23.11.2020, Version 2, insb. S. 69 ff. und S. 74; UK Home Office, Country Background Note Nigeria, Version 2.0, Januar 2020, S. 7 f.; EASO, Country of Origin Information Report, Nigeria: Key socio-economic indicators, November 2018, S. 30 f.).

Die medizinische Versorgung in den größeren Städten hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, jedoch hauptsächlich für Privatzahler. Auch in staatlichen Krankenhäusern müssen Behandlungen selbst bezahlt werden. Die allgemeine Kranken- und Rentenversicherung gilt nur für Beschäftigte im formellen Sektor (etwa 10 % der Bevölkerung). Auch hinsichtlich der Versorgung mit Medikamenten kommt es letztendlich darauf an, ob sich der Patient diese leisten kann. Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Auf dem freien Markt sind zwar günstige Generika erhältlich, teilweise allerdings mit zweifelhafter Qualität (zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria, a.a.O., S. 24 f.; BFA, Länderinformationsblatt zu Nigeria, a.a.O., S. S. 73 ff.; EASO, Country of Origin Report, a.a.O., S. 46 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note Nigeria: Medical and healthcare issues, Version 3.0, Januar 2020, insb. S. 6 ff. und S. 10 f.).

Ein staatlich organisiertes Hilfsnetz für Mittellose existiert nicht. Die Bedeutung der erweiterten Verwandtschaft ist daher nach wie vor groß. Es kann mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben, in dem keine Mitglieder ihrer Familie bzw. erweiterten Verwandtschaft leben. Angesichts der anhaltend schwierigen Wirtschaftslage, ethnischem Ressentiment und der Bedeutung groß-familiärer Bindungen in der nigerianischen Gesellschaft ist es für viele Menschen schwer, an Orten ohne ein bestehendes soziales Netz erfolgreich Fuß zu fassen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria, a.a.O., S. 17).

Diese ohnehin schwierigen Lebensumstände haben sich durch die Corona-Pandemie weiter verschlechtert. Die Wirtschaft Nigerias, die hochgradig vom Ölexport abhängig ist, leidet erheblich unter den seit dem Ausbruch der Pandemie drastisch gesunkenen Rohölpreisen. Die nigerianische Regierung hat allerdings eine Reihe von Gegen- und Hilfsmaßnahmen ergriffen, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie abzufedern, etwa frühzeitig Soforthilfen in Form von Krediten beim Internationalen Währungsfond beantragt, Konjunkturpakte zur Stärkung der nigerianischen Wirtschaft beschlossen, Hilfskredite der nigerianischen Zentralbank für die von der Pandemie am stärksten betroffenen Haushalte bewilligt und ein Hilfsprogramm zur Versorgung der armen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln aufgesetzt. Zugleich gibt es von Seiten Privater, der Kirchen und von NGOs zahlreiche Hilfs- und Unterstützungsangebote, die auf besonders Bedürftige, insbesondere Familien und alleinstehende Frauen, abzielen. Mit der Unterstützung durch im Land tätige Hilfsorganisationen konnte die nigerianische Regierung selbst in der Phase des strengen Lockdowns (zwischen März und Mai 2020) in allen Bundesstaaten eine Hungersnot durch die Ausgabe von Nahrungsmittel an besonders Bedürftige verhindern. Auch die in manchen Bundesstaaten verhängten Ausgangssperren und ähnliche Eindämmungsmaßnahmen, welche die Erwerbsmöglichkeiten im informellen Sektor, in dem die große Mehrheit der Nigerianer tätig ist, zeitweise stark eingeschränkt hatten, wurden seit Anfang Mai 2020 zunehmend wieder gelockert oder gänzlich aufgehoben (siehe zum Ganzen: iMMAP, COVID-19 Situation Analysis, Bericht vom 01.12.2020; Friedrich-Ebert-Stiftung, COVID-19 and the informal economy, Bericht vom August 2020, S. 10 f.; National Bureau of Statistics, Selected Food Prices Watch, Juni 2021; Auswärtiges Amt; Lagerbericht Nigeria vom 05.12.2020, Stand: September 2020, S. 23; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria vom 23.11.2020, Version 2, S. 5 f.; BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation zu Afrika, Covid-19 - aktuelle Lage, Stand: 09.07.2020, S. 12 ff.; UNHCR, Assessing the Socioeconomic Impact of COVID-19 on Forcibly Displaced Population, Bericht vom Juni 2021). Belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Existenzsicherung oder der Zugang zu einer medizinischen (Basis-)Behandlung in Nigeria durch die Corona-Pandemie derzeit grundsätzlich in Frage gestellt wäre, liegen damit zwar nicht vor. Gerade für vulnerable Schutzsuchende wie den Kläger sind die Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft und den nigerianischen Arbeitsmarkt aber ein weiterer, in den Blick zu nehmender Risikofaktor.

1.3 Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Maßstäbe und tatsächlichen Erkenntnisse sowie dem Ergebnis der Beweiserhebung hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass dem Kläger im Falle einer Abschiebung nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit eine wesentliche und sogar lebensbedrohliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands droht. Denn nach der Auskunftslage steht weder fest, dass die benötige medizinische Behandlung seiner Sarkoidose-Erkrankung in Nigeria verfügbar wäre (unter 1.3.1), noch lässt sich aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse annehmen, dass er diese finanzieren könnte (unter 1.3.2).

1.3.1 Aufgrund der vorgelegten Atteste aus den Jahren 2018 bis 2019 und des fachärztlichen Gutachtens vom 01.12.2020 steht fest, dass der Kläger an einer schweren Lungensarkoidose (radiologisches Stadium 2) leidet, die im Mai 2018 erstdiagnostiziert wurde und seitdem unverändert behandlungsbedürftig ist.

Die Erkrankung geht bei ihm unter anderem mit einer mittel- bis schwergradigen restriktiven Ventilationsstörung einher, das heißt mit einer deutlich verringerten Lungenkapazität und dadurch bedingten Atembeschwerden, einer Belastungsdyspnoe bereits bei geringem Belastungsniveau, rascher Ermüdbarkeit mit allgemeiner Leistungsminderung und sehr starkem chronischem Reizhusten tagsüber wie nachts (Gutachten S. 14 f.). Der Sachverständige weist zudem darauf hin, dass eine immunsuppressive Therapie unumgänglich sei, um weitere Schädigungen durch einen Sarkoidose-Befall anderer Organe abzuwenden und die Krankheit kontrollierbar zu machen oder bestenfalls zum "Abklingen" zu bringen, was unter den bislang unternommenen Therapieversuchen noch nicht gelungen sei. Bei Patienten in diesem schwer kontrollierbaren Krankheitsstadium seien engmaschige ärztliche Verlaufskontrollen, mindestens vierteljährlich, angezeigt (Gutachten S. 14). Die medikamentöse Therapie müsse stets reevaluiert werden, da für seltene Erkrankungen und insbesondere die Sarkoidose keine auf Studien basierenden Leitlinien bestünden, welche einen festen Therapieplan vorgeben und somit bei ausbleibendem Therapieansprechen auch Zweit- oder gar Trittlinientherapien im sogenannten "off-label-use" zu prüfen seien. Dies sei nur in spezialisierten Zentren mit entsprechender Expertise und entsprechendem Patientenkollektiv gewährleistet (S. 14). Der Krankheitsverlauf beim Kläger sei variabel und chronisch, so dass auch das derzeitige medikamentöse Regime nur von befristeter Gültigkeit sein dürfte. Cortison sei grundsätzlich ein essentielles Medikament für die Therapie der Sarkoidose, jedoch strebe man aufgrund der häufigen und bekannten Langzeitnebenwirkungen eine Cortison-sparende bis Cortison-freie Therapie an. Eine Dauertherapie mit einer Cortisondosis von 20mg sei nicht zu befürworten. Die Zusage einer grundsätzlichen Verfügbarkeit allein der beiden Medikamente Decortin und Cotrim ratio in Nigeria sei daher nur bedingt hilfreich; denn aufgrund des bisherigen Verlaufs sei nicht davon auszugehen, dass eine Cortison-Monotherapie ausreiche. Entscheidender sei vielmehr die Verfügbarkeit eines Immunsuppresivums, welches für den Kläger erst noch gefunden werden müsse, da unter Azathioprin und Leflunomid keine Stabilisierung des Krankheitsverlaufs habe erreicht werden können (Gutachten S. 16). Bei einem Behandlungsabbruch bzw. ohne eine spezifische Therapie der Erkrankung sei von einem beschleunigten, prognostisch ungünstigen Verlauf auszugehen. Bereits über die letzten zwei Jahre habe sich beim Kläger trotz medikamentöser Dauertherapie eine signifikante lungenfunktionelle Verschlechterung eingestellt. Eine weitere unkontrollierte Erkrankungssituation dürfte, eine in etwa gleichbleibende Dynamik vorausgesetzt, voraussichtlich in einigen Jahren - neben ggf. noch weiteren Komplikationen an anderen Organsystemen - zu einem irreversiblen Lungenfunktionsschaden führen, der perspektivisch eine unterstützende Langzeitsauerstofftherapie und eine Lungentransplantation erforderlich machen würde (Gutachten S. 16). Die Wahrscheinlichkeit eines schweren bis möglicherweise lebensbedrohlichen Verlaufs sei bei dieser Form der chronischen Sarkoidose und der aktuellen Befundkonstellation eindeutig als hoch zu bewerten, insbesondere im Falle einer unzureichenden medikamentösen Therapie und fehlender fachkundiger ärztlicher Anbindung (Gutachten S. 17). Hingegen sei die Wahrscheinlichkeit für einen spontan günstigen Verlauf bis hin zur Spontanheilung unter Berücksichtigung der aktuellen Befunde und des bisherigen klinischen Verlaufs als äußerst unwahrscheinlich zu bewerten (Gutachten S. 17 f.).

Dass diese schwerwiegende Lungenerkrankung des Klägers in Nigeria grundsätzlich behandelbar wäre, lässt sich nach Auffassung des Gerichts auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnismittel nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen. Die gegenteilige Annahme des Bundesamts beruht auf einer Auskunft des Auswärtigen Amtes aus dem Jahre 2004, der bereits aufgrund des erheblichen Zeitablaufs allenfalls eine bedingte Aussagekraft zukommt. Soweit auch in der Rechtsprechung die grundsätzliche Behandelbarkeit einer Lungensarkoidose in Nigeria in der Vergangenheit angenommen wurde (vgl. VG Freiburg, Urt. v. 27.07.2016 - A 1 K 2757/15 -, n.v., UA S. 8, unter Hinweis auf eine beigezogene Auskunft des Bundesamts zur medizinischen Versorgung in Nigeria vom 17.06.2016), schließt sich die erkennende Kammer dem jedenfalls für den hier vorliegenden Fall einer schweren Lungensarkoidose mit bislang unkontrolliertem Krankheitsverlauf nicht an. Der Hinweis des Bundesamts, dass sich das Gesundheitssystem in Nigeria in den vergangenen Jahren verbessert habe, trifft zwar allgemein zu, sagt aber nichts darüber aus, ob auch die vom Kläger benötigte spezifische Therapie dort verfügbar ist. Ausweislich des fachärztlichen Gutachtens benötigt dieser eine ganze Reihe von Medikamenten, neben Cortison insbesondere auch ein Immunsuppressivum (zuletzt: Leflunomid), deren Verfügbarkeit in Nigeria bei Zugrundelegung der jüngsten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 13.03.2020 gerade nicht angenommen werden kann. Denn dort wurde im Hinblick auf den Arzneistoff Leflunomid lediglich mitgeteilt, dass dieser "gegebenenfalls" über eine private Apotheke in Nigeria erhältlich sei. Unklar ist außerdem, ob die Medikamente Cotrim ratio und Decortin in Nigeria verlässlich erhältlich wären; die diesbezüglichen Aussagen in der Auskunft vom 13.03.2020 sind widersprüchlich und nicht nachvollziehbar. Der Bitte um ergänzende Stellungnahme (Verfügung vom 17.06.2020) ist das Auswärtige Amt bis heute nicht nachgekommen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Einholung einer neuen Auskunft bzw. ein weiteres Zuwarten auf eine ergänzende Stellungnahme des Auswärtigen Amtes nicht als erfolgsversprechend und dies wäre dem Kläger mit Blick auf die bereits beträchtliche Dauer des Klageverfahrens auch nicht zumutbar. Die unzureichende Auskunftslage geht daher zulasten der Beklagten.

1.3.2 Nach den individuellen Verhältnissen des Klägers ist auch nicht zu erwarten, dass dieser in der Lage wäre, eine regelmäßige ärztliche Verlaufskontrolle und die benötigte medikamentöse Dauerbehandlung mit einer ganzen Reihe von Medikamenten - ihre Verfügbarkeit in Nigeria unterstellt - zu finanzieren (so im Ergebnis für einen an Lungensarkoidose erkrankten 43-jährigen Nigerianer zuletzt auch VG Freiburg, Urt. v. 17.07.2020 - A 1 K 4451/17 -, n.v., UA S. 7 ff.).

Der mittlerweile 35-jährige Kläger hat sein Heimatland bereits vor sechs Jahren verlassen und weder eine abgeschlossene Schul- noch eine Berufsausbildung vorzuweisen. Vor seiner Ausreise war er eigenen Angaben zufolge, an deren Richtigkeit zu zweifeln kein Anlass besteht, in Nigeria als Landwirt tätig. Die fordernde körperliche Tätigkeit als Landwirt könnte er aufgrund seiner schweren Lungenerkrankung und der dadurch bedingten Atembeschwerden mit heftigem Hustenreiz bis hin zur Luftnot, die nachweislich schon bei geringer Belastung (wie leichtem Fahrradfahren oder Treppensteigen) auftritt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr ausüben. Dass es ihm gelingen würde, zeitnah nach der Rückkehr in sein Heimatland in einem anderen Beruf auf dem umkämpften nigerianischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, erscheint angesichts seiner beschränkten persönlichen Ressourcen, namentlich seinem krankheitsbedingt verminderten Leistungsvermögen, und der durch die Corona-Pandemie noch weiter verschlechterten wirtschaftlichen Lage des Landes als fernliegend.

Zudem gehört der Kläger nach den bisherigen Erkenntnissen zu Covid-19 in zweierlei Hinsicht zu den vorbelasteten Personengruppen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf (vgl. Robert Koch Institut, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV2 und COVID-19, Stand 14.07.2021, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=F353D4C35CF70FADFDBC3FE71E8AA2B7.internet052?nn=13490888#doc13776792bodyText15): Er leidet an einer chronischen Lungenerkrankung (Sarkoidose) und unter einem geschwächten Immunsystem, weil er regelmäßig ein Immunsuppressivum und Cortison einnimmt. Wie es ihm gelingen sollte, eine Erwerbstätigkeit in dem von der Corona-Pandemie besonders betroffenen informellen Sektor Nigerias zu finden, die nicht mit erheblicher körperlicher Anstrengung einhergeht, und sich zugleich wirksam vor einer Ansteckung mit dem für ihn extrem gefährlichen Coronavirus zu schützen, ist nicht ersichtlich (ähnlich bereits VG Freiburg, Urt. v. 17.07.2020 - A 1 K 4451/17 -, UA S. 11 f.).

Ein familiäres Netzwerk, auf deren Unterstützung der Kläger in Nigeria zurückgreifen könnte, ist seinen Angaben zufolge nicht vorhanden. Ob seine Einlassung, dass er außer seinem Onkel, der ihm nach dem Leben trachte, keine weiteren Verwandten mehr in Nigeria habe, zutrifft oder die gegenteilige Vermutung des Bundesamts, dass der Kläger angesichts der großfamiliären Strukturen in Nigeria aller Voraussicht nach durchaus noch Verwandte dort haben dürfte, kann dahinstehen. Denn jedenfalls ist nicht davon auszugehen, dass etwaige noch lebende Familienangehörige, die bei Zugrundelegung der persönlichen Verhältnisse des Klägers jedenfalls nicht zum wohlhabenden Teil der nigerianischen Gesellschaft gehören dürften und voraussichtlich auch von den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie betroffen sind, in der Lage und willens wären, die sicherlich kostspielige medizinische Behandlung zu bezahlen bzw. ihn jedenfalls in erheblichem Umfang und dauerhaft finanziell zu unterstützen.

1.4 Ob auch die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung mehr, da es sich beim national begründeten Abschiebungsschutz um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand handelt (vgl. BVerwG, Urt. vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris Ls. 1 und Rn. 16).

2. Die in Ziffer 5 des angefochtenen Bundesamtsbescheids enthaltene Abschiebungsandrohung (vgl. § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG) erweist sich im Hinblick auf die Verpflichtung des Bundesamts zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Nigeria als rechtswidrig (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG) und ist dementsprechend aufzuheben. In Folge der Aufhebung der Abschiebungsandrohung liegen auch die Voraussetzungen für das vom Bundesamt in Ziffer 6 des Bescheids ausgesprochene Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht mehr vor (vgl. § 11 Abs. 1 AufenthG); dieses ist daher ebenfalls aufzuheben.

V.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 155 Abs. 2 VwGO. Die Kostenquote trägt dem Umstand Rechnung, dass der Kläger seine Klage zurückgenommen hat, soweit diese auf die Anerkennung als Asylberechtigter, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung von subsidiärem Schutz gerichtet war (vgl. § 155 Abs. 2 VwGO); diesen Teil des Streitgegenstands bemisst das Gericht mit 2/3 des Gesamtgegenstandswerts. Hingegen obsiegt er hinsichtlich seines weiterhin verfolgten Ziels auf Feststellung eines Abschiebungsverbots, so dass das restliche Drittel der Verfahrenskosten von der insoweit unterliegenden Beklagten zu tragen ist (vgl. § 154 Abs. 1 VwGO). Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

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