OLG Hamm, Urteil vom 26.05.1999 - 3 U 192/98
Fundstelle
openJur 2021, 25622
  • Rkr:
Verfahrensgang
Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das am 23. Juli 1998 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch die Beklagte zu 2) durch Sicherheitsleistung in Höhe von 12.000,00 DM abwenden, falls nicht die Beklagte zu 2) zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet, die sie auch durch die unbedingte und unbefristete Bürgschaft einer deutschen Großbank oder eines öffentlich-rechtlichen Kreditinstituts erbringen kann.

Tatbestand

Der am 00.00.1929 geborene Kläger, der unter Diabetes mellitus litt, stellte am frühen Morgen des 30.08.1994 Kribbelparästchesien im rechten Fuß fest und begab sich gegen 9.30 Uhr zu seiner Hausärztin, der Streithelferin. Mit dem Verdacht auf ein Lendenwirbelsäulensyndrom überwies sie den Kläger in die orthopädische Behandlung des ehemals Beklagten zu 1). Dieser dokumentierte u.a., daß die Fußpulse ohne Befund seien. Er stellte die Diagnose einer Lumboischialgie, Osteochondrose, Spondylose und verordnete ein Schmerzmittel. Wegen erneut auftretender Schmerzen begab sich der Kläger am Morgen des 31.08.1994 erneut zum Beklagten zu 1), der u.a. dokumentierte, daß der Fußpuls rechts nicht zu fühlen sei. Er stellte die Diagnose des Verdachts auf eine Durchblutungsstörung im rechten Bein und überwies den Kläger in die chirurgische Universitätsklinik der Beklagten zu 2). Der Kläger fuhr mit seinem Auto dorthin und ging die Wegstrecke vom Parkplatz zu Fuß. Die erste Untersuchung in der chirurgischen Universitätsklinik fand gegen Mittag statt. Bei zum Fuß hin nicht mehr tastbaren Pulsen im rechten Bein und auf Grund einer dopplersonographischen Untersuchung wurde der Verdacht auf einen Verschluß der distalen Arteria femoralis superficialis rechts und auf das Vorliegen eines Popliteaaneurysmas rechts geäußert. Zur näheren Abklärung wurde für den 1.9.1994 morgens eine Angiographie geplant. Eine Heparinbehandlung des Klägers fand am 31.08.1994 nicht statt.

Nach Durchführung der Angiographie am 1.9.1994 wurde der Kläger am Nachmittag dieses Tages operiert, wobei das Aneurysma entfernt wurde. Wegen thrombotischer Verschlüsse wurden drei weitere Revisionen am 2. und 3.9.1994 durchgeführt. Wegen Ausfalls der Unterschenkelmotorik wurde das rechte Bein ab dem Kniegelenk am 5.9.1994 amputiert. Am 14.9.1994 wurde die rechte Kniescheibe entfernt. Die Folgebehandlung fand in der Klinik und Poliklinik für technische Orthopädie und Rehabilitation der Beklagten zu 2) statt. Der Kläger hat die Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes - Vorstellung: 50.000,00 DM - und Feststellung der Verpflichtung aller materiellen Schäden in Anspruch genommen. Er hat behauptet, die Heparinbehandlung hätte in der chirurgischen Klinik der Beklagten zu 2) von Anfang an durchgeführt werden müssen. Zudem sei die Dosierung zu gering gewesen. Die Beklagte zu 2) hält die Behandlung des Klägers und die einzelnen Behandlungsschritte für fehlerfrei. Die Amputa-

tion sei nicht zu vermeiden gewesen. Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, daß der Kläger den Nachweis eines Behandlungsfehlers nicht geführt habe. Die Operation vom 1.9.1994 und die weiteren Operationen seien indiziert und regelrecht ausgeführt worden.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Berufung und beantragt, nach Rücknahme der gegen den Beklagten zu 1) gerichteten Berufung und unter Verzicht auf die Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber der Streithelferin

1.

die Beklagte zu 2) zu verurteilen, an ihn ein angemessenes, der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit dem 28.8.1997 zu zahlen;

2.

festzustellen, daß die Beklagte zu 2) verpflichtet ist, ihm sämtliche materiellen und weiteren immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus der fehlerhaften ärztlichen Behandlung in der Zeit vom 31.8. bis zum 14.9.1994 resultieren, soweit derartige Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Die Beklagte zu 2) beantragt,

1.

die gegnerische Berufung zurückzuweisen,

2.

in den der Revision unterliegenden Sachen ihr nachzulassen, Sicherheit gemäß §§ 709, 711, 720 a Abs. 3 ZPO durch selbstschuldnerische Bürgschaft einer in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Großbank oder eines öffentlichrechtlichen Kreditinstituts zu erbringen.

Die Parteien wiederholen, vertiefen und ergänzen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat den Kläger angehört und den Sachverständigen L sein schriftliches Gutachten vom 26. April 1999 erläutern lassen. Insoweit wird auf den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 26. Mai 1999 verwiesen.

Gründe

Die Berufung bleibt ohne Erfolg.

Der Kläger hat gegen die Beklagte zu 2) keine Schadensersatzansprüche aus den §§ 847, 823, 831, 30, 31 BGB oder aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten des Behandlungsvertrages.

Mit der Berufung rügt der Kläger zwar zu Recht, daß er von den Ärzten der chirurgischen Universitätsklinik wegen der Nichtgabe von Heparin am 31.8.1994 und wegen der unterlassenen Anpassungen der Heparin-Dosierungen bis zum 3.9.1994 fehlerhaft behandelt worden ist. Der Senat vermochte jedoch nicht festzustellen, daß sich diese Behandlungsfehler gesundheitsschädigend für den Kläger ausgewirkt haben.

In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens macht sich der Senat die Feststellungen des Sachverständigen L, der sein Gutachten überzeugend erläutert hat, zu eigen. Danach war es fehlerhaft, dem Kläger am 31.8.1994 kein Heparin zu geben. Die Gabe von Heparin sei geboten gewesen, um eine weitere Gerinselbildung bis zur geplanten Angiographie zu verhindern. Auch wenn die medizinische Wissenschaft davon ausgehe, daß eine - die Gerinselbildung verhindernde - wirksame Dosierung frühestens nach 24 Stunden erreicht werden könnte, sei doch - mit viel Glück - nicht auszuschließen, daß die Gerinselbildung schon vor Ablauf dieser Zeit verhindert würde. Hinzu käme der Umstand, daß sich die Durchführung der Angiographie - z.B. wegen eines Notfalls - bis zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Dosierung (nach 24 Stunden) hätte verschieben können. Zwischen den Operationen hätte aus den gleichen Gründen die Heparin-Dosierung angepaßt werden müssen, auch wenn in keinem Fall ein Zeitraum von mehr als 24 Stunden zur Verfügung gestanden habe.

Dagegen war es nicht angezeigt, so der Sachverständige, die Angiographie bereits am 31.8.1994 durchzuführen. Die sofortige Durchführung der Angiographie wäre nur bei einer akut gefährlichen Notfallsituation geboten gewesen. Die Voraussetzungen für eine solche akut gefährliche Notfallsituation hätten, so der Sachverständige, indes nicht vorgelegen. Wenn man die Angiographie gleichwohl am 31.08.1994 durchgeführt hätte, hätte man Ungenauigkeiten, die durch den Zustand der fehlenden Nüchternheit des Klägers hätten entstehen können, in Kauf nehmen müssen. Dem zufolge sei es nicht fehlerhaft gewesen, die Angiographie erst am 1.9.1994 - im nüchternen Zustand - durchzuführen.

Ob es behandlungsfehlerhaft war, die Operation am 1.9.1994 erst gegen 17.30 Uhr und nicht 1,5 Stunden nach Beendigung der Angiographie (gegen 10.30 Uhr) durchzuführen, kann dahinstehen. Diese Verzögerung hat jedenfalls keine negative Auswirkung für den Kläger gehabt, weil die Durchblutung der Wadenmuskulatur, so der Sachverständige L unter Auswertung des Operationsberichtes, am Ende der Operation vom 1.9.1994 noch voll gewährleistet war. Anhaltspunkte für weitere Behandlungsfehler sind, dem Sachverständigen L folgend, nicht ersichtlich.

Der Senat konnte nicht feststellen, daß bei regelrechter Gabe/Anpassung von Heparin die Gesundheitsschäden des Klägers sicher vermieden worden wären. Auch insoweit folgt der Senat den Ausführungen des Sachverständigen L. Dieser hat sich als Spezialist für Gefäßchirurgie eingehend mit den medizinischen Ausführungen des Bruders des Klägers auseinandergesetzt und überzeugend dargelegt, daß die medizinischen Erkenntnisse aus dem Bereich der Kardiologie nicht auf den hier in Rede stehenden Fall übertragbar seien. Entscheidend sei die Umsetzung des Heparins im Körper, um zu stabilen Werten im therapeutischen Bereich zu kommen. Mit solche stabilen Werten sei mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vor Ablauf von 24 Stunden zu rechnen gewesen.

Die Beweislast für die haftungsbegründende Kausalität der festgestellten Behandlungsfehler trifft den Kläger. Beweiserleichterungen kommen ihm nicht zugute. Eine Beweiserleichterung bis hin zur Umkehr der Beweislast kann gerechtfertigt sein, wenn ein grober Behandlungsfehler vorliegt, der Arzt also eindeutig gegen ärztliche Behandlungsregeln oder generelle medizinische Erkenntnisse verstößt und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. BGH NJW 1998, 814, 815; 1782, 1783; 1997, 798). Das den behandelnden Ärzten der chirurgischen Universitätsklinik anzulastende Fehlverhalten wertet der Senat nicht als grob. Der Sachverständige L hat die festgestellten Behandlungsfehler - weder isoliert noch in ihrer Gesamtheit betrachtet - nicht als unverständlich, sondern nur als ungewöhnlich bezeichnet. Die Heparingaben oder die Heparinanpassungen werden - auch wenn ihr therapeutischer Erfolg bei einem Zeitraum von weniger als 24 Stunden unwahrscheinlich sei - von ihm und seinen Fachkollegen aus Sicherheitsgründen vorgenommen, um nichts versäumt zu haben. Daß die behandelnden Ärzte der chirurgischen Universitätsklinik in Münster diesen eher unwahrscheinlichen Therapieerfolg nicht genutzt haben, stuft der Senat nicht als einen Fehler ein, der schlechterdings nicht hätte unterlaufen dürfen.

Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann auch der Verstoß eines Arztes gegen die Pflicht zur Erhebung und Sicherung medizinischer Befunde für die Kausalitätsfrage beweiserleichternd Bedeutung gewinnen, wenn im Einzelfall zugleich auf einen groben Behandlungsfehler zu schließen ist, weil sich bei der unterlassenen Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, daß sich dessen Verkennung als fundamental fehlerhaft darstellen müßte (zuletzt BGH NJW 1999, 861 und 863). Legt man den danach geforderten Maßstab auch auf das Unterlassen der hier gebotenen Therapie an, so hätte die gebotene Therapie zumindest mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Wirkung entfalten müssen. Dies ist jedoch bei einem Zeitraum, der hier jeweils weniger als 24 Stunde beträgt, den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen L folgend, nicht der Fall.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Das Urteil beschwert den Kläger mit mehr als 60.000,00 DM.

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