VG Minden, Urteil vom 02.03.2011 - 11 K 3203/09
Fundstelle
openJur 2021, 25385
  • Rkr:
Tenor

Der Bescheid des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses für Fahrlehrer bei der Bezirksregierung Detmold vom 02.10.2009 und der Widerspruchsbescheid vom 10.11.2009 sowie der im Widerspruchsbescheid enthaltene Gebührenbescheid werden aufgehoben.

Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Das beklagte Land darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Klägerin absolvierte am 31.08.2009 den schriftlichen Teil der Fachkundeprüfung im Rahmen der Prüfung der fachlichen Eignung als Fahrlehrerin.

Mit Bescheid vom 02.10.2009 teilte ihr der Vorsitzende des Prüfungsausschusses für Fahrlehrer bei der Bezirksregierung Detmold mit, dass sie die Fachkundeprüfung nicht bestanden habe. Zur Begründung führte er aus, die Klägerin werde von der Fachkundeprüfung gemäß § 11 FahrlPrüfO wegen einer Täuschungshandlung ausgeschlossen. Ihre Klausuren und diejenigen des Kandidaten B. G. stimmten in den Prüfungsteilen Recht 1, Recht 2 und Technik in Aufbau und Wortwahl weitgehend überein. Ein so hohes Maß an Übereinstimmung könne nicht das Resultat gemeinsamen Lernens, sondern müsse das Ergebnis einer Täuschungshandlung sein. Da beide Kandidaten während der Klausur nicht in unmittelbarer Nähe zueinander gesessen hätten, so dass ein Abschreiben unmöglich gewesen sei, könne die Täuschungshandlung nur durch ein kollektives Zusammenspiel beider Kandidaten stattgefunden haben.

An der mündlichen Prüfung nahm die Klägerin daher nicht mehr teil. Am 22.10.2009 erhob sie gegen den Bescheid vom 02.10.2009 Widerspruch, zu dessen Begründung sie vortrug: Das vom Prüfungsausschuss vermutete kollektive Zusammenspiel mit dem Kandidaten G. habe es nicht gegeben. Es sei auch überhaupt nicht ersichtlich, worin ein solches Zusammenspiel gelegen haben solle. Die Klägerin habe im hinteren Raumbereich gesessen, während Herr G. ganz vorne unmittelbar vor dem Prüfer gesessen habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.11.2009 wies der Vorsitzende des Prüfungsausschusses für Fahrlehrer bei der Bezirksregierung Detmold den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung ist ausgeführt: Die für den Ausschluss vorausgesetzte Täuschungshandlung liege vor. Die Besonderheit bestehe darin, dass die Klägerin nicht während des Begehens einer Täuschungshandlung aufgefallen sei. Grundsätzlich liege die Beweislast auf Seiten der Prüfer. Allerdings kämen hier die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins zur Anwendung. Zwar bestehe keine Übereinstimmung zwischen der Klausur der Klägerin und der Lösungsskizze, wohl aber mit der Klausur des Kandidaten B. G. . Diese Übereinstimmung umfasse bei drei von vier Prüfungsthemen die Gliederung, die Gedankenführung und in ganz erheblichen Maße auch identische Formulierungen. Besonders signifikant seien die Übereinstimmungen beim Prüfungsthema 3 "Technik". Hier stimmten die Ausführungen der Klägerin und des Kandidaten G. nahezu wörtlich überein. Bei derartigen Übereinstimmungen greife der Beweis des ersten Anscheins. Allein das Argument, man habe intensiv zusammen gelernt, vermöge nicht zu überzeugen. Beide Kandidaten hätten eine Vielzahl von Prüfungsaufgaben auswendig lernen müssen, um zu den dargestellten Übereinstimmungen zu kommen. Dies sei wenig wahrscheinlich. Die Täuschungshandlung müsse außerhalb des Prüfungsraumes stattgefunden haben. Dies sei allerdings nachträglich nicht mehr aufzuklären. Im Widerspruchsbescheid ist eine Gebühr von 430 Euro festgesetzt, da der Widerspruch erfolgslos war.

Die Klägerin hat in einem weiteren Versuch die Fachkundeprüfung am 17.12.2009 bestanden und ist mittlerweile als Fahrlehrerin tätig.

Am 09.12.2009 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie trägt vor: Sie habe mit dem Kandidaten G. gemeinsam gelernt. Nach Recherchen sei sie auf 141 Aufgabenstellungen bei schriftlichen Prüfungsaufgaben gekommen, habe sich mit diesen beschäftigt und schriftliche Ausarbeitungen gefertigt. Einen Ordner mit diesen Ausarbeitungen hat die Klägerin zu den Akten gereicht. Zusammen mit dem Kandidaten G. habe sie diese Ausarbeitungen in weiten Teilen auswendig gelernt. Die Ausarbeitungen enthielten bereits nahezu identische Formulierungen wie die von der Klägerin gefertigten Prüfungsarbeiten. Wie der Kandidat G. habe die Klägerin auswendig Gelerntes in der Klausur jeweils reproduziert. Darin liege keine Täuschungshandlung. Beim Auswendiglernen habe sie versucht einzugrenzen; dabei habe sie 12 Ausarbeitungen in die "engere Wahl" gezogen und diese nahezu auswendig gelernt. Zum Zeitpunkt der mündlichen Prüfung habe sie dies schon nicht mehr reproduzieren können. Sie sei "nahezu wie vom Donner gerührt" gewesen, als man ihr zu Beginn der mündlichen Prüfung eröffnet habe, sie sei wegen einer Täuschungshandlung nicht zugelassen. Sie habe sofort von dem gemeinsamen Lernen und den Ausarbeitungen berichtet. Sie habe das von ihr zum ersten Thema der schriftlichen Prüfung Gelernte allerdings nicht mehr aufsagen können, weil sie das in dieser Situation nicht erwartet habe und völlig schockiert gewesen sei. Zur Durchführung der angeblichen Täuschungshandlung könne der Prüfungsausschuss nur Mutmaßungen anstellen. Die Klägerin habe es auch gar nicht nötig gehabt zu täuschen, weil sie kurze Zeit später alle Prüfungen bestanden habe. Sie wolle auf dem Makel des Täuschungsvorwurfs nicht sitzenbleiben, zudem habe sie Einkommenseinbußen erlitten und Gebühren zahlen müssen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 02.10.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2009 sowie den (im Widerspruchsbescheid enthaltenen) Gebührenbescheid vom 10.11.2009 aufzuheben.

Das beklagte Land beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es trägt ergänzend vor: Die Behauptung, die Klägerin habe 141 Aufgabenstellungen erarbeitet und teilweise auswendig gelernt, decke sich nicht mit dem Vortrag des Kandidaten G. , der behauptet habe, es gebe Ausarbeitungen zu 160 Themen, die er auswendig gelernt habe. Die Ausarbeitungen könnten zudem nachträglich entstanden sein. Es verwundere, dass die Klägerin am Tag der mündlichen Prüfung nicht in der Lage gewesen sei, eines der angeblich von ihr so intensiv gelernten Themen zu reproduzieren. Es sei nahezu unmöglich Ausarbeitungen zu 141 (oder 160) Themen soweit auswendig zu lernen, dass eine derart große Übereinstimmung in Aufbau, Wortwahl, Satzbau in einem Umfang zu Tage trete, wie vorliegend geschehen. Da die Klägerin zwischenzeitlich ihre Fachkundeprüfung bestanden habe, stelle sich die Frage nach dem Rechtsschutzinteresse. Hinsichtlich der praktischen Durchführung der Täuschungshandlung könne nur spekuliert werden. Etwa könnten die Aufgaben per SMS an einen Dritten übermittelt worden sein. Dieser Dritte könnte dann die Lösungen an einem vorher verabredeten Ort im Umkreis des Prüfungsraumes deponiert haben; dort fänden keine Kontrollen statt. Denkbar sei auch das Diktieren von Lösungen durch einen Dritten über Handy und Ohrhörer; dies sei auch schnurlos möglich. Bei der Größe des Prüfungsraumes sei dies problemlos möglich ohne aufzufallen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Bezirksregierung Detmold (2 Hefter) sowie auf zwei von der Klägerin eingereichte inhaltlich identische Ordner Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist zulässig. Ihr fehlt insbesondere nicht das Rechtsschutzinteresse, weil die Klägerin die Fachkundeprüfung für Fahrlehrer in einem zweiten Versuch bestanden hat. An der Aufhebung der angefochtenen Bescheide hat die Klägerin nach wie vor ein schützenswertes rechtliches Interesse, da sie von der Prüfung wegen einer Täuschungshandlung ausgeschlossen wurde. Abgesehen von der Ehrenrührigkeit dieses Vorwurfs kann die Tatsache des Nichtbestehens nachteilige Wirkungen für ihr berufliches Fortkommen haben. Durch die begehrte Aufhebung des Bescheides würde der bestandenen Prüfung hingegen der Charakter als Wiederholungsprüfung genommen und die Klägerin vom "Makel der Durchfallkandidatin" befreit.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.10.1993 - 6 C 12.92 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 320 mit weiteren Nachweisen.

Die Klage ist auch begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Als Rechtsgrundlage für den Ausschluss der Klägerin von der Prüfung kommt nur § 11 der Prüfungsordnung für Fahrlehrer (FahrlPrüfO) vom 18.08.1998 (BGBl. I Seite 2331) in Betracht. Nach § 11 Satz 1 i.V.m. Satz 2 FahrlPrüfO kann der Prüfungsausschuss einen Bewerber endgültig von der Prüfung ausschließen, wenn der Bewerber eine Täuschungshandlung begeht. Folge des endgültigen Ausschlusses ist gemäß § 11 Satz 3 FahrlPrüfO, dass die Prüfung als nicht bestanden gilt.

Die der Klägerin vorgeworfene Täuschungshandlung ist jedoch nicht bewiesen. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass das beklagte Land, das sich auf § 11 FahrlPrüfO beruft, für das Vorliegen einer Täuschungshandlung seitens der Klägerin die materielle Beweislast trägt.

Unstreitig ist weiter, dass eine Täuschungshandlung während der Fachkundeprüfung am 31.08.2009 nicht festgestellt worden ist. Der Prüfungsausschuss hat eine Täuschungshandlung allein aus der Tatsache abgeleitet, dass die schriftlichen Bearbeitungen der Klägerin bei drei der vier Aufgaben mit den Bearbeitungen des Kandidaten G. weitgehend übereinstimmten.

Eine Täuschungshandlung der Klägerin ist auch nicht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises nachgewiesen. Eine Beweiserleichterung nach den Regeln des Beweises des ersten Anscheins kommt auch im Verwaltungsprozess in Betracht, wenn typische Geschehensabläufe vorliegen.

Vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 20.08.2010 - 8 B 27/10 -, juris Rdnr. 4 mit weiteren Nachweisen; ausführlich Dawin, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand Mai 2010, § 108 Rn. 66 bis 69, 72.

Derart typisch kann nur ein Ablauf sein, der vom menschlichen Willen unabhängig ist, das heißt, gleichsam mechanisch abrollt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 23.02.1979 - 4 C 86/76 -, NJW 1980, 252´; kritisch insoweit Dawin, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, a.a.O., § 108 Rn. 68.

Eine typische - vom menschlichen Willen unabhängige - Verknüpfung von Grund und Folge eines Geschehens ist etwa in dem Sinne angenommen worden, dass eine im erheblichen Umfang wörtliche und im Übrigen sinngemäße Wiedergabe der schriftlichen Ausarbeitung einer anderen Person typischerweise voraussetze, dass der Wiedergebende von dieser Ausarbeitung zuvor Kenntnis erhalten hat. Dementsprechend könne ein Täuschungsversuch durch den Beweis des ersten Anscheins bewiesen werden, wenn die Prüfungsarbeit und das vom Prüfer erarbeitete, allein zur Verwendung durch die Prüfungskommission bestimmte Lösungsmuster teilweise wörtlich und im Übrigen in Gliederung und Gedankenführung übereinstimmten.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.02.1984 - 7 B 109/83 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 196.

Dementsprechend sind die Regeln über den Anscheinsbeweis nicht anwendbar, wenn mehrere typische Geschehensabläufe in Betracht kommen. Der Beweis des ersten Anscheins wird erschüttert durch Tatsachen, die einen diesem ersten Anschein widersprechenden Geschehensablauf als möglich erscheinen lassen,

so BVerwG, Urteil vom 29.01.1965 - 7 C 147.63 -, NJW 1965, 1098,

bzw. durch Tatsachen entkräftet, nach welchen die Möglichkeit eines anderen als des typischen Geschehensablaufs ernsthaft in Betracht kommt.

So BGH, Urteil vom 16.03.2010 - VI ZR 64/09 -, NJW-RR 2010, 1331; ebenso Dawin, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, a.a.O., § 108 Rn. 74.

Dabei ist zu bedenken, dass in der vorliegenden Fallgestaltung mit dem Beweis des ersten Anscheins eine für die Klägerin ehrenrührige und möglicherweise strafrechtlich relevante Täuschungshandlung nachgewiesen werden soll, die unmittelbar gerade nicht festgestellt werden konnte. Das bedeutet, dass an das Vorliegen eines Beweises des ersten Anscheins eher höhere Anforderungen zu stellen sind.

Nach diesen Maßstäben greift der Beweis des ersten Anscheins nicht, weil ernsthaft in Betracht kommt, dass die Klägerin - wie auch Herr G. - in großem Umfang vorbereitete Ausarbeitungen weitgehend auswendig gelernt und daher weitgehend inhaltsgleich reproduziert haben.

Die Klägerin hat Ordner mit ihren Ausarbeitungen vorgelegt, die mit den von ihr verfassten schriftlichen Bearbeitungen bei der Fachkundeprüfung am 31.08.2009 in der Tat weitgehend übereinstimmen. Dem beklagten Land ist zwar zuzugeben, dass diese Ausarbeitungen nachträglich angefertigt worden sein könnten. Dies ist jedoch nicht wahrscheinlicher als die vorherige Anfertigung, zumal die Unterlagen im Umfang eines Ordners dann nachträglich mit einem sehr hohen Arbeitsaufwand hätten erstellt worden sein müssen. In diesem Zusammenhang ist weiter zu bedenken, dass die vom beklagten Land beanstandeten Bearbeitungen der Klägerin gerade nicht mit einer Lösungsskizze übereinstimmen oder einer Musterlösung entsprechen. Im Gegenteil hat die Klägerin gerade im Bereich "Technik" (Thema 3), in dem die Übereinstimmungen mit der Bearbeitung des Kandidaten G. am größten sind, eine inhaltlich eher schwache Bearbeitung vorgelegt. Bei Thema 4 behauptet das beklagte Land keine Übereinstimmungen.

Dass die Klägerin zum Zeitpunkt der mündlichen Prüfung am 24.09.2009 ein Thema nicht mehr wiedergeben konnte, kann zumindest auch mit dem Zeitablauf und der für sie überraschenden Situation zu erklären sein.

Danach kommt die von der Klägerin vorgetragene Version so ernsthaft in Betracht, dass der vom beklagten Land angestrebte Beweis des ersten Anscheins nicht mehr möglich ist. Dass die Version der Klägerin zum Teil vom Vortrag des Herrn G. in dessen Klageverfahren vor dem VG Münster abweicht, ist unerheblich. Herr G. kann trotz Zusammenarbeit im Übrigen auch abweichend von der Klägerin gelernt haben.

Da auch der von der Klägerin behauptete Geschehensablauf in Betracht kommt, ist nicht mehr entscheidungserheblich, wie groß die Wahrscheinlichkeit des vom beklagten Land vermuteten Geschehensablaufs ist. So mag eine Übertragung in den Prüfungssaal per Handy ebenso denkbar sein wie die Übernahme vorgefertigter Lösungen außerhalb des Prüfungssaales; einen konkreten Hinweis hierfür gibt es allerdings nicht.

Da der Widerspruchsbescheid keinen Bestand hat, fällt auch keine Gebühr in Höhe von 430 Euro an, so dass auch der Gebührenbescheid aufzuheben ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Sätze 1 und 2 ZPO.