VG Halle, Urteil vom 27.02.2018 - 8 A 210/18
Fundstelle
openJur 2021, 24720
  • Rkr:
Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides vom 3. Juni 2016 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der am 25. Januar 1988 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit. Er lebte eigenen Angaben zufolge zuletzt in Algasas/Damaskus in der Arabischen Republik Syrien.

Am 7. Dezember 2015 reiste der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 30. Mai 2016 den Antrag auf Asyl.

Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 30. Mai 2016 führte der Kläger im Wesentlichen aus, dass er befürchte, als Reservist zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Er habe seinen Wehrdienst in den Jahren 2005 bis 2007 in Aleppo in der 135. Infanterieeinheit geleistet. Der Bezirksvorsteher habe bei ihnen angerufen und mitgeteilt, dass er auf der Liste der einzuberufenden Reservisten stehe. Daraufhin habe er das Land verlassen.

In der Anhörung vom 30. Mai 2016 beschränkte der Kläger seinen Asylantrag auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 3. Juni 2016, zugestellt am 24. Juni 2016, erkannte die Beklagte dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab. Zur Begründung führte sie aus, dass die Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorlägen. Ihm drohe bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung i. S. d. §§ 3 ff. AsylG. Wegen der weiteren Begründung wird auf den Bescheid verwiesen.

Am 19. August 2016 hat der Kläger bei dem erkennenden Gericht Klage erhoben.

Zur Begründung führt der anwaltlich vertretene Kläger aus, die Klage sei nicht verfristet, da die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides fehlerhaft gewesen sei. Seine Klage sei auch begründet. Er müsse davon ausgehen, zum Militärdienst eingezogen zu werden. Überdies drohe ihm eine ihn in seinen Menschenrechten verletzende Sanktionierung wegen Militärdienstentziehung.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 2. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. Juni 2016 (Az. ) zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides.

Wegen der näheren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung des Gerichts.

Gründe

Die Kammer konnte im Einverständnis mit den Beteiligten ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).

Die Klage ist zulässig.

Sie ist insbesondere nicht verfristet. Die Zustellung des Bescheides vom 3. Juni 2016 ist ausweislich der Postzustellungsurkunde am 24. Juni 2016 durch Einlegen in den zur Wohnung des Antragstellers gehörenden Briefkasten erfolgt. Die Rechtsmittelfrist von zwei Wochen (§ 74 Abs. 1 AsylG) lief damit am Freitag den 8. Juli 2016 ab. Die Klage ist aber erst am Freitag, den 19. August 2016 und damit weit nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist bei Gericht eingegangen.

Die Rechtsmittelbelehrung ist nach der Auffassung des Gerichts indes unrichtig erteilt und führt damit zur Anwendung der Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VGO, die vom Kläger eingehalten ist. Das beschließende Gericht schließt sich insoweit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 28.06.2016 (Az.: 22 K 4119/15.A - juris) und des Verwaltungsgerichts Hannover vom 15.09.2016 (Az.: 3 B 4870/16 - juris) sowie des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen (vom 24.06.2016 - 3 A K 4187/15.A - juris) an und folgt nicht den dieser Rechtsprechung entgegenstehenden Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin (Beschluss vom 15.12.2016 - 28 L 409.16 A - juris) und des Verwaltungsgerichts Oldenburg (Beschluss vom 20.10.2016 - 15 B 5090/16 - juris).

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat nach der Überzeugung des Gerichts zu Recht das Folgende hierzu ausgeführt:

"Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist nicht nur dann unrichtig im Sinne von § 58 Abs. 2 VwGO, wenn sie die in § 58 Abs. 1 VwGO zwingend geforderten Angaben nicht enthält. Sie ist es vielmehr auch dann, wenn sie (generell) geeignet ist, bei dem Betroffenen einen Irrtum über die formellen oder materiellen Voraussetzungen des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch abzuhalten, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder in der richtigen Form einzulegen, BVerwG, Urteil vom 13.Dezember 1978 - 6 C 77.78 -,BVerwGE 57, 188, 190; Beschluss vom 14. Februar 2000 -7 B 200.99 -, Rdn. 3, m.w.N., juris; Urteil vom 21. März 2002 - 4 C 2/01 -, Rdn. 12, juris; Beschluss vom 31. August 2015 - 2 B 61/14 -, juris.

Die dem hier streitgegenständlichen Bescheid beigefügte Rechtbehelfsbelehrung war in diesem Sinne geeignet, bei dem Betroffenen einen solchen Irrtum hervorzurufen. Denn sie ist geeignet, bei einem Betroffenen den falschen Eindruck zu erwecken, dass eine Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes ausschließlich schriftlich und in deutscher Sprache beim Verwaltungsgericht eingereicht werden kann.

Zwar gibt der erste Teil des betreffenden Satzes

- "Die Klage muss den Kläger, die Beklagte und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen" -

nur den Wortlaut des § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO wieder und kann daher für die Ordnungsgemäßheit der Rechtsbehelfsbelehrung unschädlich sein, vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 10. April 1991 - 5UE 3750/89 -, Rdn. 26, juris.

Der zweite Satzteil

- "und in deutscher Sprache abgefasst sein." -

geht jedoch darüber hinaus. Dieser kann sinnvoll nur so verstanden werden, dass er formale Anforderungen an die sprachliche Äußerung formuliert, mit der wirksam Klage erhoben werden kann. Dem in diesem Satzteil verwendeten Verb "abfassen" kommt ganz überwiegend die Bedeutung einer schriftlichen Äußerung zu. Es ist gleichbedeutend mit anfertigen, aufschreiben, aufsetzen, formulieren, niederschreiben, schreiben, verfassen, zu Papier bringen, niederlegen, vgl. Duden, Das Synonymwörterbuch, 4. Aufl., zum Stichwort "abfassen", Ziff 1.

Der Hinweis auf die Erforderlichkeit der Verschriftlichung der Prozesshandlung der Klageerhebung ist irreführend. Er erweckt den falschen Eindruck, dass der Betreffende selbst für die Schriftform zu sorgen hat.

So auch VG Augsburg, Beschluss vom 3. Dezember 2014 - Au 7 S14.50321 -, Rdn. 26, juris, mit zusätzlichem Verweis auf den Wortlaut einer dem dort streitgegenständlichen Bescheid beigefügten englischsprachigen Rechtsbehelfsbelehrung.

Dies steht in Widerspruch zu § 81 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Nach dieser Norm kann beim Verwaltungsgericht die Klage auch zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erhoben werden. Der fehlerhafte Hinweis auf die Schriftform erschwert dem Betroffenen die Rechtsverfolgung in einer vom Gesetz nicht gewollten Weise, vgl. BVerwG, Urteil vom13. Dezember 1978 - 6 C 77.78 - BVerwGE 57, 188, 190 (zu den gleich artigen Formerfordernissen des § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Zudem erweckt der Hinweis auf die erforderliche Verwendung der deutschen Sprache bei der Klageerhebung den irreführenden Eindruck, dass eine Klageerhebung unter Verwendung einer anderen Sprache nicht (fristwahrend) möglich sei. Zwar können nach verbreiteter Auffassung mit Blick auf § 55 VwGO i.V.m. § 184 Satz 1 GVG, wonach die Gerichtssprache deutsch ist, Eingaben an das Gericht in anderer Sprache grundsätzlich keine fristwahrende Wirkung entfalten, vgl. Kissel/Mayer, GVG, 8. Aufl., 2015, § 184 Rdn. 5 ff m.w.N., auch zum Meinungsbild und zu Ausnahmen von diesem Grundsatz.

Etwas anderes gilt aber jedenfalls dann, wenn die Eingabe einen noch verständlichen Hinweis in deutscher Sprache enthält, es werde ein Rechtsbehelf eingelegt; hier kommt es auf die Wahrung der vorgeschriebenen Form an, Kissel/Mayer, GVG, 8. Aufl., 2015, § 184 Rdn. 5.

Wird die Klage gemäß § 81 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erhoben, genügt es, wenn der Rechtsschutzsuchende diesem gegenüber noch verständlich zu erkennen gibt, er wolle einen Rechtsbehelf einlegen. Dies kann sich auch aus dem Verhalten des Vorsprechenden mit Bezug auf vorgelegte Schriftstücke ergeben. Zudem kann der die Niederschrift aufnehmende Urkundsbeamte der Geschäftsstelle gemäß § 55 VwGO i.V.m. § 190 GVG auch den Dienst eines Dolmetschers wahrnehmen, so dass es einer deutschsprachigen Äußerung des Rechtsschutzsuchenden nicht notwendig bedarf.

Der mit dieser Rechtslage nicht in Einklang stehende Hinweis, die Klageerhebung müsse in deutscher Sprache formuliert sein, ist ebenfalls geeignet, einen Betroffenen - insbesondere einen der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Ausländer als typischen Adressaten eines Bescheides des Bundesamtes - von der (rechtzeitigen) Klageerhebung abzuhalten.

Unerheblich ist, dass die Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung im vorliegenden Fall für die Verspätung der Klageerhebung nicht kausal gewesen sein dürfte, weil der Kläger nach eigenen Angaben die Rechtsbehelfsbelehrung nicht verstanden hat. Denn § 58 VwGO macht den Lauf der Fristen in allen Fällen von der Erteilung einer ordnungsgemäßen Belehrung abhängig, ohne Rücksicht darauf, ob den Betroffenen die Möglichkeit und die Voraussetzungen der in Betracht kommenden Rechtsbehelfe tatsächlich unbekannt waren und ob das Fehlen oder die Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung kausal für das Unterbleiben oder die Verspätung des Rechtsbehelfs war. Indem § 58 VwGO seine Rechtsfolgen allein an die objektiv feststellbare Tatsache des Fehlens oder der Unrichtigkeit der Belehrung knüpft, gibt die Vorschrift sämtlichen Verfahrensbeteiligten gleiche und zudem sichere Kriterien für das Bestimmen der formellen Rechtskraft an die Hand. Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April2009 - 3 C 23.08 -,BVerwGE 134, 41, Rdn. 17 und juris, m.w.N.

Aus diesem Grund kommt es auch nicht darauf an, welchen Inhalt die dem streitgegenständlichen Bescheid zusätzlich beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung in arabischer Sprache hat. Das Bundesamt verbindet die in arabischer Sprache abgefasste Rechtsbehelfsbelehrung selbst mit dem Hinweis, dass ausschließlich die in der Amtssprache Deutsch verfasste Rechtsbehelfsbelehrung maßgeblich sei. Abgesehen davon fehlen Anhaltspunkte dafür, dass die arabische Übersetzung der deutschen Rechtsbehelfsbelehrung deren Fehlerhaftigkeit nicht teilt."

Demgegenüber äußert die Gegenauffassung lediglich Zweifel an dem Wortverständnis von "abfassen" und stellt darauf ab, dass mit der Formulierung "in deutscher Sprache abgefasst sein" in der Rechtsbehelfsbelehrung lediglich der Hinweis gewollt sei, dass eben der Rechtsbehelf in keiner anderen Sprache erfolgen könne - weil Deutsch nach § 184 Satz 1 GVG Gerichtssprache sei - und kein Hinweis auf die Schriftform habe erfolgen sollen. Abzustellen ist aber nicht auf das, was vielleicht gewollt gewesen ist, sondern darauf, wie ein Adressat den Inhalt nach dem objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) verstehen darf. "Abfassen" beinhaltet aber nach seiner Wortbedeutung unzweideutig eine Verschriftlichung. Wenn das Verwaltungsgericht Berlin auf die Verwendung der Formulierung von "schriftlich abfassen" in § 117 Abs. 1 Satz 2 VwGO und in § 41a Abs. 1 Satz 1 StPO sowie in § 84 Satz 1 ArbGG, in § 129 Abs. 1 Satz 1 BGB und in § 311 Abs. 2 Satz 3 ZPO mit dem Argument verweist, dass angesichts der ausdrücklichen Angabe des "schriftlich" dies überflüssig wäre, wenn schon dem Wort "abfassen" diese Bedeutung zukomme, so mag die Dopplung der Bedeutung in diesen Vorschriften auch schlicht eine sprachliche Tautologie zu weiteren Verdeutlichung darstellen, ohne dass dem ein weiterer eigener Sinngehalt beizumessen ist. Auch das Argument, dass der Betroffene nicht selbst für die Schriftform zu sorgen habe, trägt nicht. Denn eben darüber, dass er die Rechtsbehelfseinlegung auch zur Niederschrift des Urkundsbeamten mündlich vornehmen kann, wird er nicht belehrt. Vielmehr wird gerade der Eindruck erweckt, ein Rechtsbehelf könne nur schriftlich eingelegt werden. Zudem verweist das Verwaltungsgericht Düsseldorf zu Recht darauf, dass es für die Klageerhebung bei dem Urkundsbeamten ausreichend ist, wenn dieser erkennen kann, dass der Betroffene die Klage erheben will, etwa weil er sich mündlich in Fremdsprache auch nur rudimentär mit dem Betroffenen verständigen kann, und dann die erkennbar gewollte Klageerhebung in deutscher Sprache aufnimmt und von dem Betroffenen unterschreiben lässt. Es besteht kein Zweifel, dass eine solchermaßen erhobene Klage wirksam erhoben ist. Die Formulierung ""in deutscher Sprache abgefasst sein" ist mithin generell geeignet, bei dem Betroffenen einen Irrtum über die formellen Voraussetzungen des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch abzuhalten, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder in der richtigen Form einzulegen (vgl. hierzu auch VG Halle, Beschluss vom 7.04.2017, 3 B 245/17 HAL).

Die Klage ist auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2016 ist im angegriffenen Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 1 AufenthG, § 113 Abs. 5 VwGO.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren (Nr. 3), sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, vgl. § 3e AsylG.

Dem Kläger droht wegen Verweigerung des Militärdienstes (dazu 1.) eine Strafverfolgung oder Bestrafung i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG in einem Konflikt, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die als Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu qualifizieren wären (dazu 2.) aufgrund einer ihm unterstellten politischen Überzeugung i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (dazu 3.).

Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine politische Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urt. v. 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, BVerwGE 85, 12, m. w. N.). Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung (BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, juris, m. w. N.). Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte orientierende, auf die tatsächliche Gefahr (real risk) abstellende Verfolgungsprognose hat in Umsetzung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie - QRL 2011 -, ABl. EU L 337 v. 20.12.2011, S. 9 ff.) anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urt. v. 01.03.2012 - 10 C 7.11 -, juris, m. w. N.). Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese nicht auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, juris). Ist der Schutzsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung ebenfalls dann vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden "zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts" die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.03.1988 - 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143; Urt. v. 23.02.1988 - 9 C 32.87 -, juris).

Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat dabei aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321/85 -, juris). Das Gericht hat sich die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen, wobei für diese Überzeugungsbildung wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend ist (OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 18.07.2012, a. a. O.). In seine eigene Sphäre fallende Ereignisse, insbesondere persönliche Erlebnisse, muss der Asylsuchende so schildern, dass sie seinen Anspruch lückenlos tragen.

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist dem 1988 geborenen Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Denn ihm droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") eine asylerhebliche Verfolgung durch den syrischen Staat. Er ist bei einer Rückkehr konkret bedroht von Strafverfolgung oder Bestrafung durch den syrischen Staat wegen Verweigerung des Militärdienstes i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG in einem Konflikt, der u.a. Kriegsverbrechen umfasst, und dies aus Gründen (unterstellter) staatsfeindlicher Einstellung, somit aus politischen Gründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1Nr. 5 AsylG.

1. Der 1988 geborene Kläger gab in seiner Anhörung an, bereits den verpflichtenden Grundwehrdienst in den Jahren 2005 bis 2007 geleistet zu haben. Im Jahr 2015 habe der Bezirksvorsteher bei ihnen angerufen und mitgeteilt, dass er auf der Liste der einzuziehenden Reservisten stehe. Daraufhin sei er geflohen. Dem Kläger stand somit nach eigenem Vortrag die Mobilisierung als Reservist zur syrischen Armee bei seiner Ausreise konkret bevor. Das Gericht hat keinen Anhalt, an den Angaben des Klägers zu zweifeln. Denn der Vortrag wird durch die dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse gedeckt.

Das Gericht geht nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon aus, dass das syrische Militär gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal hat. Nach den übereinstimmenden Berichten werden alle Männer bis zu einem Alter von 42 Jahren nach Ableistung ihres Grundwehrdienstes aufgrund eines Gesetzes von 2007 als Reservisten geführt; teilweise wird auch berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile wegen der angespannten Personalsituation auf 45 Jahre oder älter angehoben wurde(vgl. SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23.03.2017, S. 4). Reservisten werden dabei nach Geburtsjahren und Qualifikation eingezogen, z. B. Ärzte, Wehrpflichtleistende bei der Air Force, Artillerie, Panzerfahrer etc. (Danish Immigration Service, Syria, Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG, Stand: 26. Februar 2015, S. 15). Die Reservisten werden mit Briefen, die üblicherweise von der örtlichen Polizei persönlich oder an Kontrollpunkten aushändigt werden, darüber informiert, dass sie rekrutiert werden (Finnish Immigration Service, Fact-Finding Mission Report: Syria: Military Service, National Defence Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime And Armed Opposition, Stand: 23. August 2016, S. 11; Danish Immigration Service, a. a. O., S. 15). Die syrische Armee und die regierungstreuen Milizen etablierten dabei immer neue Kontrollpunkte und intensivierten Razzien im öffentlichen und privaten Bereich, um diejenigen Reservisten zu finden, die sich bis dahin dem Dienst entzogen haben (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, Stand: 28. März 2015, S. 3). Zu Beginn des Konflikts wurden größtenteils Personen zur Reserve einberufen, die erst vor kurzem aus dem Militärdienst entlassen wurden. Nunmehr beruft die Regierung vor allem jene bis vor zehn Jahre entlassenen, also Männer in der Altersgruppe von 30 - 35 Jahren, ein. Es werden aber auch Männer eingezogen, die älter als 42 Jahre sind (Danish Immigration Service, Syria, Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG, Stand: 26. Februar 2015, S. 15; SFH, Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung, 18.01.2018, S. 6 ). Laut einer Quelle des Danish Immigration Service erfolge zumeist eine Bedarfsanzeige der Armee gegenüber dem Wehrmeldeamt. Dieses schicke dann an die lokalen Rekrutierungsbüros eine Liste mit den Namen der Reservisten in dem Gebiet, welche dann die örtliche Polizei damit beauftrage, die Betreffenden zu Hause zu kontaktieren. Dies stimmt mit den Angaben des Klägers in der Anhörung überein (vgl. auch SFH, a.a.O., 18.01.2018, S. 1 ff.).

2. Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet (zum folgenden AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23.03.2017,S. 8 ff.). Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Bereits die ohne Beglaubigung der Armee erfolgte und mithin illegale Ausreise wird als Wehrdienstentzug geahndet (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).

Die dem Kläger drohende Bestrafung wegen der Entziehung vom Militärdienst stellt sich als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG dar, wonach eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren ist, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, die sich mithin als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden.

Der Dienst in der syrischen Armee beinhaltet gerichtsbekanntermaßen Handlungen, die die Grundsätze der Menschlichkeit und des humanitären Völkerrechts missachten. Aus Berichten der unabhängigen UN-Untersuchungskommission und mehrerer Menschenrechtsorganisationen geht hervor, dass die Streitkräfte der syrischen Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Mord, Vernichtung, Folter, Vergewaltigung, Zwangsverschleppungen und andere unmenschliche Akte begehen (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. akt. Fassung, Stand: November 2015, S. 9; Amnesty International, Amnesty Report 2016 - Syrien; US States Department: Syria - 2015 Human Rights Report, S. 2). Den gleichen Quellen zufolge begehen diese Streitkräfte außerdem schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen (UNHCR, a. a. O., S. 9). Willkürliche und unverhältnismäßige Luftangriffe, u. a. mit Streumunition, Fassbomben, Chlorgas und Artilleriebeschuss fordern Berichten zufolge eine immens hohe Anzahl an zivilen Opfern, zerstören ganze Stadtviertel und verbreiten Terror unter der Zivilbevölkerung in Gebieten, die von oppositionellen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden (UNHCR, a. a. O., S. 10; US States Department: Syria - 2015 Human Rights Report, S. 2).

3. Darüber hinaus stellt sich die dem Kläger drohende Strafe wegen des Entzuges vom Wehrdienst als Bestrafung wegen einer vermeintlichen oder tatsächlichen politischen Gesinnung im Sinne des § 3 b Abs. 2 Nr. 5 AsylG dar. Zwar rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund und wendet auch die strafrechtlichen Regelungen bezüglich Wehrdienstentziehung und Desertion offenbar mehr oder weniger unterschiedslos auf alle syrischen Wehrpflichtigen an, so dass nicht bereits im Hinblick auf eine insoweit durchgängig diskriminierende Praxis ein Verfolgungsgrund im Sinne von § 3b AsylG vorliegt (darauf verweisend OVG Rheinl.-Pfalz, Urteil vom 16.12.2015 - 1 A 10922/16 -, juris). Dies schließt die Annahme politischer Verfolgung jedoch ebenso wenig aus wie der Umstand, dass allen Personen, die sich der Wehrpflicht entziehen, in Syrien von Rechts wegen Verfolgung deshalb droht, weil sie mit der Dienstverweigerung eine Straftat begangen haben.

Soweit allein die Bestrafung wegen der Entziehung vom Wehr- bzw. Reservistendienst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts keine Asylerheblichkeit begründet (vgl. hierzu BVerfG, Urt. v. 11.12.1985 - 2BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urt. v. 31.03.1981 - C 6/80 -, beide juris), steht dies der Annahme der Verfolgung im Fall des Klägers nicht entgegen. Denn auch einer generellen Maßnahme oder Regelung wie gerade der Verpflichtung zum Waffendienst kann eine - nicht offen zutage liegende - politische Verfolgungstendenz innewohnen, etwa dann, wenn zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern in den eigenen Reihen, eine Umerziehung von Andersdenkenden oder eine Zwangsassimilation von Minderheiten bezweckt wird. Anhaltspunkte für derartige Intentionen könnten sich aus der besonderen Ausformung der die Wehrpflicht begründenden Regelungen, aus ihrer praktischen Handhabung, aber auch aus ihrer Funktion im allgemeinen politischen System der Organisation ergeben. Der totalitäre Charakter einer Organisation oder einer Staatsform, die Radikalität ihrer Ziele, der Rang, den sie dem Einzelnen und seinen Belangen einräume, sowie das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung seien wichtige Gradmesser für Verfolgungstendenzen in Regelungen, denen eine gezielte Diskriminierung nicht ohne weiteres anzusehen sei. Deutlich werden kann der politische Charakter von Wehrdienstregelungen etwa daran, dass Verweigerer oder Deserteure als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen übermäßig hart bestraft, zu besonders gefährlichen Einsätzen kommandiert oder allgemein geächtet würden. Ein Flüchtling, den ein solches Schicksal erwarte, ist politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG, § 3 AsylG (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 31.03.1981, a. a. O., Rn. 14).

Gerade im Falle von Syrien gibt es gegenwärtig gewichtige Anhaltspunkte für die Annahme, die drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentzugs oder Desertion diene nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht und der Ahndung des mit der Dienstverweigerung verbundenen kriminellen Unrechts, sondern solle (auch) eine aufgrund des Wehrdienstentzugs vermutete staatsfeindliche Gesinnung treffen und diese eliminieren, sei somit politisch motiviert. Diese Annahme liegt bereits aufgrund der besonderen Konstellation in Syrien nahe. Denn es handelt sich bei Syrien um ein diktatorisches System, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft (darauf verweisend etwa VGH Bad.- Württ., Beschluss vom 29.10.2013 -A 11 S 2046/13 -, juris). Wer sich trotz des bekannt großen Personalbedarfs in der syrischen Armee seiner Wehrpflicht - zumal durch eine illegale Flucht ins Ausland - entzieht, manifestiert damit nach außen sichtbar seine Illoyalität gegenüber dem syrischen Staat in besonderer Weise. Entsprechend hart geht der syrische Staat mit Deserteuren und Männern, die sich dem Wehrdienst entziehen, um: So drohen denjenigen, die sich Einberufung oder Mobilisierung entziehen, bei einer Ergreifung Untersuchungen und Festnahmen teilweise mit längerer Haft und Folter (SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23.03.2017, S. 8 ff.; vgl. auch SFH, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung, 18.01.2018, S. 7 f.; Danish Refugee Council, Syria, 09/2015; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft an OVG Schl.-Holstein vom 08.11.2016). Einige Quellen sprechen im Zusammenhang mit Desertion von lebenslanger Haft und Exekutionen (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23.03.2017; Danish Refugee Council, Syria, 09/2015). Ferner gibt es Berichte von Personen, die als Rückkehrer im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst befragt und dauerhaft verschwunden sind (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; darauf verweisend auch etwa Bayer. VGH, Urteile vom 12.12.2016 - 21 ZB 16.30338 u.a. - [ausweislich Presseerklärung vom 13.12.2016]). Auch diejenigen, bei denen lediglich die Absicht der Desertion vermutet wird, werden als Gegner des Regimes betrachtet und haben gewaltsames Verschwinden, Haft und Folter zu gewärtigen (Amnesty International, Between prison and the grave, 11/2015). Schließlich ergibt sich aus zahlreichen Quellen, dass für Desertion und Wehrdienstentzug mitunter auch Familienangehörige haftbar gemacht, zur Rechenschaft gezogen und unter Druck gesetzt werden (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; Republik Österreich, BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, 05.01.2017; Finnish Immigration Service, Syria: Military Service, national defense forces, armed groups supporting Syrian regime and armed opposition, 23.08.2016).

Die den Fahnenflüchtigen drohenden Strafen dienen damit nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht und der Ahndung des mit der Dienstverweigerung verbundenen kriminellen Unrechts; vielmehr sind sie als Maßnahmen zu qualifizieren, die darüber hinaus eine vermutete staatsfeindliche Gesinnung treffen und diese eliminieren sollen. Die so festgestellten unverhältnismäßig hohen Strafen stellen eine Bestrafung dar, bei deren Vorliegen eine über den legitimen Strafzweck hinausgehende und damit flüchtlingsrechtlich relevante Motivation zu vermuten ist. Angesichts der anhaltenden Bestrebungen des syrischen Regimes, die oppositionellen Kräfte im Land zu bekämpfen, vermag das Gericht nicht auszuschließen, dass das syrische Regime den Kläger wegen seiner Entziehung vom Militärdienst bei einer (fiktiven) Abschiebung verfolgen und bestrafen würde.

Die Verfolgung ging und geht vom syrischen Staat aus (§ 3c Nr. 1 AsylG). Die Kammer hat keine Anhaltspunkte, dass die syrische Regierung aktuell hierzu nicht mehr Willens oder in der Lage wäre.

Dem Kläger steht auch keine inländische Fluchtalternative gemäß § 3e AsylG offen. Unabhängig davon, ob und welche Gebiete innerhalb Syriens geeignet sind, der drohenden Verfolgung zu entgehen, ist für die Kammer nicht ersichtlich, dass der Kläger ein solches Gebiet sicher erreichen könnte. Denn nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen hat das Regime ein System von Kontrollpunkten etabliert, das von bloßen Straßenkontrollen bis hin zu mobilen Kontrollstellen reicht. Diesen Stellen liegen in der Regel auch die Namenslisten derjenigen vor, die sich der Einberufung bzw. Mobilmachung entzogen haben (vgl. DRC, a.a.O., S. 16).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO sowie § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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