Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschluss vom 22.07.2021 - 5 MB 16/21
Fundstelle
openJur 2021, 23448
  • Rkr:

Ein Eignungsgutachten, das Grundlage für die Entziehung einer Fahrerlaubnis sein soll, muss nachvollziehbar sein; die Nachvollziehbarkeit erfordert die Wiedergabe aller wesentlichen Befunde und die Darstellung der zur Beurteilung führenden Schlussfolgerungen.

Tenor

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 3. Kammer, Einzelrichter - vom 12. Mai 2021 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird unter Abänderung des Beschlusses des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 3. Kammer, Einzelrichter - vom 12. Mai 2021 für das gesamte Verfahren auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 12. Mai 2021 ist unbegründet. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, die allein Gegenstand der Prüfung durch den Senat sind (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), stellen das Ergebnis des angefochtenen Beschlusses nicht in Frage.

Das Verwaltungsgericht hat nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 19. April 2021 gegen die mit Bescheid des Antragsgegners vom 31. März 2021 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis wiederhergestellt. Zugleich hat es nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO die Aufhebung der Vollziehung angeordnet und dem Antragsgegner aufgegeben, dem Antragsteller den eingezogenen Führerschein herauszugeben. Die Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen sei zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entziehung der Fahrerlaubnis nicht als erwiesen anzusehen. Der Antragsgegner habe nicht aufgrund der ärztlichen Stellungnahmen des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie ... ... vom 25. Januar 2021 und seines Amtsärztlichen Dienstes vom 19. März 2021 davon ausgehen dürfen, dass die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen feststehe. Fachärztlich diagnostiziert sei beim Antragsteller eine leichte kognitive Beeinträchtigung, die den chronischen hirnorganischen Psychosyndromen im Sinne der Ziffer 7 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung zuzuordnen sei. Diese schließe in einer leichten Ausprägung - wie sie nach Aktenlage auch beim Antragsteller nach wie vor vorliege - die Fahreignung nicht kategorisch aus, sondern führe zu einer bedingten Fahreignung, der durch die Anordnung von Auflagen Rechnung zu tragen sei. Zwar verlaufe die kognitive Störung ausweislich der fachärztlichen Stellungnahme des Psychiaters ... langsam progredient, es sei aber an keiner Stelle ausgeführt, dass das Krankheitsbild des Antragstellers nunmehr die Ausprägung eines schweren hirnorganischen Psychosyndroms angenommen hätte, bei dem gemäß Ziffer 7.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung auch eine bedingte Fahreignung nicht mehr in Betracht komme. Es seien auch jüngst keine umfangreichen ärztlichen, insbesondere neurologischen oder psychiatrischen Untersuchungen des Antragstellers durchgeführt worden, sondern lediglich der Mini-Mental-Status Test. Insoweit konstatiere auch die Amtsärztin nichts anderes. Bei dieser Tatschengrundlage wäre anstelle der unmittelbaren Entziehung der Fahrerlaubnis die (erneute) Anordnung eines ärztlichen Gutachtens im Sinne von § 11 Abs. 2 FeV geboten gewesen. Die gesicherte Feststellung einer Erkrankung im Sinne der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung, namentlich der vorliegend in Rede stehenden chronischen hirnorganischen Psychosyndrome im Sinne der Ziffer 7.2 und ihrer Ausprägung, erfordere eine umfangreiche persönliche Untersuchung des Fahrerlaubnisinhabers. Die Beurteilung der Fahreignung müsse in solchen Fällen individuell anhand des Ausmaßes und des Schweregrades der Symptomatik sowie unter Berücksichtigung von Kompensationsstrategien und Ressourceneinsatz erfolgen. Dies sei nicht ansatzweise geschehen. Die Amtsärztin des Antragsgegners habe für ihre Stellungnahme lediglich die medizinisch relevanten Aktenbestandteile über den Antragsteller ausgewertet, ohne ihn selbst zu untersuchen.

Der Antragsgegner bringt mit seiner Beschwerde vor, der Antragsteller habe sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen. Der Gutachter ... verfüge als Facharzt für Psychiatrie über die fachliche Qualifikation, ein Gutachten über die körperliche und geistige Fahreignung des Antragstellers zu erstellen. Er sei damit auch beauftragt worden. Im Gutachten komme Herr ... zu dem Ergebnis, dass eine Eignung, ein Kraftfahrzeug allein zu führen, nicht mehr gegeben gewesen sei. Es bestehe keine Veranlassung, das Gutachten in Zweifel zu ziehen, zumal der Gutachter den Antragsteller seit Jahren kenne und sich das Ergebnis mit der Einschätzung im neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 23. November 2019 decke. Auch dort sei der Gutachter zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Fahrtauglichkeit nicht mehr gegeben wäre, wenn sich aus der seinerzeit noch leichten kognitiven Beeinträchtigung eine Demenz entwickele. Aus dem Gutachten vom 25. Januar 2021 ergebe sich, dass diese Verschlechterung nunmehr eingetreten sei. Anders als das Verwaltungsgericht meine, dürfte sich durch eine erneute Anordnung eines ärztlichen Gutachtens keine zusätzlichen Erkenntnisse gewinnen lassen. Es sei nicht ersichtlich, wieso ein anderer Gutachter die gesundheitliche Situation des Antragstellers besser beurteilen könnte als Herr .... Seinem Gutachten komme auch nicht deshalb ein geringerer Beweiswert zu, weil § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV vorsehe, dass die Begutachtung nicht durch den behandelnden Arzt durchgeführt werden solle. Diese Vorschrift solle Interessenkollisionen vermeiden und das Vertrauensverhältnis in der Arzt-Patientenbeziehung schützen. Eine generelle Regel, einer - negativen - Stellungnahme deshalb einen geringeren Beweiswert zuzumessen, ergebe sich daraus nicht. Dieses Vorbringen rechtfertigt eine Abänderung des angefochtenen Beschlusses nicht.

Voraussetzung für den Entzug der Fahrerlaubnis ist, dass sich der Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV). Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen und Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV).

Die Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung enthält eine Aufstellung häufiger vorkommender Erkrankungen und Mängel, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen längere Zeit beeinträchtigen oder aufheben können (vgl. Vorbemerkung Nr. 1 Satz 1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung), wobei die insoweit vorgenommenen Bewertungen für den Regelfall gelten (vgl. Vorbemerkung Nr. 3 Satz 1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung). Nach Ziffer 7.2.1. der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung ist bei leichten chronischen hirnorganischen Psychosyndromen die Eignung oder bedingte Eignung für die Klassen A, A1, A2, B, BE, AM, L und T (Gruppe 1 der Fahrerlaubnisklassen) - der Antragsteller ist nur Inhaber einer Fahrerlaubnis für die Klassen B, BE, AM, L und T - abhängig von Art und Schwere gegeben. Bei schweren chronischen hirnorganischen Psychosyndromen (Ziffer 7.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung) und schwerer Altersdemenz und schweren Persönlichkeitsveränderungen durch pathologische Alterungsprozesse (Ziffer 7.3 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung) ist die Eignung oder bedingte Eignung für die Klassen A, A1, A2, B, BE, AM, L und T demgegenüber nicht gegeben. Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sind nach Anlage 4a zur Fahrerlaubnisverordnung die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 in der Fassung vom 28. Oktober 2019.

Unter Berücksichtigung dessen ist das Verwaltungsgericht zu Recht zu der Annahme gelangt, dass das fachärztliche Gutachten der Westküstenkliniken - Standort Heide - vom 25. Januar 2021 sowie die Stellungnahme des Amtsärztliches Dienstes vom 19. März 2021 allein nicht ausreichend sind, um dem Antragsteller die Fahrerlaubnis zu entziehen.

Der Antragsteller hat sich erstmalig im Jahre 2019 einer neurologisch-psychiatrischen Eignungsuntersuchung unterzogen. Anlässlich der Erstellung des neurologisch-psychiatrischen Eignungsgutachtens vom 23. November 2019 wurde u.a. eine ausführliche neuropsychologische Testung durchgeführt, und zwar der Zahlen-Interferenztest (Reaktionsunterdrückung), der TAP I (visuo-motorisches Tempo), der TAP II (Umstellungsvermögen), der Labyrinthtest (visuo-motorische Planung), Wortflüssigkeit (rascher lexikalischen Zugriff) sowie die invertierte Zahlenspanne (Arbeitsgedächtnis). In den untersuchten Bereichen zeigten sich seinerzeit bei den Untersuchungen keine Auffälligkeiten. In der Zusammenfassung führt der Gutachter (Eberhard von Werder) aus, der Antragsteller habe sich offensichtlich im Jahre 2017 aufgrund seiner kognitiven Einschränkung in fachärztliche Behandlung begeben, um eine Klarheit diagnostisch zu erzielen. Aus den vorliegenden Berichten aus Heide, Hamburg Eilbeck und aus dem medizinischen Versorgungszentrum der Diako in Schleswig sei jeweils hervorgegangen, dass ein demenzielles Syndrom, am ehesten eine Alzheimer-Demenz vorläge. Diese Hypothese sei auf den Screeningtest (Minimental-State-Examination) und die Liquoranalytik gestützt worden. Eine ausführliche neuropsychologische Testung sei in diesem Zusammenhang aber nicht durchgeführt worden. Aus dem erhobenen Befund ergebe sich nicht der Befund einer Demenz, sondern lediglich eine leichte kognitive Beeinträchtigung. Die neuropsychologische Testung, die deutlich umfassender durchgeführt worden sei als die vorherigen Testungen, habe einen vollständig unauffälligen, durchschnittlichen Befund an der oberen Grenze ergeben. Würde ein demenzielles Syndrom vorliegen, hätte der Antragsteller diese Aufgaben nicht in dieser Qualität durchführen können. Da die Entwicklung einer leichten kognitiven Beeinträchtigung nicht sicher zu prognostizieren sei, der Antragsteller sich aber in regelmäßiger Behandlung in der psychiatrischen Institutsambulanz in Heide (Gesprächssprechstunde) befinde, seien im Weiteren halbjährliche fachärztliche Bescheinigungen bezüglich des Gesundheitszustandes der Verkehrsabteilung vorzulegen.

Mit Bescheid vom 10. Dezember 2019 beließ der Antragsgegner dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Gruppe 1 unter der Auflage, dass er sich in halbjährlichen Abständen in der Institutsambulanz Heide bezüglich seines Gesundheitszustandes (bei festgestellter leichter kognitiver Beeinträchtigung) einer neurologisch-psychiatrischen Begutachtung zu unterziehen habe.

Das vom Antragsteller vorgelegte fachärztliche Gutachten der Westküstenkliniken - Standort Heide - vom 25. Januar 2021 gelangt zu der Beurteilung, dass der Antragsteller derzeit alleine für nicht in der Lage gehalten werde, seinen PKW zu führen; lediglich unter Aufsicht seiner Partnerin Frau ... sei er dazu in der Lage. Diese Beurteilung ist nicht nachvollziehbar.

Ein Eignungsgutachten, das Grundlage für die Entziehung einer Fahrerlaubnis sein soll, muss nachvollziehbar (und nachprüfbar) sein. Die Nachvollziehbarkeit betrifft die logische Ordnung (Schlüssigkeit) des Gutachtens. Sie erfordert die Wiedergabe aller wesentlichen Befunde und die Darstellung der zur Beurteilung führenden Schlussfolgerungen (Nr. 2a Sätze 1 und 2 der Anlage 4a zur Fahrerlaubnisverordnung). Testpsychologisch ist anlässlich der Erstellung des fachärztlichen Gutachtens vom 25. Januar 2021 - anders als noch bei Erstellung des neurologisch-psychiatrischen Eignungsgutachtens vom 23. November 2019 - lediglich ein Mini-Mental-Status Test nach Folstein durchgeführt worden, bei dem der Antragsteller 19 von 30 Punkten erreichte. Dies entspreche nach dem fachärztlichen Gutachten der Westküstenkliniken - Standort Heide - vom 25. Januar 2021 und der Stellungnahme des Amtsärztlichen Dienstes vom 19. März 2021 noch einer leichten Demenz, die nach Ziffer 7.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung in der Regel die Fahreignung nicht ausschließt.

Auch den weiteren Ausführungen im fachärztlichen Gutachten der Westküstenkliniken - Standort Heide - vom 25. Januar 2021 lässt sich nicht entnehmen, aus welchen Gründen die Fahreignung des Antragstellers nicht mehr gegeben sein sollte. In der Zusammenfassung und Beurteilung wird u.a. ausgeführt, dass der Antragsteller aktuell adäquat und reflektionsfähig erscheine; im Verhalten sei er im Tempo "flott", nicht verlangsamt und könne in Reaktion und in der Sprache adäquat und korrekt reagieren. Diese Ausführungen deuten gerade nicht auf eine Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten des Antragstellers hin. Nach der Zusammenfassung und Beurteilung sei der Antragsteller zwar im Bereich des Gedächtnisses stark eingeschränkt. Ob und inwieweit daraus eine Einschränkung der Fahreignung des Antragstellers resultieren könnte, legt das fachärztliche Gutachten jedoch nicht dar. Unklar ist auch, wie der Gutachter (... ...) zu der Einschätzung gelangt ist, dass dem Antragsteller das Führen eines Fahrzeugs nur noch in Begleitung seiner Lebensgefährtin möglich sei. Auch wenn der Antragsteller in den Wochen vor der Erstellung des fachärztlichen Gutachtens der Westküstenkliniken - Standort Heide - vom 25. Januar 2021 auf das Führen eines Fahrzeugs ohne Begleitung seiner Lebensgefährtin verzichtet hat, zieht dies nicht ohne weiteres nach sich, dass er hierzu nicht in der Lage wäre.

Auch aus der knappen - lediglich nach einem Aktenstudium gefertigten - Stellungnahme des Amtsärztlichen Dienstes vom 19. März 2021 ergibt sich nicht nachvollziehbar, dass sich der Antragsteller als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat. Insbesondere bei der Einschätzung, dass das Stadium der mittelschweren Demenz bald erreicht sein dürfte, handelt es sich um eine reine Vermutung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffer 46.3 und Ziffer 46.9 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31. Mai/1. Juni 2012 und 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen (nachfolgend Streitwertkatalog). Der Antragsteller ist im Besitz der Fahrerlaubnisklassen B, BE, AM, L und T. Für die Fahrerlaubnisse der Klassen B und BE ist nach Ziffer 46.3 des Streitwertkatalogs ein Auffangwert in Höhe von 5.000,00 € und für die Fahrerlaubnis der Klasse T nach Ziffer 46.9 des Streitwertkatalogs ein halber Auffangwert in Höhe 2.500,00 € anzusetzen. Den Fahrerlaubnissen der Klasse AM und L kommt daneben kein eigenständiger Wert zu, da die Fahrerlaubnis der Klasse B nach § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV zum Führen von Fahrzeugen der Klassen AM und L berechtigt. Der danach anzusetzende Wert von 7.500,00 € ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren aufgrund der Vorläufigkeit der Entscheidung nach Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs zu halbieren (vgl. Beschl. d. Senats v. 13.05.2020 - 5 MB 9/20 -, juris Rn. 3).

Die Abänderungsbefugnis für den durch das Verwaltungsgericht festgesetzten Streitwert folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).