VG Kassel, Beschluss vom 16.06.2021 - 6 L 1115/21.KS
Fundstelle
openJur 2021, 23154
  • Rkr:

1. Die Corona-Infektionslage im Juni 2021 genügt isoliert nicht, um ein Versammlungsverbot zu rechtfertigen.

2. Ein präventives Versammlungsverbot kommt aber in Betracht, wenn auf der Grundlage einer hinreichend tragfähigen Gefahrenprognose absehbar ist, dass die zu erwartenden Versammlungsteilnehmer überwiegend der sog. Querdenker-Bewegung angehören und diese sich nach den Erfahrungen bei vergleichbaren Versammlungen in der Vergangenheit nicht an erforderliche Auflagen hielten.

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.

2. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen.

3. Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Der am 15. Juni 2021 gestellte Antrag,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid vom 14. Juni 2021, zugegangen am 14. Juni 2021, wiederherzustellen,

ist zulässig, aber unbegründet.

Die Kammer entscheidet gem. § 5 Abs. 3 S. 1 u. 2 VwGO in der Besetzung ihrer Berufsrichter ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter.

Gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet wurde (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO), die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise wiederherstellen. Im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts mit dem Suspensivinteresse des Antragstellers abzuwägen. Dabei kommt es auf die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs in der Hauptsache an. Hiernach überwiegt das private Interesse, wenn der Verwaltungsakt im Rahmen der nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung offensichtlich rechtswidrig ist, da an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Umgekehrt überwiegt das öffentliche Interesse, wenn der Verwaltungsakt nach summarischer Prüfung offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Vollzugsinteresse besteht. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, hat das Gericht eine unabhängige Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei ist die Prüfungsdichte des Gerichts bei hoher Eingriffsintensität aufgrund der Schwere und Irreparabilität eines dem Antragsteller drohenden Nachteils zu verschärfen. Je schwerwiegender die dem Einzelnen auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme Unabänderliches bewirkt, umso weniger darf der Rechtsschutzanspruch des Einzelnen zurückstehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.01.2020 - 2 BvR 690/19, juris Rn. 16, st. Rspr.; VG A-Stadt, Beschl. v. 29.10.2020 - 6 L 1989/20.KS, juris Rn. 6 st. KammerRspr.).

Unter Beachtung dieses Maßstabes sind das Versammlungsverbot in Nummer 1 des Bescheides vom 14. Juni 2021 und die darauf aufbauenden Nummern 2 und 3 offensichtlich rechtmäßig. Es besteht zudem ein besonderes Interesse am sofortigen Vollzug der Verfügung.

Die Antragsgegnerin hat zunächst durch eine noch ausreichend individuelle Begründung formell ordnungsgemäß die sofortige Vollziehung der Verfügungen zu den Nummern 1 bis 3 angeordnet (§ 80 Abs. 3 VwGO).

Das Versammlungsverbot (Nummer 1 des Bescheides) ist in materieller Hinsicht offensichtlich rechtmäßig. Die Antragsgegnerin hat unter Berücksichtigung der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Versammlungsfreiheit des Antragstellers und in Abwägung dieser mit entgegenstehenden Interessen der Allgemeinheit und Dritter in ermessensfehlerfreier Art und Weise die Versammlung "Mitsommer in Kassel - Bewahren - Versöhnen - Schöpfen" am 19. Juni 2021 von 12 Uhr bis 23:59 Uhr verboten.

1. Die Kammer geht zunächst davon aus, dass die an die Gesundheitsbehörden adressierten Vorgaben des Infektionsschutzrechts, namentlich § 28 und insbesondere § 28a Abs. 1 Nr. 10, Abs. 2 S. 1 Nr. 1 IfSG gegenüber den versammlungsrechtlichen Vorschriften keine Sperrwirkung entfalten (so bereits VG A-Stadt, Beschl. v. 17.03.2021 - 6 L 562/21.KS, juris Rn. 8; dem folgend HessVGH, Beschl. v. 19.03.2021 - 2 B 588/21, juris Rn. 6; so auch: BayVGH, Beschl. v. 21.02.2021 - 10 CS 21.526, juris Rn. 3, 14; VG München, Beschl. v. 20.02.2021 - M 13 S 21.900, juris Rn. 23). Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Versammlungsbehörde - wie hier - ihre Verfügung auch mit versammlungsspezifischen Gründen, wie der Gefahr von Auseinandersetzungen mit Gegendemonstrationen, versieht.

2. Gem. § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.

a) Der Begriff der "öffentlichen Sicherheit" umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit kann sich auch aus anderweitigen gravierenden Gefahren für hochrangige Schutzgüter wie Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) oder die Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitssystems im Falle einer Pandemie durch ein hochansteckendes Virus mit einer hohen Anzahl schwerer Erkrankungsverläufe ergeben.

b) Bei der Anwendung des § 15 Abs. 1 VersG ist stets die besondere Bedeutung der verfassungsrechtlich verankerten Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG zu beachten. Diese schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen. Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gewährleistet dabei auch ein Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung. Die Bürger sollen damit insbesondere selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können (vgl. BVerfG, Urt. v. 22.02.2011 - 1 BvR 699/06, juris Rn. 63 f.). Die Versammlungsfreiheit ist jedoch nicht vorbehaltlos gewährleistet. Vielmehr können Versammlungen unter freiem Himmel gem. Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz - wie hier § 15 VersG - oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden. Derartige Beschränkungen sind im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen. Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.08.2020 - 1 BvQ 94/20, juris Rn. 14, st. Rspr.). Insbesondere das Grundrecht Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gehört zu solchen Rechtsgütern, welches unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit versammlungsbeschränkende Maßnahmen, worunter grundsätzlich auch Versammlungsverbote fallen, rechtfertigen kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.08.2020 - 1 BvQ 94/20, juris Rn. 16). Ein Versammlungsverbot scheidet nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aber aus, solange mildere Mittel und Methoden der Rechtsgüterkonfliktbewältigung wie versammlungsrechtliche Auflagen bzw. Beschränkungen und der verstärkte Einsatz polizeilicher Kontrollen nicht ausgeschöpft oder mit tragfähiger Begründung ausgeschieden sind (vgl. BayVGH, Beschl. v. 11.09.2020 - 10 CS 20.2063, juris Rn. 9 m.w.N.; BVerfG, Beschl. v. 04.09.2009 - 1 BvR 2147/09, juris Rn. 17.).

c) Mit Blick auf die Corona-Pandemie kommen speziell Auflagen mit der Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Mindestabstände, aber auch Beschränkungen der Teilnehmerzahl in Betracht, um eine Unterschreitung notwendiger Mindestabstände zu verhindern, zu der es aufgrund der Dynamiken in einer großen Menschenmenge oder des Zuschnitts und Charakters einer Versammlung im Einzelfall selbst dann kommen kann, wenn bezogen auf die erwartete Teilnehmerzahl eine rein rechnerisch hinreichend groß bemessene Versammlungsfläche zur Verfügung steht. Darüber hinaus stellt die Anordnung der Verpflichtung der Versammlungsteilnehmer zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen sowie die Durchführung als ortsfeste Kundgebung anstatt als Aufzug oder die Verlegung an einen aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vorzugswürdigen Alternativstandort ein regelmäßig milderes Mittel dar (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.08.2020 - 1 BvQ 94/20, juris Rn. 16).

d) Eingriffe in Art. 8 Abs. 1 GG kommen von vornherein aber nur in Betracht, wenn die öffentliche Sicherheit und damit zum Beispiel das Rechtsgut Leben und körperliche Unversehrtheit unmittelbar gefährdet ist, d. h. wenn der von der Versammlungsbehörde anzustellenden Gefahrenprognose konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte zu Grunde liegen, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben; bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen für sich allein nicht aus (BVerfG, Beschl. v. 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04, juris Rn. 17; ThürOVG, Beschl. v. 26.02.2021 - 3 EO 134/21, juris Rn. 6). Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen (BVerfG, Beschl. v. 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04, juris Rn. 17). Dabei liegt, nach den allgemeinen Regeln des Verwaltungsrechts, die auf die Konzeption der Grundrechte als Abwehrrechte abgestimmt sind, die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von freiheitseinschränkenden Maßnahmen bei der Behörde (BVerfG, Beschl. v. 04.09.2009 - 1 BvR 2147/09, juris Rn. 13; insgesamt zum Vorstehenden VG A-Stadt, Beschl. v. 17.03.2021 - 6 L 573/21.KS, juris Rn. 24 ff.).

3. Von diesen Maßstäben ausgehend erweist sich das durch die Antragsgegnerin verfügte Verbot voraussichtlich als offensichtlich rechtmäßig.

a) Dabei steht zunächst außer Zweifel, dass die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG auch für sog. Querdenker gilt. Soweit der Antragsteller unterstellt, dies werde von der Antragsgegnerin negiert, dokumentiert die umfangreiche Prüfung und Abwägung im hier streitgegenständlichen - 29 Seiten umfassenden - Bescheid, dass die Antragsgegnerin vom zutreffenden verfassungsrechtlichen Maßstab ausgegangen ist. Der verfassungsrechtliche Geltungsanspruch ist dabei genauso selbstverständlich, wie die Verpflichtung der sog. Querdenker bei der Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit geltendes Recht - namentlich beispielsweise etwaige Auflagen der Versammlungsbehörde - zu beachten.

b) Das Verbot dient dem Zweck, eine Überforderung des Gesundheitssystems zu verhindern und die Grundrechte Dritter auf Leben und Gesundheit zu schützen. Hierzu soll durch das Versammlungsverbot das Infektionsrisiko reduzieren werden, indem das Zusammentreffen vieler Personen vermieden wird. Dies sind grundsätzlich legitime Ziele eines Versammlungsverbotes.

Die derzeitige Infektionslage genügt indessen isoliert nicht, um ein Verbot zu rechtfertigen. Denn eine akute Gefahr für eine Überforderung des Gesundheitssystems dürfte nicht ohne Weiteres (mehr) bestehen. Die Anzahl gemeldeter intensivmedizinisch behandelter COVID-19 Fälle ist deutschlandweit von ihrem Höchstwert 5.745 am 3. Januar 2021 derweil auf 1.205 am 15. Juni 2021 gesunken. In Hessen lag der Höhepunkt am 5. Januar 2021 mit 523 und liegt derweil, am 15. Juni 2021, bei 129 (vgl. https://www.intensivregister.de/#/aktuelle-lage/zeitreihen). Des Weiteren sind die Inzidenzwerte stark gesunken. Bundesweit beträgt die Inzidenz aktuell 15 (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand 15.06.2021) in ... beträgt sie aktuell 22,3 (Stadt) und 14,4 (Landkreis) und in Hessen 19 (vgl. https://www.kassel.de/aktuelles/aktuelle-meldungen/coronavirus.php, Stand 15.06.2021). Hinzu kommt, dass die Impfkampagne fortschreitet. Inzwischen (Stand 15.06.2021) haben mindestens 48,7 % der deutschen Bevölkerung eine Impfdosis erhalten, 26,8 % der Gesamtbevölkerung sind vollständig geimpft (https://impfdashboard.de/).

Trotz sinkender Infektionszahlen und Entspannung auf den Intensivstationen hat der Bundestag am 11. Juni 2021 aber das Fortbestehen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite für drei weitere Monate festgestellt (https://www.bundestag.de/doku-mente/textarchiv/2021/kw23-de-epidemische-lage-845692). Dem entspricht es, dass das Robert Koch-Institut die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt weiterhin als hoch und die Ressourcenbelastung des Gesundheitssystems in weiten Teilen Deutschlands als sehr hoch einschätzt, so dass das öffentliche Gesundheitswesen und die Einrichtungen für die stationäre medizinische Versorgung örtlich an die Belastungsgrenze kämen. Die Dynamik der Verbreitung einiger Varianten von SARS-CoV-2 (aktuell B.1.1.7, B.1.351, P1 und B.1.617) ist nach dessen Einschätzung besorgniserregend. Diese besorgniserregenden Varianten sind in unterschiedlichem Ausmaß auch in Deutschland nachgewiesen worden. Insgesamt ist die Variante B.1.1.7 inzwischen in Deutschland der vorherrschende COVID-19-Erreger. Die Varianten, die zuerst im Vereinigten Königreich (B.1.1.7), in Südafrika (B.1.351), in Brasilien (P1) und in Indien (B.1.617) nachgewiesen wurden, sind nach Untersuchungen aus dem Vereinigten Königreich und Südafrika und gemäß Einschätzung des ECDC noch leichter von Mensch zu Mensch übertragbar. Außerdem führen sie möglicherweise zu potentiell schwereren Krankheitsverläufen. All das kann zu einer schnellen Zunahme der Fallzahlen und der Verschlechterung der Lage beitragen (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand 15.06.2021). Dies zeigt vor allem die Verbreitung der sog. Delta-Variante (B.1.617) in Großbritannien, welche für ein rapides Ansteigen der Infektionszahlen trotz dort weit vorangeschrittener Impfkampagne sorgt, weshalb angekündigte Lockerungen verschoben wurden (vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/grossbritannien-lockerungen-101.html, Stand 15.06.2021).

c) Diese Situation dürfte dennoch ein Totalverbot einer Versammlung derzeit nicht rechtfertigen. Vielmehr kommen grundsätzlich mildere Maßnahmen, wie z. B. Auflagen zur Einhaltung des Mindestabstandes und zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen, in Betracht. Im hier gegebenen konkreten Einzelfall stellen solche Auflagen aber kein wirksames Mittel zum Schutz der Grundrechte Dritter und der Allgemeinheit dar, weil der Antragsteller keine Gewähr dafür bietet, dass entsprechende Auflagen tatsächlich umgesetzt und eingehalten werden. Dabei kann dahinstehen, ob eine Auflage zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Freien weiterhin verhältnismäßig ist (dafür: VG Gießen, Beschl. v. 11.06.2021 - 4 L 2145/21.GI, n. v.; bestätigt durch HessVGH, Beschl. v. 11.06.2021, 2 B 1259/21 (noch) n.v. PM 13/2021; vgl. hierzu auch die öffentliche Diskussion wie z. B. unter https://www.tagesschau.de/inland/maskenpflicht-intensivmediziner-101.html, Stand 15.06.2021). Denn jedenfalls der Mindestabstand, der nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts bei Menschenansammlungen im Freien erforderlich ist (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Corona-virus/Risikobewertung.html, Stand 15.06.2021), wäre einzuhalten, was aber durch den Antragsteller und die zu erwartenden Teilnehmer nicht sichergestellt wäre. In der Folge wäre die Auflösung der Versammlung absehbar, so dass die Versammlungsbehörde diese Versammlung auch präventiv verbieten darf (vgl. BayVGH, Beschl. v. 19.09.2020 - 10 CS 20.2103, juris Rn. 10; in einer ähnlichen Konstellation: VG Stuttgart, Beschl. v. 15.04.2021 - 5 K 1872/21, juris Rn. 16).

Die Antragsgegnerin hat insoweit eine hinreichend tragfähige Gefahrenprognose getroffen. Sie führt im Gegensatz zu ihren Verbotsverfügungen die Versammlungen am 20. März 2021 betreffend nicht nur auf Basis bloßer Vermutungen, sondern auf der Grundlage ausreichender Erkenntnisse zu Recht an, dass der Antragsteller und die zu erwartenden Teilnehmer der sog. Querdenker-Bewegung angehören. Hierzu stützt sie sich erstmals auf eine umfangreiche Gefährdungslagenbewertung des Polizeipräsidiums Nordhessens vom 2. Juni 2021, auf eine dokumentierte und nachvollziehbare Internetrecherche, in den Akten dokumentierte Erfahrungsberichte sowie Erkenntnisse der Berichterstattung, sozialer Netzwerke und Geschehnisse auf vergangenen Veranstaltungen. Die Gefährdungslagenbewertung der Polizei wurde auf Anforderung des Gerichts am 15. Juni 2021 aktualisiert und bestätigt die Einschätzung der Antragsgegnerin im Bescheid.

Die sog. Querdenker-Bewegung setzt sich aus einem heterogenen Personenkreis zusammen, welche die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und die daraus resultierenden Grundrechtsbeschränkungen ablehnen. Die gesamte Bewegung steht inzwischen im Visier des Verfassungsschutzes. Entsprechende Bezüge der Bewegung zu Kassel im Allgemeinen und im Besonderen zum Antragsteller hat die Antragsgegnerin in der angefochtenen Verfügung dargestellt (S. 10 ff.). Das Gericht macht sich diese zu Eigen. Hervorzuheben ist - aufgrund der damaligen Berichterstattung -, dass die Versammlungen in Kassel am 20. März 2021 von tausenden Personen besucht worden sind, welche der Querdenker-Bewegung angehörten. Die damaligen, zum Teil verbotenen, Veranstaltungen sind angesichts der im Ergebnis gleichen Bestrebungen der Teilnehmer, des ähnlichen Versammlungsortes und des gleichen Organisatoren- und Teilnehmerkreises mit der hier angemeldeten Versammlung vergleichbar, weshalb das Gericht keine Zweifel hat, dass die Antragsgegnerin dies bei ihrer Entscheidung berücksichtigen durfte. Insbesondere meldete der Antragsteller selbst für den 20. März 2021 eine Versammlung auf dem Friedrichsplatz an. Er trat ferner u. a. als Versammlungsleiter einer Versammlung am 22. Mai 2021 in Erscheinung. Dort trug er laut Gefährdungslagenbewertung des Polizeipräsidiums Nordhessen vom 2. Juni 2021 und vom 15. Juni 2021 keine Mund-Nasen-Bedeckung trotz entsprechender Auflage. Darauf angesprochen kam er seiner Pflicht als Versammlungsleiter nicht nach, sondern weigerte sich, die Bedeckung zu tragen und übergab die Versammlungsleitung einer Teilnehmerin. Er entfernte sich von der Versammlung. Die Geschehnisse räumt der Antragsteller in der Antragsbegründung ein. Soweit er meint, dass er die Mund-Nasen-Bedeckung aufgrund körperlicher Beschwerden nicht habe tragen können, trägt er weder vor, um welche körperlichen Beeinträchtigungen es sich dabei handeln soll, geschweige denn legt er entsprechende medizinische Atteste vor. Insgesamt stuft nicht nur die Antragsgegnerin, sondern auch die Polizei den Antragsteller in ihrer Lagebewertung als der Querdenker-Bewegung zugehörig ein. Dies gilt aufgrund der Gefährdungslagenbewertung des Polizeipräsidiums Nordhessen vom 15. Juni 2021 auch für weitere zwei Anmelder für Versammlungen am 19. Juni 2021, welche polizeilich bekannt sind und bereits als Anmelder und Versammlungsleiter bei der Großversammlung am 20. März 2021 auftraten, und wonach die drei Anmelder, darunter der Antragsteller, die Versammlung gemeinschaftlich bewerben und ausschließlich zur Teilnahme am Friedrichsplatz aufrufen.

Soweit der Antragsteller seine Zugehörigkeit zur Querdenker-Bewegung in Abrede stellt, dürfte es darauf angesichts der zu erwartenden Teilnehmer im Ergebnis nicht ankommen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass eine trennscharfe Abgrenzung zwischen zu erwartenden Versammlungsteilnehmern, welche der sog. Querdenker-Bewegung zuzuordnen sind, und welche nicht, kaum möglich ist, da es sich hierbei wie erwähnt - anders als bei einer Partei oder einem Verein - um eine heterogene Bewegung handelt. Entscheidend ist vielmehr, ob aufgrund einer validen Prognose zu erwarten ist, dass der Querdenker-Bewegung zugehörige Personen an der geplanten Versammlung teilnehmen werden. Dies ist aufgrund der Lagebewertung der Polizei und den Erfahrungen mit den Versammlungen am 20. März 2020 der Fall.

Ferner wird die Zugehörigkeit des Antragstellers zur Querdenker-Bewegung durch die polizeiliche Lagebewertung und die Tatsache, dass der Antragsteller selbst für den 20. März 2021 eine Versammlung anmeldete, belegt. Zudem räumt er ein, weiterhin Administrator der "Freien Bürger Kassel" zu sein, welche indes zu den Versammlungen am 20. März 2021 aufriefen und deren Kanäle ausweislich der Ausführungen im angegriffenen Bescheid (S. 11) von "Querdenken-561" in "Freie Bürger Kassel" umbenannt wurden. Außerdem gab der Antragsteller ausweislich der Gefährdungslagenbewertung des Polizeipräsidiums Nordhessen vom 15. Juni 2021 in einem Interview mit einem Journalisten der HNA an, dass es natürlich keine Distanzierung zu den "Freien Bürgern

Kassel" gebe. Auch wenn sie sich nicht an der Veranstaltung beteiligten, seien sie aber dazu eingeladen, sich zu beteiligen. Seine Verbindungen zur Querdenken-Bewegung stellt der Antragsteller selbst ebenfalls nicht deutlich in Abrede. Ob darüber hinaus zu fordern wäre, dass von ihm als Veranstalter der Versammlung erwartet werden kann, dass er bereits im Vorfeld der Versammlung öffentlich deutliche Signale setzt, die auf die Durchführung der Versammlung ohne Verletzung der Rechtsordnung (Verletzung der Abstandspflicht) ausgerichtet sind, wenn mit der Teilnahme einer nicht unerheblichen Anzahl von Personen zu rechnen ist, die wie bei Vorgängerversammlungen nicht gewillt sind, sich an geltende Vorschriften zu halten (vgl. VGH Ba-Wü, Beschl. v. 16.04.2021 - 1 S 1304/21, juris Rn. 18), kann aufgrund vorstehender Erwägungen dahinstehen.

Vor allem bei den vergleichbaren Veranstaltungen am 20. März 2021 kam es zu etlichen Auflagenverstößen. Die Teilnehmer verstießen dabei häufig nicht nur gegen die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, sondern auch gegen den Mindestabstand. Dies führt die Antragsgegnerin nicht nur im Einzelnen in der Verfügung vom 14. Juni 2021 aus (S. 17 ff.), worauf verwiesen wird, sondern ergibt sich auch aus der Gefährdungslagenbewertung des Polizeipräsidiums Nordhessen vom 2. Juni 2021 und vom 15. Juni 2021, ist gerichtsbekannt und wird in dem bereits erwähnten Interview von dem Antragsteller auch eingeräumt. Daraus folgt zugleich, dass die eingesetzten Ordner die Einhaltung der Auflagen nicht überwachten und Anweisungen der Polizei nicht Folge geleistet wurde. Soweit der Bevollmächtigte des Antragstellers als Teilnehmer der Veranstaltung am 20. März 2021 auf der Schwanenwiese ausführt, diese sei friedlich gewesen, ergibt sich daraus nichts Abweichendes, weil er damit selbst nicht behauptet, dass die Auflagen eingehalten worden seien. Dies räumt er im Schriftsatz vom 16. Juni 2021 auch ein. Darüber hinaus fanden am 20. März 2021 auch auf Flächen Versammlungen und Aufzüge statt, auf welchen zuvor Verbote ausgesprochen waren. All dies zeigt deutlich, dass die zu erwartenden Teilnehmer der vom Antragsteller als Teil der Querdenker-Bewegung angemeldeten Versammlung aller Voraussicht nach nicht gewillt sind, versammlungsrechtliche Auflagen, insbesondere die Pflicht zur Einhaltung des Mindestabstandes, einzuhalten.

Andere mildere Mittel wie die Bestimmung eines anderen Versammlungsleiters, eine nur stationäre Versammlung oder eine Begrenzung der Teilnehmerzahl scheiden aus vorstehenden Erwägungen ebenfalls aus.

Das Verbot erweist sich schließlich im Lichte von Art. 8 Abs. 1 GG als verhältnismäßig im engeren Sinne. Denn die körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG der Versammlungsteilnehmer, von Gegendemonstranten, von Passanten und beteiligten Polizeibeamten sowie im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitswesens in Deutschland ist jedenfalls vorliegend im Ergebnis höher zu bewerten als die Versammlungsfreiheit. Weitergehende Anforderungen an das Versammlungsverbot resultieren entgegen der Auffassung des Antragstellerbevollmächtigten nicht aus § 28a Abs. 2 IfSG. Die darin enthaltene einfachgesetzlich normierte Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes spiegelt lediglich die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Art. 8 Abs. 1 GG wider, welcher wie geprüft, nicht verletzt ist (vgl. zu § 28a Abs. 2 IfSG im Einzelnen VGH Ba-Wü, Beschl. v. 16.04.2021 - 1 S 1304/21, juris Rn. 22 ff. sowie VG Stuttgart, Beschl. v. 15.04.2021 - 5 K 1872/21, juris Rn. 7).

Aufgrund vorstehender Erwägungen sind auch die Nummern 2 und 3 der Verfügung vom 14. Juni 2021 materiell rechtmäßig.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 S. 1 VwGO.

5. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Ziffer 45.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Eine weitere Reduzierung des Streitwerts findet im Hinblick auf die Vorwegnahme der Hauptsache nicht statt.