OLG Hamm, Beschluss vom 30.11.2020 - 1 Vollz (Ws) 322+463-464/20
Fundstelle
openJur 2021, 23121
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 13 StVK 5/20
Tenor

Die Rechtsbeschwerde wird zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen, soweit das Antragsbegehren zu 1. (Gewährung vollständiger Einsicht in die Patientenakten) als erledigt angesehen worden ist.

Insoweit wird der angefochtene Beschluss aufgehoben und das LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie C verpflichtet, dem Betroffenen vollständige Einsicht in seine Patientenakten durch Fertigung und Übersendung vollständiger Kopien/Ausdrucke an den Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwalt A in B (gegebenenfalls gegen Kostenbeteiligung des Betroffenen nach Maßgabe der Verfügung des Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug vom 05. April 2016 zu LB II - 0540.4.1) zu gewähren.

Im Übrigen wird die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen.

Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und des Verfahrens erster Instanz trägt der Betroffene. Die Gerichtsgebühr wird jeweils um 1/3 ermäßigt. In diesem Umfang fallen die notwendigen Auslagen des Betroffenen jeweils der Landeskasse zur Last.

Gründe

I.

Der Betroffene befindet sich gemäß § 63 StGB im Maßregelvollzug im LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie C in D (im Weiteren: Therapiezentrum). Die Anordnung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfolgte durch Urteil des Landgerichts Siegen vom 28. August 2018, welches seit dem 06. September 2019 rechtskräftig ist. Bereits zuvor war der Betroffene seit dem 18. April 2018 gemäß § 126a StPO dort vorläufig untergebracht gewesen. Seit dem Tag der Rechtskraft wird die Maßregel nach § 63 StGB vollzogen.

Schon während seiner vorläufigen Unterbringung und auch nach dem Vollzugsbeginn der Maßregel beantragte der Betroffene über seinen Verfahrensbevollmächtigten mehrfach die Gewährung von Einsicht in seine Patientenakten. Daraufhin wurde dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen zunächst eine aus nicht vollständigen Kopien bestehende "Zweitakte" übersandt und ihm schließlich angeboten, in den Räumlichkeiten des Therapiezentrums Einsicht in die vollständigen Patientenakten zu nehmen, was der Verfahrensbevollmächtigte ablehnte. Gleichfalls bereits während seiner vorläufigen Unterbringung erklärte der Betroffene über seinen Verfahrensbevollmächtigten seine Behandlungsbereitschaft und beantragte mit dem Argument, eine fachgerechte Behandlung finde nicht statt, mehrfach die Erstellung eines Behandlungsplans. Nach Eintritt der Rechtskraft des Anlassurteils wurden seitens des Therapiezentrums zunächst unter dem 06. September 2019 ein vorläufiger Behandlungsplan und sodann unter dem 18. Oktober 2019 ein (tabellarischer) sog. "Sechs-Wochen-Plan" erstellt.

Mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 28. Januar 2020 stellte der Betroffene sodann Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Damit begehrte er ad 1. die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung vollständiger Einsicht in seine - des Betroffenen - Patientenakten, ad 2. die Verpflichtung des Antragsgegners zur Erstellung und Fortschreibung eines individualisierten Behandlungsplans, woran er auch festhielt, nachdem seitens des Therapiezentrums unter dem 18. April 2020 ein (weiterer) Behandlungsplan erstellt worden war, ad 3. die Verpflichtung des Therapiezentrums zur Durchführung einer Diagnose- und traumatherapeutischen Behandlung durch einen externen Therapeuten in Bezug auf ein bei dem Betroffenen vorliegendes "Hunde-Trauma" sowie ad 4. die Verpflichtung des Therapiezentrums, dem Betroffenen die Teilnahme am dortigen Sportangebot zu ermöglichen.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer die Antragsbegehren ad 1. und ad 2. als erledigt angesehen und den Antrag auf gerichtliche Entscheidung insoweit als unzulässig verworfen. In Bezug auf die Antragsbegehren ad 3. und 4. hat sie den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen.

Nach Zustellung des Beschlusses am 14. Juli 2020 hat der Betroffene dagegen durch Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 03. August 2020, der am selben Tag beim Landgericht Paderborn einging, Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der er (lediglich) seine Antragsbegehren ad 1., 2. und 3. unter näheren Ausführungen, auf die verwiesen wird, weiterverfolgt.

Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen hat unter dem 28. Oktober 2020 Stellung genommen. Er hält die Rechtsbeschwerde in Ermangelung eines Zulassungsgrundes für unzulässig, jedenfalls aber aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung für unbegründet.

Der Betroffene hat sich dazu mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 11. November 2020 geäußert.

II.

1.

Die gemäß § 118 StVollzG form- und fristgerecht eingelegte und mit einer Begründung versehene Rechtsbeschwerde war in Bezug auf das Begehren ad 1. (Gewährung vollständiger Einsicht in die Patientenakten) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen, § 116 Abs. 1 StVollzG.

Es ist zu besorgen, dass die Strafvollstreckungskammer im Anschluss an das Therapiezentrum die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2016 zu 2 BvR 1541/15, veröffentlicht bei juris) in Verbindung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Kammer IV, Urteil vom 28. April 2009 zu Bsw. 32881/04, Beschwerdesache K. H. u.a. gegen die Slowakei) bestehenden Grundsätze zur Gewährung von Einsicht in die (eigenen) Patienten- bzw. Krankenakten (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 2 und 3 MRVG NRW), denen sich der Senat wie auch die übrige obergerichtliche Rechtsprechung angeschlossen hat (vgl. z.B. Senat, Beschluss vom 23. Februar 2012 zu III-1 Vollz(Ws) 653/11, veröffentlich bei juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 20. Oktober 2015 zu 2 Ws 387/15 (Vollz), veröffentlicht bei juris), verkannt hat, wie im Rahmen der Begründetheit (nachfolgend unter 2.) weiter ausgeführt wird. Wegen der erheblichen Folgen für den Betroffenen hat dies auch Auswirkungen auf die Rechtsprechung im Ganzen und betrifft nicht lediglich den vorliegenden Einzelfall.

2.

Die Rechtsbeschwerde hat insoweit auch in der Sache Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, soweit das Begehren ad 1. als erledigt angesehen und der Antrag auf gerichtliche Entscheidung verworfen worden ist.

a)

Die Strafvollstreckungskammer hat im Anschluss an das Therapiezentrum die vom Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Grundsätze über die Gewährung von Einsicht in die (eigenen) Patientenakten, die auch in der Rechtsprechung des Senats Niederschlag gefunden haben, verkannt, indem sie insbesondere die vom Therapiezentrum angebotene Möglichkeit der Einsicht in die vollständigen Patientenakten des Betroffenen als ausreichend angesehen hat.

Das Recht auf Selbstbestimmung und die personale Würde eines jeden Patienten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) gebieten allerdings jedem Patienten gegenüber seinem Arzt und Krankenhaus grundsätzlich einen Anspruch auf vollständige Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen und die Übermittlung (vollständiger) Kopien bzw. Ausdrucke (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2016 zu 2 BvR 1541/15, zitiert nach juris Rn. 17 ff. m.w.N.). Dies gilt angesichts des besonderen Machtgefälles insbesondere auch dann, wenn der Patient im Straf- oder - wie hier - im Maßregelvollzug untergebracht ist (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2016 zu 2 BvR 1541/15, zitiert nach juris Rn. 19; Senat, Beschluss vom 23. Februar 2012 zu III-1 Vollz(Ws) 653/11, zitiert nach juris Rn. 17 ff.). Dieser grundrechtlich verankerte Anspruch des Patienten wird durch die Wertungen des Art. 8 EMRK und auch des Art. 6 EMRK unterstrichen. Denn die effektive Ausübung des durch Art. 8 EMRK garantierten Rechts auf Zugang zu Informationen über den eigenen Gesundheitszustand gebietet die positive Verpflichtung des Besitzers der Akten, den betroffenen Personen auch (vollständige) Kopien bzw. Ausdrucke ihrer Akten zur Verfügung zu stellen, zumal (nur vollständige) Kopien/Ausdrucke den Zugang zu den Gerichten ermöglichen (vgl. Art. 6 EMRK) und gerade auch der Absicherung für den Fall der Vernichtung der Originalakten dienen (vgl. EGMR, a.a.O.). Dabei besteht keine Verpflichtung der betroffenen Personen, einen Antrag auf Anfertigung von Kopien/Ausdrucken besonders begründen zu müssen, sondern es ist Sache des Besitzers der Akten darzulegen, warum gegebenenfalls zwingende Gründe entgegenstehen (vgl. EGMR, a.a.O.). Zu Einschränkungen dieses vollumfänglichen Einsichtsrechts können allenfalls noch gewichtige Interessen der behandelnden Ärzte führen (vgl. Senat, Beschluss vom 23. Februar 2012 zu III-1 Vollz(Ws) 653/11, zitiert nach juris Rn. 29), die vorliegend weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich sind.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze reichte weder die Übersendung der unvollständigen "Zweitakte" an den Verfahrensbevollmächtigten noch die Möglichkeit der Einsichtnahme in die Originalunterlagen in den Räumlichkeiten des Therapiezentrums aus, um dem grundrechtlich geschützten Begehren des Betroffenen nachzukommen, so dass die Rechtsbeschwerde insoweit Erfolg hat und der angefochtene Beschluss insoweit aufzuheben war, § 119 Abs. 4 S. 1 StVollzG.

b)

Angesichts des vorstehend unter a) dargelegten Umfangs des Anspruchs des Betroffenen auf Gewährung von Einsicht in seine Patientenakten ist Entscheidungsreife i.S.d. §119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG gegeben, so dass es keiner Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer bedurfte. Vielmehr war insoweit die Verpflichtung des Therapiezentrums auszusprechen, dem Betroffenen vollständige Einsicht in seine Patientenakten durch Fertigung und Übersendung vollständiger Kopien/Ausdrucke an den Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwalt A in B zu gewähren (vgl. § 20 Abs. 1 S.3 MRVG NRW). Da es Sache des Besitzers der Akten ist, die Rahmenbedingungen für das Kopieren festzulegen (vgl. EGMR, a.a.O.), wozu auch eine entsprechende Kostenbeteiligung des Betroffenen zählen kann, hat der Senat die Verpflichtung unter etwaiger Kostenbeteiligung des Betroffenen nach Maßgabe der Verfügung des Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug vom 05. April 2016 (LB II - 0540.4.1) ausgesprochen, die ausweislich der Stellungnahme des Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug NRW Anwendung findet.

III.

Im Übrigen war die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.

1.

In Bezug auf das Antragsbegehren ad 2., welches in Gestalt eines Vornahmeantrages auf die Erstellung (und Fortschreibung) eines individualisierten Behandlungsplans gerichtet war, ist die Rechtsbeschwerde in Ermangelung eines Rechtsschutzbedürfnisses bereits unzulässig. Denn nachdem seitens des Therapiezentrums - zutreffend erst nach Eintritt der Rechtskraft des Anlassurteils - erstmals unter dem 06. September 2019 und zuletzt unter dem 18. April 2020 Behandlungspläne für den Betroffenen erstellt wurden, hat sich dieses Begehren erledigt, ohne dass der Betroffene insoweit Erledigung erklärt hätte.

Soweit man dieses Begehren angesichts des Vortrags des Betroffenen zu dem Inhalt des Behandlungsplans vom 18. April 2020, namentlich "80 % der in dem Plan aufgestellten Tatsachenbehauptungen" seien "falsch", in ein Anfechtungsbegehren betreffend diesen Behandlungsplan umdeuten könnte, änderte dies angesichts des pauschalen Charakters des daher unzulässigen Vorbringens nichts an der Unzulässigkeit der Rechtsbeschwerde.

2.

Bezüglich des Antragsbegehrens ad 3. (Verpflichtung des Therapiezentrums zur Durchführung einer Diagnose- und traumatherapeutischen Behandlung durch einen externen Therapeuten in Bezug auf ein "Hunde-Trauma") war die Rechtsbeschwerde gleichfalls bereits als unzulässig zu verwerfen. Insoweit ist kein Zulassungsgrund gegeben. Es ist nicht geboten, die Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§§ 116 Abs. 1, 119 Abs. 3 StVollzG).

IV.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung bezüglich des Rechtsbeschwerdeverfahrens und des Verfahrens erster Instanz folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG i.V.m. § 473 Abs. 4 StPO.

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