LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02.03.2021 - 8 Sa 184/20
Fundstelle
openJur 2021, 22528
  • Rkr:
Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern vom 25. Mai 2020 - 8 Ca 172/20 - abgeändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 139,44 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22. Januar 2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

3. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte; die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz trägt der Kläger.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren zuletzt noch um Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, hierbei aber vorrangig über den Zugang einer zuvor ausgesprochenen Kündigung.

Der Kläger war bei der Beklagten auf der Grundlage des Arbeitsvertrags vom 6. November 2019 (Bl. 6 ff. d.A) seit dem 7. November 2019 als Park- und Produktionshelfer beschäftigt. Im Arbeitsvertrag der Parteien ist unter § 4 zur Vergütung geregelt: "Die Fälligkeit richtet sich nach § 11 Manteltarifvertrag iGZ." Die genannte Tarifnorm bestimmt als Fälligkeitszeitpunkt für die Vergütung den fünfzehnten Bankarbeitstag des Folgemonats. In § 1 Abs. 2 des Arbeitsvertrags war wegen der Rechte und Pflichten der Arbeit Vertragsparteien auf die Tarifverträge des Arbeitgeberverbands iGZ mit der zuständigen Gewerkschaft in der jeweils gültigen Fassung verwiesen.

Ob die Beklagte gegenüber dem Kläger mit Schreiben vom 25. November 2019 (Bl. 19 d.A) die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses erklärt habe, ist zwischen den Parteien streitig. Die von der Beklagten vorgelegte Kopie dieses Schreibens weist über der Unterschriftszeile "C." eine unleserliche Unterschrift auf und es lässt im Briefkopf einen Barcode und die Sendungsnummer "YYYYYYYYYYYYYYYYY" erkennen.

Vom 28. November 2019 bis zum 9. Dezember 2019 war Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Mit Schreiben vom 4. Dezember 2019 sprach er gegenüber der Beklagten die Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 9. Dezember 2019 aus.

Der Kläger hat vorgetragen:

Ein Kündigungsschreiben der Beklagten vom 28. November 2019 habe er nie erhalten. Sein Arbeitsverhältnis habe deshalb bis zum 9. Dezember 2019 fortbestanden. Mit der vorliegenden Klage fordere er Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach Ablauf der Wartezeit im Sinne des § 3 Abs. 3 EFZG, mithin für den 6. Dezember bis zum 9. Dezember 2019 in Höhe von - rechnerisch unstreitig - (2 Tage x 7 Stunden/Tag x 9,96 Euro/Tag=) 139,44 Euro brutto.

Das Kündigungsschreiben vom 25. November 2019 sei nicht von der Geschäftsführung unterzeichnet worden (Bl. 40 d.A).

Es sei auch nicht am 25. November 2019 erstellt worden und ebensowenig zur Versendung an den Kläger kuvertiert worden (Bl. 40 d.A).

Der Auslieferungsbeleg eines Einwurfeinschreibens begründe keinen Beweis des ersten Anscheins, denn eine Fehlleitung der Postsendung auch noch beim Vorgang des einsortieren in die Zustellfächer oder bei der Entnahme bzw. dem zu trag selbst könne nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Insoweit fehlten gesicherte Erkenntnisse darüber, wie häufig erst noch beim Vorgang des einsortieren in die Postfächer zu Fehlern komme. Zudem seien Reklamationen bei der Deutschen Post über fehlgeleitete Sendungen jeder Art insbesondere in A-Stadt allgemein bekannt. Dies gelte gerade bei großen Mehrfamilienhäusern, wie dem 10-Parteien-Haus des Klägers (Bl. 42 d.A).

Das vermeintliche Kündigungsschreiben der Beklagten sei insbesondere auch nicht am 27. November 2019 zugestellt worden. Vielmehr habe er dieses Schreiben nicht erhalten, was seine Ehefrau als gegenbeweisliche Zeugin bestätigen könne (Bl. 41 d.A).

Die von der Beklagten zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 27. September 2016 sei nicht einschlägig, weil sie zu einer Spezialnorm - § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG - ergangen und deshalb nicht verallgemeinerungsfähig sei.

Der Kläger hat - soweit für das Berufungsverfahren von Bedeutung - zuletzt beantragt (Bl. 43, 61 d.A):

1. "Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für den Beschäftigungsmonat Dezember 2019 Arbeitslohn für die Beschäftigungszeit vom 06.12.2019 bis 09.12.2019 i.H.v. 139,44 Euro brutto nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.12.2019 zu zahlen."2. [...]

Die Beklagte hat beantragt:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beklagte hat vorgetragen:

Sie habe das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 25. November 2019 (Bl. 19 d.A) fristgerecht in der Probezeit mit einer tarifvertraglichen Frist von zwei Werktagen zum 28. November 2019 gekündigt. Ausweislich der elektronischen Zustellbescheinigung der Post (Bl. 20 d.A) wie auch des vom Postmitarbeiter unterzeichneten Auslieferungsbelegs vom 27. November 2019 (Bl. 33 d.A) sei die Sendung mit der Sendungsnummer YYYYYYYYYYYYYYYYY am 27. November 2019 zugestellt worden. Unter Berücksichtigung der tariflichen Kündigungsfrist habe das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 29. November 2019 geendet.

Das Kündigungsschreiben sei dem Kläger mit Einwurfeinschreiben der Post zugestellt worden. Der Bundesgerichtshof habe in seiner Entscheidung vom 27. September 2016 (- II ZR 299/15 -) für diese Form der Zustellung einen Anscheinsbeweis für den Zugang beim Adressaten angenommen. Den Beweis des ersten Anscheins habe der Kläger hier nicht widerlegt.

Dabei sei die Beklagte so vorgegangen, dass die zuständige Mitarbeiterin, Frau M. G., das Kündigungsschreiben nehme und dieses kopiere. Das Original der Kündigung werde dann von ihr in einem Briefumschlag gelegt und der Umschlag mit der Einschreibemarke [großer Aufkleber mit Sendungsnummer] versehen. Im nächsten Arbeitsschritt werde dann die Einlieferungsnummer [kleiner Aufkleber mit Sendungsnummer] ebenfalls abgezogen und auf die gefertigte Kopie [des Kündigungsschreibens] geklebt. Dann werde der Brief - wie hier geschehen - [in den Briefkasten der Post] eingeworfen oder bei der Filiale abgegeben (Bl. 31 d.A).

In beiden Fällen erfolge keine separate Bestätigung der Einlieferung. Die Einlieferung werde vielmehr elektronisch von der Deutschen Post erfasst. Der dort erstellte Dokumentation belege den Sendungsverlauf von der Einlieferung "des Schriftstücks" bis zu seiner Auslieferung (Bl. 59 d.A).

Vorliegend sei die Zeugin G. wie oben beschrieben vorgegangen, habe das als Anlage B1 vorgelegte Kündigungsschreiben vom 25. November 2019 (Bl. 19 d.A) "mit dem Label der Sendungsnummer versehen und kopiert". Danach sei das Original von ihr einkuvertiert worden in einen Briefumschlag mit Sichtfenster, so dass Name und Adresse des Klägers ersichtlich gewesen seien. Diesen Umschlag habe Frau G. mit dem Einlieferungslabel versehen und in den nächstgelegenen Briefkasten eingelegt (Bl. 59 d.A).

Mit Urteil vom 25. Mai 2020 - 8 Ca 172/20 - hat das Arbeitsgericht Kaiserslautern die Klage abgewiesen.

Es hat Beweis erhoben über die Behauptung der Beklagten, die Zeugin G. habe das Kündigungsschreiben vom 25. November 2019 kopiert, dass Original in einem Briefumschlag gelegt, den Umschlag mit der Einschreibemarke YYYYYYYYYYYYYYY versehen, die Kopie [des Kündigungsschreibens] mit derselben Einlieferungsnummer versehen und den Briefumschlag in einen Briefkasten eingeworfen.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25 Mai 2020 (Bl. 60-66 d.A) verwiesen. Dort heißt es, soweit hier von Bedeutung:

"Zur Sache selbst sagt die Zeugin sodann wie folgt aus:

An das genaue Datum erinnere ich mich nicht mehr. [...] Ich habe [den Kläger] auch auf die Möglichkeit einer Kündigung hingewiesen und auf die Möglichkeit anderer Einsatzbereiche. Diese Kündigung war auch bereits vorbereitet, die hätte ich ihm dann auch mitgegeben, er hat sich jedoch geweigert, dies gegenzuzeichnen. Daher habe ich ihm die Kündigung nicht mitgegeben, sondern ihn darauf hingewiesen, dass er diese dann per Post erhalten wird. Diese Kündigung hatte ich morgens bereits fertiggemacht, das heißt also, ich hatte sie schon ausgedruckt. Ich habe diese Kündigung dann auch unterschrieben schon und mit einer Vollmacht von mir versehen auch bereits kopiert.

[...]

Auf konkrete Nachfrage des Gerichts, was genau die Zeugin mit den Sendungsnummern gemacht hat, führt sie aus:

Wir haben einen Block von der Post für insgesamt 10 Einwurf-Einschreiben. Der enthält für jedes Einwurf-Einschreiben drei Aufkleber. Einen davon klebe ich auf den Brief und versehe ihn mit den erforderlichen Angaben. Ein zweiter verbleibt bei mir. Auf dem vermerke ich das Datum, den Empfänger und andere Angaben und das Dritte ist ein Aufkleber, den ich auf die Kopie der Kündigung klebe, auch mit der Sendungsnummer.

Auf Nachfrage des Gerichts, was danach noch geschehen ist:

Ich habe dann den Brief noch in die Post gegeben, d. h. bei uns, wir haben ein Körbchen, in dem die Post des Tages gesammelt wird. Am Ende des Tages bringen dann entweder ich oder eine Kollegin diese Post dann zur Post.

Auf Nachfrage des Gerichts wer es weggebracht hat:

Ich weiß nicht mehr, ob ich diese Post weggebracht habe oder die Kollegin."

In der abschließenden Erörterung zur Beweisaufnahme erklärte der Beklagtenvertreter schließlich in der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht (d.A 65 d.A):

"[...] für den Fall, dass in dem von der Zeugin geschilderten Vorgehen im Gespräch bereits ein Zugang der Kündigung bzw. eine Zugangsvereitelung liegen sollte, sich die Beklagtenseite hierauf nicht beruft und hieraus keine Rechte herleitet."

Zur Begründung seiner klageabweisenden Entscheidung hat das Arbeitsgericht - zusammengefasst - ausgeführt:

Entgeltfortzahlung für den streitgegenständlichen Zeitraum könne der Kläger nicht mehr beanspruchen, weil die Beklagte ihm zuvor mit Schreiben vom 25. November 2019 die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses unter Beachtung der tarifvertraglichen Kündigungsfrist spätestens zum 2. Dezember 2019 erklärt habe. Die Beklagte sei vorliegend ihrer Beweislast gerecht geworden. Durch Vorlage des Auslieferungsbelegs in Verbindung mit dem Nachweis, dass es sich bei der im Auslieferungsbeleg genannten Sendung um die an den Kläger versandte Kündigung handele, habe die Beklagte den Beweis des ersten Anscheins für die Kündigung vom 25. November 2019 erbracht.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf die Entscheidungsgründe seines Urteils Bezug genommen (Bl. 69 ff. d.A).

Gegen das ihm am 8. Juni 2020 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat der Kläger mit Schriftsatz vom 9. Juli 2020, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz eingegangen am selben Tag, Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 7. August 2020, der am selben Tag beim Landesarbeitsgericht einging, beantragte der Kläger die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 7. September 2020, was antragsgemäß erfolgte. Mit Schriftsatz vom 7. September 2020, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz eingegangen am selben Tag, hat der Kläger die Berufung begründet.

Hierzu trägt er im wesentlichen vor:

Das Urteil des Arbeitsgerichts werde betreffend den Klageantrag zu 1) mit der Berufung weiterverfolgt. Zu Unrecht habe das Arbeitsgericht diesen Klageantrag abgewiesen.

Das Arbeitsgericht habe verkannt, dass der Auslieferungsbeleg der Post für ein Einwurfeinschreiben keinen Beweis des ersten Anscheins für den Zugang dieses Schreibens begründen könne. Eine Fehlleitung der Postsendung könne auch noch beim Vorgang des Einsortierens in die Zustellfächer oder bei der Entnahme bzw. dem Zutrag selbst nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Insoweit fehlten gesicherte Erkenntnisse darüber, wie häufig es beim Vorgang des Einsortierens in die Postfächer zu Fehlern komme (Bl. 117 d.A unter Hinweis auf ArbG Düsseldorf 6. April 2017 - 10 Ca 7262/16 -).

Zu einem solchen Fehler müsse es auch vorliegend gekommen sein, denn den Kläger habe ein Kündigungsschreiben der Beklagten vom 25. November 2019 nicht erreicht. Da er in einem Mehrfamilienhaus mit 10 Parteien wohne, könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Auslieferungsbeleg der Post ordnungsgemäß reproduziert worden sei, die Sendung jedoch gleichwohl in einen anderen Briefkasten eingeworfen worden sei. Das Risiko der beklagtenseits gewählten Zustellart könne nicht auf den Kläger abgewälzt werden. Die Beklagte habe unproblematisch durch Bote zustellen können.

Der Kläger beantragt:

"Das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern vom 25.05.2020 wird teilweise aufgehoben und die Beklagte/Berufungsbeklagte verurteilt an den Kläger für den Beschäftigungsmonat Dezember 2019 Arbeitslohn für die Beschäftigungszeit vom 06.12.2019-09.12.2019 i.H.v. 139,44 Euro brutto nebst Zinsen i.H.v. 5 % Basiszinssatz seit dem 10.02.2019 zu zahlen."

Die Beklagte beantragt:

Die Berufung wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Zur Verteidigung gegen die Berufung des Klägers wiederholt und vertieft die Beklagte ihr erstinstanzliches Vorbringen und verteidigt im übrigen die Entscheidung des Arbeitsgerichts.

Der BGH (27. September 2016 - II ZR 299/15 -) habe zutreffend darauf erkannt, dass bei einem Einwurf-Einschreiben aus der Vorlage des Einlieferungsbelegs zusammen mit der Reproduktion des Auslieferungsbelegs der Beweis des ersten Anscheins dafür spreche, dass die Sendung durch Einlegen in den Briefkasten bzw. das Postfach des Adressaten zugegangen sei. Damit sei die bislang streitige Frage der Wirkung eines Einwurf-Einschreibens höchstrichterlich geklärt.

Soweit der Kläger vortrage, aus dem Auslieferungsbeleg ergebe sich nur, dass "eine Erklärung" per Einwurfeinschreiben abgegeben worden sei, werde auf die Beweisaufnahme des Arbeitsgerichts verwiesen, wonach in dem Schreiben mit der Sendungsnummer YYYYYYYYYYYYYYYY das Kündigungsschreiben enthalten gewesen sei. Anhaltspunkte dafür, dass die Zeugin G. die Unwahrheit gesagt habe, würden seitens des Berufungsklägers nicht behauptet. Mit Nichtwissen bleibe bestritten, dass er in einem Haus mit 10 Wohneinheiten wohne.

Wegen des Sach- und Streitstands im übrigen wird auf den gesamten Akteninhalt, insbesondere auf die Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle verwiesen.

Gründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig und überwiegend begründet.

A. Die Berufung des Klägers ist gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b ArbGG statthaft. Sie ist gemäß §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519 Abs. 1 und 2, 520 Abs. 1 und 3 ZPO iVm. § 11 Abs. 4 Satz 2 ArbGG in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und - nach rechtzeitig beantragter und bewilligter Fristverlängerung - ebenso begründet worden.

B. Die Berufung ist auch - bis auf einen geringen Teil der Nebenforderung - begründet. Zu Recht fordert der Kläger Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den 6. und den 9. Dezember 2019 in rechnerisch unstreitiger Höhe von insgesamt 139,44 Euro brutto aus § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG.

I. Das Arbeitsverhältnis der Parteien wurde nicht schon vorher durch Kündigung der Beklagten vom 25. November 2019 mit Ablauf des 2. Dezember 2019 aufgelöst, weil der Beklagten der Zugangsnachweis iRd. § 130 Abs. 1 BGB nicht gelungen ist. Mit dem Ergebnis der Beweisaufnahme konnte das Arbeitsgericht nicht zu der Feststellung gelangen, dass das streitgegenständliche Kündigungsschreiben vom 25. November 2019 zur Post aufgegeben worden und dem Kläger infolgedessen auch zugegangen sei.

1. Das Kündigungsschreiben vom 25. November 2019 kann der Beklagten zugerechnet werden. Der Kläger hatte hierzu zwar behauptet, dass das Kündigungsschreiben nicht von der Geschäftsführung unterzeichnet worden sei. Er hat damit die Vollmacht des Erklärenden bestritten. Dem ist die Beklagte bis zum Kammertermin vor dem Arbeitsgericht nicht mit Sachvortrag entgegengetreten, weshalb im Ausgangspunkt der Vortrag des Klägers gemäß § 138 Abs. 3 ZPO der Entscheidung zugrunde zu legen war.

Allerdings ist nach der ständigen Rechtsprechung des BGH iRd. § 286 Abs. 1 ZPO als einem allgemeinen Grundsatz davon auszugehen, dass sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zu Tage tretenden Umstände jedenfalls hilfsweise zu eigen macht, soweit sie ihre Rechtsposition zu stützen geeignet sind. Das Gericht hat auch diesen "Vortrag" der Partei bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. (vgl. Daßbach, JA 2019, 772, 778 Fußnote 46 unter Hinweis auf BGH 26. Juli 2005 - X ZR 109/03 - zu I 3 j der Gründe; BGH 3. April 2001 - VI ZR 203/00 - zu II 1 a der Gründe [ausdrücklich zu eigen machen]; BGH 8. Januar 1991 - VI ZR 102/90 - zu II 3 b der Gründe [konkludent zu eigen machen]).

Das war im vorliegenden Fall deshalb zweifelhaft, weil die Beklagte nach der Beweisaufnahme im Kammertermin vor dem Arbeitsgericht ausdrücklich erklärt hat, dass sie sich den Sachvortrag der Zeugin G. nicht zu eigen mache, wenn ihm eine Zugangsvereitelung oder gar ein Zugang des Kündigungsschreibens vom 25. November 2019 in den Geschäftsräumen der Beklagten zu entnehmen sei. Man wird aber wohl im Umkehrschluss davon ausgehen dürfen, dass sich die Beklagte den übrigen Teil der Zeugenaussage doch zumindest stillschweigend zu eigen machen wollte, soweit er ihrem (eigentlichen) Prozessziel, das Gericht zu einer Festlegung über den Beweiswert der Zustellung durch Einwurf-Einschreiben zu veranlassen, dienlich ist.

Deshalb hielt die Berufungskammer letztlich doch dafür, dass die Aussage der Zeugin G. den stillschweigenden Sachvortrag der Beklagten enthielt, dass diese mit Vollmacht der Beklagten das Kündigungsschreiben vom 25. November 2019 unterzeichnet hatte. Hiervon ging wohl auch das Arbeitsgericht aus, weshalb insoweit von einer bindenden Feststellung des Arbeitsgerichts gesprochen werden darf.

2. Ob das Kündigungsschreiben vom 25. November 2019 auch das Formerfordernis des § 623 BGB wahrt und ob es sich bei dem Schriftzug auf der Unterschriftenzeile der Kündigung über der Bezeichnung "C." - einem großen mehrfach geschwungenen Bogen, der jedenfalls den Namen der Unterzeichnerin M. G. in keiner Weise erkennen lässt - überhaupt um eine Unterschrift im Sinne des § 126 Abs. 1 BGB handelt oder ob lediglich eine unzureichende Paraphe vorliegt (vgl. dazu BAG 6. September 2012 - 2 AZR 858/11 - Rn. 17 f.), konnte hier letztlich offenbleiben, weil ein Zugang ebendieses Schreibens beim Kläger gemäß § 130 Abs. 1 BGB auch nach der Beweisaufnahme nicht angenommen werden konnte. Insoweit hatte das Arbeitsgericht keine das Berufungsgericht bindende Feststellung getroffen.

a) Gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG iVm. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszugs festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellung begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten.

Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts ist zwar hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung nicht lediglich auf Verfahrensfehler beschränkt. Eine erneute Tatsachenfeststellung durch das Berufungsgericht ist aber nach der Formulierung des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nur als Ausnahme ("soweit nicht") vorgesehen. Das Berufungsgericht ist damit im Grundsatz an die erstinstanzliche Tatsachenfeststellung gebunden, soweit sie bereits "vollständig und überzeugend" getroffen wurde. Die Anforderungen an die Voraussetzungen einer erneuten Tatsachenfeststellung durch das Berufungsgericht dürfen im Interesse einer zutreffenden Tatsachenfeststellung und einer materiell gerechten Entscheidung nicht überspannt werden (vgl. BT-Drucks. 14/6036, S. 118, 124); "vernünftige" Zweifel sollen genügen, um das Berufungsgericht zu neuen Tatsachenfeststellungen zu verpflichten (vgl. BT-Drucks. 14/6036, S. 124). Für die Bindung des Berufungsgerichts an die Tatsachenfeststellung des erstinstanzlichen Gerichts genügt es somit nicht, dass die erstinstanzliche Tatsachenfeststellung keine Verfahrensfehler aufweist; auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen sind für das Berufungsgericht dann nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung des Berufungsgerichts an die erstinstanzlich getroffenen Feststellungen entfallen lässt, können sich weiter aus Verfahrensfehlern ergeben, etwa wenn die Beweiswürdigung nicht den Anforderungen genügt, weil sie unvollständig oder in sich widersprüchlich ist oder gegen Denk- oder Erfahrungssätze verstößt (BGH 12. März 2004 - V ZR 257/03 - zu II 2 a aa der Gründe). Auch Verfahrensfehler dadurch, dass Tatsachenvortrag der Parteien übergangen wird oder nicht vorgetragene Tatsachen verwertet wurden, können Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen (LAG Rheinland-Pfalz 11. Mai 2012 - 9 Sa 676/11 - zu II 2 b der Gründe mwN, BeckRS 2012, 71887; Ball in: Musielak/Voit 17. Aufl. ZPO § 529 Rn. 4 ff.).

b) In Anwendung dieser Grundsätze ergaben sich für die Berufungskammer durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen des Arbeitsgerichts nach dessen Beweisaufnahme insbesondere deshalb, weil das Arbeitsgericht von einer Einlieferung des Kündigungsschreibens vom 25. November 2019 bei der Post ausgegangen war, obwohl die Zeugin dieses ausdrücklich nicht bestätigt, sondern sich insofern auf eine Erinnerungslücke berufen hatte.

aa) Die Aussage der Zeugin G. bezüglich der Aufgabe des im Postausgangskörbchen der Beklagten abgelegten Kündigungsschreibens vom 25. November 2019 zur Post lautete: "Ich weiß nicht mehr, ob ich diese Post weggebracht habe oder die Kollegin."

Wenn die Zeugin aber nicht mehr weiß, wer die Post weggebracht hat, kann ihrer Aussage auch nicht die unmittelbare Wahrnehmung einer Aufgabe zur Post entnommen werden. Die Zeugin hat lediglich bestätigt, dass das Kündigungsschreiben von ihr in das Postausgangskörbchen der Beklagten eingelegt wurde. Wie, durch wen und in welchem Zustand es von dort zum Postbriefkasten eingeliefert wurde, blieb nach der Beweisaufnahme völlig im Dunkeln. Und nachdem die Zeugin G. die einzige Person war, die den Inhalt des Kuverts im Postausgangskörbchen (Kündigungsschreiben vom 25. November 2019) zur Kenntnis genommen hatte, wäre auch eine Beweisaufnahme durch Vernehmung der Kollegin der Zeugin über die Einlieferung eines Kuverts bei der Post unergiebig gewesen, weil diese keine Aussage zum Inhalt des Kuverts hätte machen können.

Da die Zeugin G. diesen Einlieferungsvorgang nicht aus eigener Erinnerung schildern konnte, kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der im Postausgangskörbchen befindliche Briefumschlag von einem anderen Mitarbeiter der Beklagten oder der "Chefin" der Zeugin nochmals inhaltlich oder in sonstiger Weise verändert wurde. Es besteht auch kein allgemeiner Erfahrungssatz dahingehend, dass Briefe in einem Postausgangskörbchen stets von irgendeinem Mitarbeiter des Arbeitgebers bei der Post eingeliefert werden. Ohne weiteres ist hier denkbar, dass den Absender das Schreiben doch noch reut oder er es inhaltlich überarbeiten will und deshalb aus dem Postausgangskörbchen zurückholt und nicht mit dem bisherigen Inhalt - ggf. auch mit einem geänderten Adressfeld - bei der Post zur Versendung einliefert.

bb) Aber selbst wenn man die Frage der Einlieferung des Kündigungsschreibens bei der Post ebenfalls ungeklärt ließe, könnte die Beklagte hieraus keine Beweiserleichterungen mehr ableiten. Die von ihr zitierte BGH-Rechtsprechung nimmt einen Anscheinsbeweis deshalb an, weil in aller Regel davon auszugehen ist, dass ein Postbote eine Briefsendung an den auf dem Brief vermerkten Adressaten zustellt. Dieser Annahme steht nicht entgegen, dass es in seltenen Einzelfällen gleichwohl zu Zustellfehlern kommt. Nach allgemeiner Lebenserfahrung sind diese Zustellfehler derart selten, dass die korrekte Zustellung als Regelfall angenommen werden kann. Über die gleichwohl vorkommenden Zustellfehler hinaus will die Beklagte nun aber eine weitere, weitaus größere Unsicherheit in den Zustellprozess einbauen und gleichwohl eine Gewissheit der ordnungsgemäßen Zustellung annehmen. Dem konnte sich die Kammer nicht anschließen, denn zwei Unsicherheitsfaktoren im Zustellprozess stehen der Annahme eines Anscheinsbeweises entgegen. Zu groß ist dann die Wahrscheinlichkeit einer fehlerhaften oder tatsächlich nicht erfolgten Zustellung, denn für die unveränderte Auslieferung eines Schreibens aus einem Postausgangskörbchen des Arbeitgebers zur Einlieferung in einem Postbriefkasten lässt sich ein Erfahrungssatz nicht erkennen.

cc) Damit ist der Beklagten, die hier nicht den bloßen Einwurf des Kündigungsschreibens in die Empfangsvorrichtung des Klägers durch einen Boten zu beweisen hatte, sondern ebenso den sehr aufwendigen gestreckten Versendungsprozess eines Einwurf-Einschreibens, eine lückenlose Beweisführung nicht gelungen.

dd) Das Arbeitsgericht hat die Aussage der Zeugin gleichwohl - stillschweigend - dahingehend gewürdigt, dass das Kündigungsschreiben vom 25. November 2019 in der als Anlage B1 vorgelegten Form zur Versendung durch die Post - von wem auch immer - eingeliefert worden sei. An diese Feststellung sieht sich die Berufungskammer aber nicht gebunden, weil sich weder der protokollierten Zeugenaussage noch den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils entnehmen lässt, vor welchem Hintergrund das Arbeitsgericht mit hinreichender Sicherheit davon ausging, dass - wer auch immer - den Briefumschlag mit der Sendungsnummer YYYYYYYYYYYYYYY - in welchem Zustand und mit welchem Inhalt auch immer - bei der Post eingeliefert habe.

ee) Von einer grds. gebotenen Wiederholung der erstinstanzlichen Beweisaufnahme hat die Berufungskammer in Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens iSd. § 398 Abs. 1 ZPO (vgl. Ball in: Musielak/Voit 17. Aufl. ZPO § 529 Rn. 13) letztlich abgesehen, weil die Beweisaufnahme vor dem Arbeitsgericht bereits vollständig erfolgte und lediglich die vom Arbeitsgericht hieraus abgeleiteten Schlussfolgerungen nach Auffassung der Kammer nicht völlig frei von Denkfehlern waren.

3. Damit musste die streitige Rechtsfrage zum Beweiswert eines Einwurf-Einschreibens unter Verwendung der Aufkleber mit Sendungsnummer (einerseits BGH 27. September 2016 - II ZR 299/15 -, andererseits ArbG Düsseldorf 6. April 2017 - 10 Ca 7262/16 -) im vorliegenden Fall offenbleiben, weshalb auch die Revision nicht zuzulassen war.

II. Der Ausspruch zu den geltend gemachten Verzugszinsen folgt aus § 286 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB iVm. § 288 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 BGB. Die Verzinsungspflicht beginnt entsprechend § 187 Abs. 1 BGB erst mit Beginn des Tages, der dem Tag folgte, an dem das maßgebliche Ereignis (hier: Fälligkeit nach dem Kalender) eintrat (BAG 17. Oktober 2012 - 5 AZR 697/11 - Rn. 21). Nach dem Arbeitsvertrag iVm. dem MTV iGZ wurde das monatlich zu zahlende Entgelt jeweils am fünfzehnten Bankarbeitstag (Montag bis Freitag) des Folgemonats fällig, § 614 BGB, weshalb Verzugszinsen für die Vergütung aus Dezember 2019 erst ab dem 22. Januar 2020 zugesprochen werden konnten und der weitergehende Klageantrag abzuweisen war.

C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Im Berufungsverfahren unterlag die Beklagte bis auf einen geringen Teil der Nebenforderung. Erstinstanzlich hatte der Kläger den weit überwiegenden Teil seiner Klage zurückgenommen und insoweit die Kosten gemäß § 269 Abs. 3 ZPO zu tragen. Der Kläger obsiegte nach dem Ergebnis des Berufungsverfahrens erstinstanzlich allein mit 139,44 Euro aus einem Gesamtstreitwert von 2.338,22 Euro (Nennbetrag der Zahlungsanträge, Zeugnis mit 1 Bruttomonatsvergütung = 1.510,63 Euro, zwei Lohnabrechnungen zu je 100,- Euro), was zu einer gemäß § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO vernachlässigbaren Kostenquote von weniger als 10 % führte.

D. Da die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG nicht vorliegen, war die Revision nicht zuzulassen.