Hamburgisches OVG, Beschluss vom 30.06.2021 - 6 So 19/21
Fundstelle
openJur 2021, 22297
  • Rkr:

Die Entscheidung über die Aufhebung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe gem. § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO unterfällt nicht dem Beschwerdeausschluss nach § 146 Abs. 2 VwGO.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 3. Februar 2021 geändert. Der Beschluss der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle vom 25. August 2020 wird aufgehoben.

Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Dem Kläger war mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22. Dezember 2017 für die erste Instanz Prozesskostenhilfe ohne Zahlungsverpflichtung unter Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt ... bewilligt worden. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe wurde durch Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 25. August 2020 aufgehoben, nachdem der Kläger im PKH-Überprüfungsverfahren trotz mehrmaliger Aufforderung eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht abgegeben hatte. Gegen diesen Beschluss richtete sich die Erinnerung des Klägers vom 10. September 2020, die das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. Februar 2021 zurückgewiesen hat. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung ausgeführt, dass im Rahmen des Prozesskostenhilfeüberprüfungsverfahrens gemäß § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. i.V.m. § 120a Abs. 1 Satz 3 ZPO der Kläger nicht gemäß § 120a Abs. 4 Satz 1 ZPO das gemäß § 117 Abs. 3 ZPO eingeführte Formular verwendet habe. Die Vorlage von Gehaltsabrechnungen im Erinnerungsschriftsatz vom 10. September 2020 ersetze nicht die Abgabe einer Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unter Verwendung des Formularvordrucks i.S.d. § 117 Abs. 3 ZPO. Gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 3. Februar 2021, der dem Klägervertreter am 9. Februar zugegangen ist, hat der Kläger mit Schriftsatz vom 11. Februar 2021, eingegangen am 16. Februar 2021, Beschwerde erhoben und zur Begründung eine aktuelle Erklärung des Klägers über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt (PKH-Heft, Bl. 69 ff.).

II.

1. Die Beschwerde ist zulässig; sie ist insbesondere nicht nach § 146 Abs. 2 VwGO ausgeschlossen. Nach § 146 Abs. 2 VwGO können Beschlüsse über die Ablehnung von Prozesskostenhilfe nicht mit der Beschwerde angefochten werden, wenn das Gericht ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe verneint. Gegenstand der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist die nachträgliche Aufhebung von ursprünglich bewilligter Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO. Auf diese Fallgestaltung ist der Beschwerdeausschluss des § 146 Abs. 2 VwGO nicht anwendbar.

Hierfür spricht der Wortlaut der Norm, denn die nachträgliche Aufhebung ist keine „Ablehnung von Prozesskostenhilfe“. In der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist es daher inzwischen ganz herrschende Meinung, dass eine Anwendung des Beschwerdeausschlusses in den Fällen des § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO abzulehnen ist (vgl. OVG Bautzen, Beschl. v. 15.2.2016, 3 E 98/15, juris Rn. 3 ff.; OVG Berlin, Beschl v. 23.06.2016, OVG 12 M 38.16, juris Rn. 1 ff.; OVG Berlin, Beschl. v. 13.2.2018, OVG 11 M 27.17, juris Rn. 3; VGH Mannheim, Beschl. v. 6.3.2018, 11 S 212/18, juris Rn. 7 ff.; OVG Berlin, Beschl. v. 17.8.2018, OVG 3 M 146.17, juris Rn. 4 ff.; OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.1.2019, 8 PA 90/18, juris Rn. 5 ff. zur nachträglichen Anordnung von Ratenzahlungen gem. § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 120a Abs. 1 ZPO). Eine abweichende Auffassung wird – soweit ersichtlich – allein vom 5. Senat des OVG Berlin-Brandenburg für die hier nicht vorliegende Fallgestaltung einer nachträglichen Anordnung von Ratenzahlungen durch das Verwaltungsgericht angenommen (OVG Berlin, Beschl. v. 19.12.2017, OVG 5 M 51.17, juris Rn. 9). Die Kommentarliteratur folgt der herrschenden Rechtsprechung (Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Mai 2018, § 146 Rn. 11; Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 146 Rn. 28a; Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 146 Rn. 11; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 146 Rn. 10; Kuhlmann, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 146 Rn. 13; Riese, in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2020, § 166 Rn. 138).

Nichts Gegenteiliges ist dabei der Entstehungsgeschichte des Beschwerdeausschlusses in § 146 Abs. 2 VwGO zur Frage seiner Reichweite in Bezug auf eine nachträgliche Aufhebung der Prozesskostenhilfeentscheidung zu entnehmen. Die amtliche Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des § 146 Abs. 2 VwGO n.F. (in Art. 12 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts vom 31. August 2013 (BGBl. I S. 3533, 3538) ist hinsichtlich dieser Frage nicht eindeutig. Es heißt darin lediglich, dass „... [i]n Anpassung an § 172 Absatz 3 Nummer 2 SGG ... in § 146 Absatz 2 die Beschwerdemöglichkeit im Verfahren der Prozesskostenhilfe eingeschränkt [wird]“, wobei „... [d]ie Ablehnung der Prozesskostenhilfe mit der Beschwerde nur noch angefochten werden [kann], wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache vom Gericht verneint wurden. Hat das Gericht hingegen die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen verneint, ist die Beschwerde gegen diese Entscheidung nicht statthaft" (BT-Drs. 17/11472, S. 48 f.). Dass der Gesetzgeber dabei über den Fall der (erstmaligen) Ablehnung von Prozesskostenhilfe im Bewilligungsverfahren hinausgehende weitere Fallgestaltungen im Blick hatte, namentlich die nachträgliche Entziehung von Prozesskostenhilfe, wird in diesen Ausführungen nicht erkennbar (ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.1.2019, 8 PA 90/18, juris Rn. 7; VGH Mannheim, Beschl. v. 6.3.2018, 11 S 212/18, juris Rn.11; OVG Bautzen, Beschl. v. 15.2.2016, 3 E 98/15, juris Rn. 6).

Aus der vom Gesetzgeber beabsichtigten Anpassung von § 146 Abs. 2 VwGO an § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG folgt ebenfalls nicht, dass er über den Fall der Ablehnung von Prozesskostenhilfe im Bewilligungsverfahren hinausgehend die nachträgliche Entziehung von Prozesskostenhilfe hätte regeln wollen (ebenso OVG Bautzen, Beschl. v. 15.2.2016, 3 E 98/15, juris Rn. 6; VGH Mannheim, Beschl. v. 6.3.2018, 11 S 212/18, juris Rn. 12 ff.; OVG Berlin, Beschl. v. 17.8.2018, OVG 3 M 146.17, juris Rn. 6). Denn in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung ist gerade umstritten, ob der in § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG geregelte Beschwerdeausschluss auf die nachträgliche Aufhebung der Entscheidung über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Anwendung findet (vgl. zum Meinungsstand OVG Berlin, Beschl. v. 17.8.2018, OVG 3 M 146.17, juris Rn. 6).

Hätte der Gesetzgeber die Entscheidungen im Verfahren nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO ebenfalls einer Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht entziehen wollen, hätte er dies im Hinblick auf das Gebot der Rechtsmittelklarheit und die Verpflichtung der Gerichte zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) unmissverständlich zum Ausdruck bringen müssen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.10.2015, 2 BvR 3071/14, juris Rn. 12; im Anschluss daran für die vorliegende Fallgestaltung: OVG Berlin, Beschl. v. 17.8.2018, OVG 3 M 146.17, juris Rn. 5; OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.1.2019, 8 PA 90/18, juris Rn. 11). Eine weite Auslegung von § 146 Abs. 2 VwGO unter Einbeziehung auch der Fälle der nachträglichen Aufhebung der ursprünglich bewilligten Prozesskostenhilfe kommt daher angesichts der Ungewissheit hinsichtlich des gesetzgeberischen Willens nicht in Betracht (so auch VGH Mannheim, Beschl. v. 6.3.2018, 11 S 212/18, juris Rn. 10; OVG Berlin, Beschl. v. 17.8.2018, OVG 3 M 146.17, juris Rn. 5; OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.1.2019, 8 PA 90/18, juris Rn. 5 ff.). Eine analoge Anwendung des § 146 Abs. 2 VwGO scheidet aus, da bereits die Sachverhalte nicht vergleichbar sind. Während die Gewährung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO eine gebundene Entscheidung ist, sind Entscheidungen nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO nicht in gleicher Weise determiniert („soll“). Ihnen liegt darüber hinaus ein abweichendes Prüfungsprogramm zugrunde, denn die in § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO geregelte Folge für die Verletzung einer nachträglichen Obliegenheit ist nicht mit fehlender anfänglicher Glaubhaftmachung gleichzusetzen. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe stellt schließlich eine Leistungsgewährung dar, wohingegen es sich bei der nachträglichen Aufhebung der Prozesskostenhilfegewährung um einen Eingriffsakt handelt (VGH Mannheim, Beschl. v. 6.3.2018, 11 S 212/18, juris Rn. 11; OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.1.2019, 8 PA 90/18, juris Rn. 9).

2. Die Beschwerde ist begründet. Die Voraussetzungen für die auf § 166 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 VwGO i. V. m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO gestützte Aufhebung der bewilligten Prozesskostenhilfe liegen nicht (mehr) vor.

Nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO soll das Gericht die Bewilligung der Prozesskostenhilfe aufheben, wenn die Partei eine Erklärung nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 120a Absatz 1 Satz 3 ZPO nicht oder ungenügend abgegeben hat. Auf Verlangen des Gerichts muss die Partei gemäß § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 120a Abs. 1 Satz 3 ZPO jederzeit erklären, ob eine Veränderung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eingetreten ist. Hierzu hat die Partei nach § 120a Abs. 4 Satz 1 ZPO zwingend das gemäß § 117 Abs. 3 ZPO eingeführte Formular über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Prozess- und Verfahrenskostenhilfe zu verwenden.

Die Erklärung über die aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unter Verwendung des dafür vorgesehenen Formulars hat der Kläger nunmehr im Beschwerdeverfahren nachgereicht (vgl. Bl. 69 ff. des PKH-Hefts). Es liegen danach zumindest zum jetzigen Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe gemäß § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO nicht mehr vor.

Es steht einer Berücksichtigung der im Beschwerdeverfahren eingereichten Formularerklärung und Belege nicht entgegen, dass der Kläger sie ungeachtet einer Fristsetzung (PKH-Heft, Bl. 18) und Erinnerung (PKH-Heft, Bl. 27) durch das Verwaltungsgericht ohne zureichende Entschuldigung verspätet abgegeben hat. Denn eine für die Erklärung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gemäß § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 120a Abs. 1 Satz 3 ZPO gesetzte Frist ist keine Ausschlussfrist und die nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO mit der Nichtabgabe einhergehende Sollfolge der Bewilligungsaufhebung hat keinen Strafcharakter (vgl. Neumann/Schaks, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 175). Wird die geforderte Erklärung im Beschwerdeverfahren nachgereicht und ergibt sich daraus, dass die Bewilligungsvoraussetzungen weiterhin vorliegen, scheidet die Aufhebung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe daher aus (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 13.2.2018, OVG 11 M 27/17, juris, Rn. 6; OVG Bautzen, Beschl. v. 15.2.2016, 3 E 98/15, juris Rn. 9; OVG Berlin, Beschl. v. 23.6.2016, OVG 12 M 38/16, juris Rn. 3 m.w.N.; a.A. in der Zivilgerichtsbarkeit OLG Naumburg, Beschl. v. 14.4.2005, 14 WF 72/05 , juris Rn. 6 f.; vgl. zum Meinungsstand in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung Schultzky/Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 124 Rn. 14). Entscheidend für die Mittellosigkeit ist der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 166 Rn. 14a).

Die eingereichte Erklärung über die aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse rechtfertigen die Änderung der angefochtenen Entscheidung des Gerichts. Danach ist der Kläger nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen weiterhin nicht in der Lage, die Kosten der abgeschlossenen Prozessführung aufzubringen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Eine Kostenentscheidung zu den Gerichtskosten ist nicht veranlasst, da im Falle eines erfolgreichen Beschwerdeverfahrens keine Festgebühr nach § 3 GKG i. V. m. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses der Anlage I zum GKG anfällt. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO).