VG Arnsberg, Urteil vom 05.03.2021 - 13 K 6587/17.A
Fundstelle
openJur 2021, 21134
  • Rkr:
Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 3 und 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Juni 2017 verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits, für den Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen der Kläger zu einem Drittel und die Beklagte zu zwei Dritteln.

Tatbestand

Der am 16. Mai 1994 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Er stellte am 11. November 2015 einen förmlichen Asylantrag und machte am selben Tag gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) bei dem Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates für die Durchführung des Asylverfahrens im Wesentlichen die folgenden Angaben: Er habe sein Heimatland im November 2014 verlassen und sei dann über die Balkanroute mittels PKW, Boot, Zug und zu Fuß am 28. Juli 2015 in das Bundesgebiet eingereist, wobei er sich auf seiner Reise acht Monate in der Türkei aufgehalten habe.

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 11. Februar 2016 gab er im Wesentlichen Folgendes an: Zuletzt habe er in N. , B. B1. (B2. ) gewohnt. Im Irak lebe noch seine ganze Familie. Seine Eltern würden in N. leben. Im Jahr 2012 habe er das Abitur abgelegt und anschließend zwei Jahre das Institut für Elektrotechnik besucht. Er habe mit ansehen müssen, wie der Ehemann seiner Tante ermordet worden sei. Er sei in C. geboren und habe dort auch bis zum Jahr 2006 gelebt. Sein Onkel mütterlicherseits sei getötet worden; er selbst sei entführt worden. Man habe von seinem Vater Lösegeld verlangt, welches dieser jedoch nicht habe aufbringen können. Er sei von den Entführern am rechten Bein und Fuß mit Messerstichen verletzt worden. Vernarbungen seien zu sehen. Sein rechter Daumen sei mit einer brennenden Zigarette verletzt worden. Sein Vater habe sich dann Geld von seinem - des Klägers - Onkel und anderen geliehen, um das Lösegeld zu zahlen. Sie seien dann nach Syrien geflohen. Sein Vater habe einen Antiquitätenhandel betrieben und sei gezwungen gewesen, dieses Geschäft aufzugeben. Sie seien drei Jahre in Syrien geblieben. Dort hätten sie Anerkennungen als Flüchtlinge gehabt, die jeweils für ein Jahr befristet gewesen seien. Im Jahr 2009 sei die wirtschaftliche Situation dann schlecht gewesen und sie seien gezwungen gewesen, wieder nach N. zurückzukehren. Dort hätten sie sich beim Onkel mütterlicherseits aufgehalten. Nachdem sein - des Onkels - Bruder im Jahre 2006 getötet worden sei, sei er nach N. umgezogen. In den Jahren 2012 bis 2014 sei er - der Kläger - Student am Institut für Elektrotechnik gewesen. Er habe die Prüfung allerdings nicht ablegen können, weil der sogenannte Islamische Staat (IS) alle Schulen geschlossen habe. Das habe sich am 10. Juni 2014 ereignet. Von diesem Datum bis zum 20. November 2014 sei er dann in N. geblieben. Die IS-Kämpfer hätten ihn mitnehmen wollen; er sei aufgefordert worden, mit ihnen zu kämpfen. Das habe er allerdings überhaupt nicht gewollt. Er wolle nicht gezwungen werden, andere Menschen zu töten. Eine derartige "Rekrutierung" laufe so ab, dass alles in der jeweiligen Moschee besprochen werde. Man müsse die Hand in die des Scheichs legen und geloben, alles zu tun, was dieser verlange. Man werde zunächst schriftlich aufgefordert, in der Moschee zu erscheinen. Dies habe er - der Kläger - allerdings nicht gemacht. Beim zweiten Mal werde man dann von ihnen abgeholt. Derjenige, der das Versprechen abgegeben habe, dürfe die Truppe dann nicht mehr verlassen, andernfalls werde er als Verräter umgebracht. Der IS rekrutiere gerne junge Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren. Um einer entsprechenden Zwangsrekrutierung zu entgehen, habe er sich bei seinem Onkel mütterlicherseits versteckt. Man habe auch von ihm verlangt, andere Personen auszuspionieren und die Ergebnisse mitzuteilen. Sein Vater und sein Onkel hätten dann alles getan, um das Geld für seine - des Klägers - Flucht zusammenzubekommen. Die IS-Kämpfer seien dann sogar zu ihnen nach Hause gekommen. Er - der Kläger - sei glücklicherweise nicht anwesend gewesen. Daraufhin sei in der Moschee sein Name aufgehangen worden und man hätte kundgetan, dass sie ihn hätten haben wollen. Er sei dann über Sinjar nach Syrien geflüchtet und von dort aus nach Zypern. In der Türkei habe er ca. acht Monate gelebt und dort auch gearbeitet, um Geld zu verdienen. Er habe bei einem Türken als Schneider gearbeitet, der ihm allerdings keine Entlohnung gezahlt habe. Mangels einer Unterkunft habe er in der Firma übernachten müssen. Sein Onkel väterlicherseits habe ihm dann Geld geschickt, damit er - der Kläger - nach Deutschland reisen konnte. Das Geld sei von C. aus angewiesen worden. Seine Familie habe aus finanziellen Gründen nicht fliehen können; sie hätten es allerdings ermöglicht, dass zumindest er - der Kläger - das Land habe verlassen können. Das seien seine Asylgründe. Bei Rückkehr in den Irak befürchte er, dass er von IS-Leuten wieder aufgegriffen werden würde. Er müsste dann mit einer Bestrafung als Verräter rechnen. Im Übrigen könne er jederzeit Opfer der Bürgerkriegszustände werden. Er wolle hier nur in Sicherheit leben und sein Studium abschließen.

Mit Bescheid vom 22. Juni 2017, der dem Kläger am 28. Juni 2017 zugestellt wurde, lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheides) und auf Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 2 des Bescheides) ab. Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Nr. 3 des Bescheides), zudem lägen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vor (Nr. 4 des Bescheides). Ferner forderte das Bundesamt den Kläger zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung auf und drohte ihm für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung in den Irak oder einen anderen Staat, in den er einreisen dürfte oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei, an (Nr. 5 des Bescheides). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6 des Bescheides).

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 4. Juli 2017 Klage erhoben und diese im Wesentlichen wie folgt begründet: Er sei in C. geboren und habe dort auch bis zum Jahr 2006 gelebt. Danach sei er Opfer einer Entführung geworden, deren Hintergründe ihm nicht bekannt seien. Da er aus einer bekannten und wohlhabenden sunnitischen Familie stammte, sei sowohl eine Aktion schiitischer Milizen denkbar, als auch ein krimineller Hintergrund. Die Familie sei dann nach Syrien geflohen, habe dort als Flüchtlinge gelebt und sei im Jahr 2009 in den Irak - nach N. - zurückgekehrt. Im Jahr 2014 habe der IS die Stadt überrannt und die Schulen geschlossen. Deswegen habe er - der Kläger - sein Studium nicht fortsetzen können. Er sei dann unter massiven Rekrutierungsdruck geraten. Zunächst sei er schriftlich aufgefordert worden, in der Moschee zu erscheinen, in der Rekrutierungen stattgefunden hätten. In der Zeit habe man von ihm auch Spionagedienste verlangt. Er sei diesen Aufforderungen nicht gefolgt und habe aus diesem Grund damit rechnen müssen, dass man ihn demnächst zwangsweise rekrutieren werde. Er habe sich deswegen bei seinem Onkel versteckt. Nachdem er sich versteckt habe, sei er zur Fahndung ausgeschrieben worden. Er sei dann über Syrien und Zypern in die Türkei geflohen. Von dort sei er nach Deutschland gereist. Bei Rückkehr in den Irak befürchte er nicht nur, Opfer der allgemeinen Unruhen zu werden, sondern insbesondere vom IS als Verräter bestrafe zu werden.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Juni 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen,

hilfsweise,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Juni 2017 zu verpflichten, ihm subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 2 AufenthG zuzuerkennen,

weiter hilfsweise,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Juni 2017 zu verpflichten festzustellen, dass hinsichtlich seiner Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf den Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Gründe

Die Klage hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Sie ist als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 2. Alternative der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist begründet, soweit dem Kläger in Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes vom 22. Juni 2017 der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt und ihm in Ziffer 5 des Bescheides die Abschiebung in den Irak angedroht wurde. Insoweit verletzt der streitgegenständliche Bescheid den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Im Übrigen ist der Bescheid rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Die Klage ist mit ihrem Hauptantrag unbegründet. Das Bundesamt ist nicht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Er ist kein Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) u. a. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2 Buchst. a). Eine Gruppe ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG insbesondere dann eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs.1 Nr. 1 AsylG, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten zunächst Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG); ferner Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person dafür in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). § 3a Abs. 2 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlungen beispielhaft unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (Nr. 1), sowie gesetzliche, administrative, politische oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2) oder unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3). Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen i.S. von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren auf Grund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.

Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2013, 936.

Unter Berücksichtigung der in Art. 4 RL 2011/95 EU geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Antragstellers ist daran festzuhalten, dass die Anerkennung als Flüchtling grundsätzlich voraussetzt, dass die verfolgungsbegründenden Tatsachen zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen sind. Das Gericht muss sowohl von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Ausländer behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender politischer Verfolgung die volle Überzeugung gewinnen. Allerdings lässt die Rechtsprechung im Hinblick auf die sachtypischen Schwierigkeiten, mit denen der Nachweis im Ausland eingetretener, das persönliche Lebensschicksal des Schutzsuchenden betreffender und zur Begründung des Schutzbegehrens angeführter Umstände regelmäßig verbunden ist, insoweit einen Nachweis minderen Grades im Sinne einer Glaubhaftmachung genügen. Da der Ausländer als "Zeuge in eigener Sache" aber zumeist das einzige Beweismittel ist, kommt es auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person entscheidend an. Deshalb muss er seine Verfolgungsgründe in schlüssiger Form vortragen. Die Schilderung seiner persönlichen Erlebnisse unter Angabe genauer Einzelheiten muss in sich stimmig und geeignet sein, seinen Anspruch lückenlos zu tragen. Hierfür ist erforderlich, dass sein Vorbringen substantiiert und frei von gravierenden Widersprüchen oder Ungereimtheiten ist. Entspricht das Vorbringen diesen Vorgaben nicht, kann es als unglaubhaft beurteilt werden.

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10. Mai 2002 - 1 B 392.01 -, NVwZ 2002, 1381, sowie vom 19. Oktober 2001 - 1 B 24.01 -, Informationsbrief Ausländerrecht (InfAuslR) 2002, 349, jeweils m.w.N.; siehe auch: OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 - 8 A 4063/06.A -, juris, Rn. 33; sowie Beschluss vom 7. Juli 2015 - 13 A 950/15.A -, juris, Rn. 8.

Ausgehend von diesen Vorgaben ist das Bundesamt nicht zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Selbst wenn man den Vortrag des Klägers - der IS habe versucht ihn zu rekrutieren und bei Rückkehr in den Irak werde er verfolgt, weil er sich dem Rekrutierungsdruck nicht hingegeben, sondern das Land verlassen habe - als wahr unterstellt, kann hieraus keine Verpflichtung der Beklagten abgeleitet werden, ihn als Flüchtling im Sinne des § 3 AslyG anzuerkennen. Aus diesem Verfolgungsschicksal ergibt sich - auch bei Wahrunterstellung - kein Verfolgungsgrund im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 AslG. Die versuchte aber im Ergebnis gescheiterte Zwangsrekrutierung und die daran anknüpfende Bedrohung des Klägers erfolgte nicht aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Zwar sind junge Männer, welche der IS vornehmlich versucht hat, zu rekrutieren - nach dem allgemeinen Sprachgebrauch eine "Gruppe". Für Qualifikation als bestimmte soziale Gruppe im Sinne der vorgenannten Vorschrift fehlt es jedoch schon an dem Merkmal der deutlich abgegrenzten Identität. Junge Männer werden von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als andersartig betrachtet.

Die Klage ist jedoch mit ihrem ersten Hilfsantrag begründet. Der Kläger hat einen Anspruch gegenüber der Beklagten auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AslyG i.V.m. § 60 Abs. 2 AufenthG. Danach ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 unter anderem eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG sind §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend anzuwenden. Grundsätzlich kann ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG somit auch von Privaten oder terroristischen Organisationen wie dem IS, drohen, sofern dem Schutzsuchenden in seinem Heimatland kein Schutz durch den Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, oder auch durch internationale Organisationen zur Verfügung steht (§ 3c AsylG).

Prognosemaßstab für die Relevanz des drohenden Schadenseintritts ist die Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Wenn der Antragsteller bereits in seinem Herkunftsland einen ernsthaften Schaden erlitten hat, kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 EU (des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. d. EU L 337 vom 20. Dezember 2011. S. 9, im Folgenden: RL) zugute. Art. 4 Abs. 4 Anerkennungsrichtlinie begründet eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass der von Vorverfolgung betroffene Kläger erneut von einer solchen Verfolgung bedroht ist. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen insoweit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Zur Widerlegung dieser Vermutung ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Maßgeblich ist, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Anerkennungsrichtlinie kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs bestünde.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, sowie Beschluss vom 23. November 2011 - 10 B 32.11 -, beide juris.

Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist dabei unabhängig davon, ob eine Vorverfolgung vorliegt.

Vgl. Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1128/14 -, juris, Rn. 34 m.w.N.

Es müssen also zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass eine entsprechende Verfolgung noch immer beachtlich wahrscheinlich ist. Nur wenn die Faktoren, welche die Furcht des Flüchtlings begründeten, dauerhaft beseitigt sind, die Veränderung der Umstände also erheblich und nicht nur vorübergehend ist, wird die Beweiskraft der Vorverfolgung entkräftet. Würden mit Blick auf ein bestimmtes Herkunftsland statusrechtliche Entscheidungen wegen veränderter Umstände aufgehoben, ist es gerechtfertigt, dem Vorverfolgten im Asylverfahren die Umstände, welche die geänderte Einschätzung der Verfolgungssituation als stichhaltige Gründe leiten, entgegenzuhalten. In diesem Fall bleibt ihm dann die Möglichkeit, unter Hinweis auf besondere, seine Person betreffende Umstände nach Maßgabe des allgemeinen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs erneut eine ihn treffende Verfolgung geltend zu machen.

Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Oktober 2016 - A 10 S 332/12 -, juris, Rn. 41.

Ausgehend hiervon ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger bei Rückkehr in den Irak eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht.

Für den Kläger streitet die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95 EU. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger - der nicht bereit war, für den IS zu arbeiten - von dem IS entführt und misshandelt wurde und damit vor seiner Ausreise aus dem Irak einen ernsthaften Schaden erlitten hat. Das Gericht hält den Vortrag des Klägers für glaubhaft. Er hat sein Verfolgungsschicksal im Rahmen der mündlichen Verhandlung unter größter erkennbarer innerer Anteilnahme geschildert und einen äußert glaubwürdigen Eindruck vermittelt.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind keine stichhaltigen Gründe ersichtlich, die dagegen sprechen, dass eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung des Klägers - welcher in den Augen des IS nach der im Ergebnis erfolglos gebliebenen Zwangsrekrutierung ein Verräter ist - durch den IS - wie sie ihm bereits widerfahren ist - noch immer beachtlich wahrscheinlich ist. Zwar nimmt die Kammer an, dass der IS im Irak inzwischen in der Fläche besiegt wurde. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse muss jedoch davon ausgegangen werden, dass der IS insbesondere auch in N. , der Herkunftsregion des Klägers, noch im Untergrund aktiv ist, sodass die hieraus für den Kläger individuell resultierende Gefahr, dass der IS ihn bei Rückkehr auffinden und für seinen "Verrat" bestrafen wird, auch nicht dauerhaft beseitigt ist.

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 2 AsylG bestehen nicht.

Damit ist die in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheides enthaltene Abschiebungsandrohung ebenfalls aufzuheben. Da der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der des subsidiären Schutzstatus, steht dies dem Erlass einer Abschiebungsandrohung gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a AsylG entgegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 AsylG; die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zugelassen wird. Die Zulassung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Verwaltungsgericht Arnsberg (Jägerstraße 1, 59821 Arnsberg; Postanschrift: Verwaltungsgericht Arnsberg, 59818 Arnsberg) zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.

Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn

1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder

2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung kann in schriftlicher Form oder auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und der Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung (ERVV) eingereicht werden.

Vor dem Oberverwaltungsgericht müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte und Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, sowie die ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz - RDGEG).

Mattner

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