SG Köln, Urteil vom 14.08.2020 - S 33 R 374/20
Fundstelle
openJur 2021, 20941
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • nachfolgend: Az. L
Tenor

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 1629,65 € zu zahlen.

Die Kosten werden der Beklagten auferlegt.

Die Berufung wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 1629,65 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erstattung der Kosten für die erweiterte ambulante Physiotherapie (EAP) des Versicherten JB i.H.v. 1629,65 €.

Der Versicherte erlitt am 11.05.2016 einen Unfall. Er trat während der Ardbeitz von einem Podest herunter. Da er nicht trittsicher auftrat, hielt er sich an einer Stange fest. Hierbei verdrehte er sich die rechte Schulter. Die klagende Berufsgenossenschaft übernahm unter anderem die Kosten für die EAP vom 08.11.2016 bis zum 06.12.2016 in Höhe von insgesamt 1629,65 €.

Auf Basis eines Sachverständigengutachtens der Unfallchirurgin Dr. I1, und des Unfall- und Gefäßchirurgen Herrn Dr. I2 vom 12.05.2017 hat die Klägerin mit Bescheid vom 30.05.2017 gegenüber dem Versicherten festgestellt, dass die Kosten der Heilbehandlung in Zukunft nicht mehr übernommen würden und ein Anspruch auf Zahlung von Verletztengeld über den Entgeltfortzahlungszeitraum hinaus nicht bestehe, weil unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit nur bis zum 18.05.2016 und unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit nur bis zum 25.05.2016 bestanden habe. Der Verwaltungsakt ist bindend geworden.

Die EAP Kosten machte die Klägerin zunächst bei der Krankenkasse des Versicherten als Erstattungsanspruch gemäß § 105 Abs. 2 SGB X geltend. Die Krankenkasse teilte mit Schreiben vom 13.09.2017 mit, dass sie zur Zahlung nicht bereit sei, da für die EAP Kosten nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 17.02.2010, Aktenzeichen B 1 KR 23/09 R) der Rentenversicherungsträger zuständig sei.

Daraufhin machte die Klägerin mit Schreiben vom 30.05.2017 die Kosten gegenüber der Beklagten geltend.

Die Beklagte wies den Erstattungsanspruch mit Schreiben vom 13.06.2017 zurück. Es handele sich nicht um ganzheitliche, auf den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit gerichtete Leistungen. Die gesetzliche Rentenversicherung sei nicht zuständig. Aufgrund weiterer Beratungen sei festgehalten, dass die EAP mangels Interdisziplinarität nicht als eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation anzusehen sei.

Die Klägerin hat am 08.04.2020 Klage erhoben.

Die Klägerin verweist auf das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 19.11.2018, Aktenzeichen S 14 KR 426/16, wonach es sich bei der EAP Behandlung um keine Akutversorgung, sondern um eine im Anschluss an die Phase der Akutversorgung weiterführende Behandlung, die dem Versicherten eine möglichst rasche und effektive Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen soll, handele. Auch habe die Klägerin nicht zielgerichtet in die Zuständigkeit der Beklagten eingegriffen. Zum Zeitpunkt der Genehmigung der EAP Maßnahme sei die Klägerin von ihrer Zuständigkeit ausgegangen. Dies habe sich erst mit dem Eingang des Gutachtens des Dr. Heidelberger vom 12.05.2017 als Irrtum herausgestellt.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

die Beklagte zu verurteilen, an sie die in der Unfallangelegenheit JB (Unfall vom 11.05.2016) entstandenen Kosten in Höhe von 1629,65 € im Rahmen ihrer Leistungspflicht zu erstatten.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte meint, die Rentenversicherung sei nicht zuständig. Die Rentenversicherungsträger folgten der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 17.02.2010, B 1 KR 23/09 R über den Einzelfall hinaus nicht. Die erbrachte Leistung sei keine Rehabilitationsleistung. Sie konzentrierten sich ausschließlich auf die Behandlung der infrage stehenden Funktionsstörung, wohingegen Rehabilitationsleistungen dem biopsychosozialen Ansatz folgend weitaus umfassender (ganzheitlich) den gesamten Gesundheitszustand des Rehabilitanden durch interdisziplinäre Anwendungen multiprofessioneller Teams zu verbessern suchten. Auch hätte die Klägerin ihre Zuständigkeit vor der Leistungserbringung prüfen und das Verfahren an den aus ihrer Sicht zuständigen Leistungsträger weiterleiten müssen. Insoweit habe sie zielgerichtet in fremde Zuständigkeiten eingegriffen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte, verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Erstattungsanspruch ist § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X (vergleiche BSG Urteil vom 07.02.2010, Aktenzeichen B 1 KR 23/09 R). Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist gemäß § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Ein Fall des § 103 SGB X liegt nicht vor. Denn der Anspruch auf die von der Klägerin gewährten EAP Leistungen ist nicht nachträglich entfallen. Die Klägerin beruft sich vielmehr darauf, zunächst in Unkenntnis des zutreffenden medizinischen Sachverhaltes (irrtümlich) von ihrer Zuständigkeit im Rahmen ihrer an den Versicherten von Amts wegen erbrachten Leistungen ausgegangen zu sein. Für solche Fälle kann in Bezug auf Reha-Leistungen, um die es bei der EAP geht, lediglich ein Anspruch aus § 104 SGB X eingreifen.

Die Klägerin ist nachrangig verpflichteter Leistungsträger, da sie von Amts wegen mit der EAP eine Reha-Leistungen erbrachte, deren Leistungsgewährung nicht mehr in einem ursächlichen Zusammenhang zu einem Arbeitsunfall des Versicherten stand, so dass eine unfallversicherungsrechtliche Leistungspflicht der Klägerin für die erbrachte EAP grundsätzlich ausscheidet. Dies folgt aus dem Gutachten des Dr. I2 vom 12.05.2017. Dieser führte aus, dass unfallbedingt somit lediglich eine Zerrung der rechten Schulter vorlag. Unfallunabhängig bestehen an der rechten Schulter eine Engstellung unter dem Schulterdach sowie eine Degeneration der Rotatorenmanschette/langen Bizepssehne. Zudem besteht eine AC- Gelenksarthrose der rechten Schulter. Wesentliche Einwände hiergegen sind auch seitens der Beklagten weder erhoben noch ersichtlich. Der Bescheid der Klägerin an den Versicherten vom 30.05.2017, dass unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit nur bis zum 25.05.2016 bestanden habe, wurde bindend.

Die Klägerin leistete in der Annahme der Möglichkeit ihrer eigenen Leistungspflicht zunächst nach den für sie geltenden Rechtsvorschriften. Ein zielgerichtetes Eingreifen in fremde Zuständigkeiten lag offensichtlich nicht vor. Das Ergebnis der von der Klägerin durchgeführten Zuständigkeitsprüfung im Sinne des § 14 SGB IX ist in den Verwaltungsakten dokumentiert. Die Mitarbeiterin der Klägerin war zum Zeitpunkt der Genehmigung von der Zuständigkeit der Klägerin ausgegangen, daher wurde die Kostenübernahme für die EAP Maßnahme erteilt. Erst mit dem Eingang des Gutachtens des Dr. Heidelberger vom 12.05.2017 hat sich dies als Irrtum herausgestellt.

Die Beklagte hatte nicht bereits selbst geleistet. Die Klägerin wäre zudem im Sinne von § 104 Abs. 1 S. 2 SGB X bei rechtzeitiger Erfüllung einer Leistungspflicht der Beklagten selbst nicht leistungspflichtig gewesen. Sie hätte im Sinne von § 104 Absatz 1 S. 3 SGB X auch nicht bei Leistung der Beklagten selbst Leistungen erbringen müssen.

Die Klägerin hat auch keinen Erstattungsanspruch gegenüber der Krankenkasse. Denn die EAP ist weder eine ärztliche Behandlung, noch ein vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenkassen umfasstes Hilfsmittel. Da die EAP in den Hilfsmittelrichtlinien und im Hilfsmittelkatalog nicht als verordnungsfähige ambulant zu erbringende Leistung enthalten ist, zählt sie schon insoweit grundsätzlich nicht zu den Formen der zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbringbaren Krankenbehandlung (vergleiche BSG Urteil vom 07.02.2010 Aktenzeichen B 1 KR 23/09 R). Grundsätzlich kommt daher nur ein Anspruch des Versicherten gegen die Krankenkasse auf Gewährung von EAP als medizinische Reha-Leistungen nach § 40 Abs. 1 SGB V in Betracht. Dem steht allerdings die Vorschrift des § 40 Abs. 4 SGB V entgegen, wonach Leistungen zur medizinischen Rehabilitation von der Krankenkasse nur erbracht werden, wenn nach den für andere Träger der Sozialversicherung geltenden Vorschriften mit Ausnahme des § 31 SGB VI solche Leistungen nicht erbracht werden können.

Dieser Ausschluss greift vorliegend ein, da der Versicherte die EAP als eine Leistung der medizinischen Rehabilitation nach § 15 Abs. 1 SGB VI von der Beklagten hätte beanspruchen können. Unstreitig liegen die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine medizinische Rehabilitation nach dem SGB VI vor.

Das Bundessozialgericht (BSG Urteil vom 07.02.2010 Aktenzeichen B 1 KR 23/09 R) hat dazu mit überzeugender Begründung ausgeführt, dass die EAP generell als Leistung im Anschluss an eine akute Behandlung konzipiert ist. Die Kammer schließt sich der ausführlichen Darstellung des Bundessozialgerichts in diesem Urteil nach eigener Prüfung und Überzeugung an. Sie ist darüber hinaus nach Prüfung des vorliegenden Einzelfalles davon überzeugt, dass im Fall des Versicherten keine Hinweise dafür vorliegen, dass die EAP von der Klägerin abweichend von dem generellen Verständnis zum Zweck der spezifischen Leistung, wie ihn das Bundessozialgericht dargelegt hat, geleistet wurde, um noch im Rahmen einer Akutbehandlung tätig zu werden. Die Leistungen der Klägerin zielten vielmehr darauf ab, im Anschluss an die Phase der Akutversorgung der Verletzung eine möglichst rasche und effektive Teilhabe des Versicherten am Leben in der Gesellschaft durch einen speziell dafür ausgebildeten und ausgewählten Leistungserbringer zu ermöglichen. Die EAP des Versicherten wurde im Reha Zentrum W durchgeführt. Der Versicherte erhielt krankengymnastische Therapie, physikalische Therapie und medizinische Trainingstherapie. Ziele waren laut der Verordnung vom 27.10.2016 die Steigerung von Beweglichkeit, Kraft, Koordination und Ausdauer. Der Versicherte litt unter einem Zustand nach Schulterverletzungen rechts, Partialruptur Subscapularissehne, Teilruptur der interarteriellen Bizepssehne sowie einer vorbestehenden subacromialen Enge. Arbeitsunfähigkeit bestand vom 12.05.2016 bis zum 22.07.2016. Im Anschluss arbeitete der Versicherte für eine Woche, danach ging er in den Betriebsurlaub bis zum 22.08.2016. Eine erneute Arbeitsunfähigkeit bestand vom 22.08.2016 bis zum 06.12.2016. Erst danach erfolgt eine Belastungserprobung für 3 Wochen, im Anschluss konnte der Versicherte wieder in Vollzeit arbeiten.

Zur baldigen Wiederherstellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit war dem Versicherten daher nach Abschluss der Akutbehandlung die streitige EAP verordnet worden.

Auch das Sozialgericht Lübeck folgt in seiner Entscheidung vom 29.11.2018, S 14 KR 426/16, das Sozialgericht Köln in seiner Entscheidung vom 04.05.2020, Az: S 3 R 292/29, der vorliegenden Argumentation. Die Beklagte war daher zur Erstattung zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 VwGO.

Die die Streitwertentscheidung beruht auf § 52 Abs. 3 S. 1 GKG.

Die Berufung war nicht nach § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und nicht von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht. Vielmehr ist die streitige Frage der Einordnung der EAP als Rehabilitationsleistung bereits höchstrichterlich entschieden.

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