SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 31.05.2013 - S 12 KA 462/11
Fundstelle
openJur 2021, 20109
  • Rkr:

Ein nicht zugelassenes Arzneimittel (hier: Leukonorm) ist nicht verordnungsfähig. Der Ausschluss der Verordnungsfähigkeit folgt aus den Vorschriften des SGB V, weshalb für einen Arzneikostenregress die Prüfungsstelle abschließend zuständig ist (vgl. BSG, Urt. v. 11.05.2011 - B 6 KA 13/10 R - BSGE 108, 175 = SozR 4-2500 § 106 Nr. 32 = Breith 2012, 529 = USK 2011-35 = MedR 2012, 691, juris Rdnr. 18 ff.).

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger hat die Gerichtskosten und die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu tragen. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.

3. Der Streitwert wird auf 7.404,04 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Randnummer1Die Beteiligten streiten um einen Arzneikostenregress wegen der Verordnung von LeukoNorm in den Quartalen I/07 und IV/07 in Höhe von insgesamt 7.404,04 Euro (netto).

Randnummer2Der Kläger ist Direktor der HNO-Klinik der Städtischen Kliniken F., einem akademischen Lehrkrankenhaus der Universität F. Er ist zur vertragsärztlichen Behandlung ermächtigt.

Randnummer3Die Beigeladene beantragte zunächst für das Quartal III/06 die Feststellung eines sonstigen Schadens in Höhe von 2.177,72 Euro netto wegen der Verordnung von Leukonorm CytoChemia Injektionen 6er Set N2 für die bei der beigeladenen Versicherten QW.

Randnummer4Der Kläger führte hierzu aus, die 1974 geborene Versicherte leide unter einer Infektion mit einem humanen Papillomavirus, die bei ihr eine Larynxpapillomatose verursacht habe. Das HPV-Virus sei ein DNS-Virus, von dem bis heute mehr als 100 Typen bekannt seien, die sich entweder in der Haut oder in der Schleimhaut des Anogenitaltraktes oder oberen Aerodegistivtraktes ansiedelten. In der Haut führe HPV zu Warzen verschiedener Ausprägungen, im gynäkologischen Bereich führe es zu Condylomen und spiele eine große Rolle bei der Entstehung des Zervix-Karzinoms. Wegen der unbefriedigten chirurgischen Maßnahmen und den seltenen, aber gravierenden Fälle einer Generalisation der Erkrankung werde seit Jahren nach adjuvanten medikamentösen Therapien gesucht. In der Behandlung der gynäkologischen Papillomatose habe sich bisher das Präparat Leukonorm der Firma Cyto Chemia etabliert, das als Immunmodulator die körpereigene Abwehr gegen die Koantigene der HPV-Viren steigern könne. Auf Grund der desolaten Lage in der Behandlung des HPV-Virus im Larynx sei bei Frau QW. ein individueller Behandlungsversuch mit dem Immunmodulator unternommen worden. Unter dieser Therapie habe sich die Operationsfrequenz auf zwei Sitzungen pro Jahr reduzieren lassen. Im Moment sei die Patientin rezidivfrei. Es sei äußerst zweifelhaft, dass dieser bisherige Behandlungserfolg ohne die Immunmodulation durch Leukonorm eingetreten wäre. Die Patientin übe ihren Beruf (Flugbegleiterin) weiter aus, ihre Stimme sei belastbar und klangvoll.

Randnummer5Für das Quartal I/07 stellte die Beigeladene einen weiteren Antrag am 24.09.2007 hinsichtlich eines Verordnungsumfangs in Höhe von 3.702,17 Euro und für das Quartal IV/07 in Höhe von 3.701,87 Euro wegen weiterer Verordnungen für die Patientin QW, worauf der Kläger sein Vorbringen jeweils wiederholte. Die Beklagte verband alle drei Verfahren und setzte mit Bescheid vom 28.03.2011 eine Schadensersatzpflicht für das Quartal I/07 in Höhe von 3.702,17 Euro (netto) und für das Quartal IV/07 in Höhe von 3.701,87 Euro (netto), insgesamt in Höhe von 7.404,04 Euro (netto) fest. Für das Quartal III/06 stellte sie keine Schadensersatzpflicht fest. Zur Begründung führte sie aus, Leukonorm sei zunächst im Rahmen der Bestimmungen des Einigungsvertrages für einen Übergangszeitraum verkehrsfähig gewesen, um der Herstellerfirma Cyto Chemia Gelegenheit zu geben, die nach (west-)deutschem Arzneimittelrecht notwendigen Unterlagen zur Beantragung einer regulären Zulassung zusammenzustellen. Die auf dieser Grundlage erfolgte Ablehnung der Zulassung mache deutlich, dass Leukonorm allenfalls für den Einigungsvertrag genannten Zeitraum, maximal bis zur abschließenden Bewertung des Zulassungsantrags durch die Behörde eine Verkehrsfähigkeit und dabei eine Verordnungsfähigkeit besessen habe. Gegen den Bescheid habe die Firma Klage beim Verwaltungsgericht Darmstadt erhoben. Diese Klage habe aufschiebende Wirkung, sodass Leukonorm bis zu einer Gerichtsentscheidung weiterhin am Markt verfügbar sei. Die arzneimittelrechtliche Verkehrsfähigkeit begründe sich wegen der aufschiebenden Wirkung der Klage jedoch nicht auf einer tatsächlichen arzneimittelrechtlichen Prüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Mittels, sondern lediglich auf der verfahrensrechtlichen Position. Nach den spezifischen Kriterien des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung sei die Leistungsgewährung regelmäßig ausgeschlossen, wenn eine abschlägige Entscheidung der zuständigen Behörde über die Verlängerung der Arzneimittelzulassung ergangen sei und die arzneimittelrechtliche Verkehrsfähigkeit des Mittels deshalb nur noch aus rein verfahrensrechtlichen Gründen des einstweiligen Rechtschutzes hergeleitet werden könne. Die Spitzenverbände der Krankenkassen würden die Auffassung vertreten, dass ein durch Klage bedingtes Fortwirken der Alt-Arzneimittelzulassung nicht zur Leistungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung führe. Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen habe in einem Rundschreiben einen Bericht zur Verordnung von Leukonorm und die damit verbundene Restregressgefahr im August 2007 veröffentlicht. Leukonorm erfülle seit Januar 2007 nicht mehr die Anforderungen an ein im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähiges Arzneimittel. Da dem Arzneimittel erst mit Bescheid vom 22.12.2006 die Marktzulassung versagt worden sei, sehe sie von einer Festsetzung an Erstattungsforderungen für das Quartal III/06 ab.

Randnummer6Hiergegen hat der Kläger am 09.05.2011 über die Beklagte die Klage erhoben. Ergänzend zu seinem Vorbringen im Verwaltungsverfahren trägt er vor, auch wenn aufwendige Studien zur Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit fehlten, seien dem behandelnden Arzt Möglichkeiten über den individuellen Heilungsversuch gegeben, um den Patienten zu helfen. Für den Arzt sei es unmöglich, zwischen Verkehrs- und Verordnungsfähigkeit zu unterscheiden. Er habe sich nach dem Ruhen der Zulassung bei dem Paul-Ehrlich-Institut erkundigt und die Auskunft erhalten, dass die Zulassung nicht wegen erwiesener Unwirksamkeit, sondern wegen nicht Offenlegung der Verfahren der Herstellung in einzelnen Teilen abgelehnt worden sei. Rein formal juristische Verweise könnten ihm nicht entgegen gehalten werden. Er habe am 16.01.2007 nochmals das Arzneimittel verordnet. Er habe bis dahin keine Kenntnis davon gehabt, dass der Firma die Zulassung verweigert worden sei. Die von der Beklagten eingeräumte "Toleranzzeit" müsse über den 15.01.2007 hinaus gelten. Über den medizinischen Nutzen des Arzneimittels Leukonorm sei in der Vergangenheit nicht gestritten worden. Der Befall mit dem Virus verursache bei der Versicherten eine Papillon-Wucherung im Kehlkopfbereich, die zur Luftnot und Sprechunvermögen führe und deshalb immer wieder abgetragen werden müsse. Diese Operationen beseitigten nicht das Virus, sondern nur die Wucherungen und gefährdeten den Patienten sehr. Es gäbe Patienten, die über 100-mal operiert werden müssten. Ohne die Operation würden die Patienten sterben. Es gebe also eine mehr als lebensbedrohliche Erkrankung. Eine kausale Therapie stelle die Schulmedizin nicht zur Verfügung, jedenfalls im streitbefangenen Zeitraum. Es handele sich um eine seltene Erkrankung. Die CO²-Lasertherapie würde selbstverständlich durchgeführt und zwar bei allen Patienten. Leider komme es aber ständig zu Rezidiven, sodass die Therapie mit Leukonorm die körperlichen Widerstände unterstütze im Sinne einer Impfung.

Randnummer7Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 28.03.2011 bzgl. der Quartale I/07 und IV/07 aufzuheben.

Randnummer8Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Randnummer9Sei verweist auf den angefochtenen Bescheid und trägt ergänzend vor, die Verkehrsfähigkeit des Präparats ändere nichts an der Unwirtschaftlichkeit der Verordnung desselben. Auch nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts schließe eine fehlende Zulassung oder eine noch nicht bestandskräftige Ablehnung der Zulassung die Wirtschaftlichkeit der Verordnung aus. Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit müssten allgemein anerkannt sein. Auf die Einschätzung des Arztes komme es nicht an. Es handele sich nicht um einen Fall des "Off-Label-Uses", da das Problem der Verordnung von Leukonorm kein Problem des Umfangs der Zulassung sei. Er habe keine Auflistung der adulten Larynxpapillomatose als seltene Krankheit finden können. Die Behandlung von Leukonorm sei auch nicht alternativlos gewesen. Es habe die Möglichkeit einer Standardtherapie durch Abtragung mit einem CO²-Laser bestanden.

Randnummer10Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie trägt vor, auf ein Verschulden des Arztes komme es nicht an. Ebenso lasse sich aus Artikeln in Fachzeitschriften kein Vertrauenstatbestand konstruieren. Auf den Zugang des Prüfungsantrages komme es nicht an, da ein Arzt innerhalb der Antrags- und Prüffristen grundsätzlich mit einer Überprüfung der Verordnungsweise rechnen müsse. Es sei nicht vorgetragen worden, dass die Patientin tatsächlich an einem Zervix-Karzinom leide. Durch das zugrunde liegende Krankheitsbild entstehe ein gutartiger Tumor auf der Glottis. Die Anwendung des Präparats Leukonorm diene in diesem Zusammenhang nach der operativen Entfernung des gutartigen Tumors der Vermeidung von Rezidiven auf der Glottis. Es handele sich mithin um eine adjuvante Therapie. Bereits nach dem klägerischen Vortrag sei nicht ersichtlich, dass es sich um eine lebensbedrohliche Erkrankung handele. Das Präparat Leukonorm habe lediglich die weiteren Auswirkungen der Infektion mit dem HPV-Virus abmildern sollen.

Randnummer11Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichts- und beigezogenen Verwaltungsakte Bezug genommen.

Gründe

Randnummer12Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden. Die Sache hat keine Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art, und der Sachverhalt ist geklärt. Die Kammer hat die Beteiligten hierzu angehört.

Randnummer13Die Klage ist zulässig. Die Prüfungsstelle war abschließend zuständig. Der Durchführung eines Vorverfahrens vor dem Beschwerdeausschuss bedurfte es nicht.

Randnummer14Nach § 78 Abs 1 Satz 1 SGG sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit eines Verwaltungsaktes grundsätzlich in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Dies gilt auch für das Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V. § 106 Abs 5 Satz 3 SGB V bestimmt, dass die dort aufgeführten Personen und Institutionen gegen die Entscheidungen der Prüfungsstelle die Beschwerdeausschüsse anrufen können; gemäß § 106 Abs 5 Satz 6 SGB V gilt das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss als Vorverfahren (§ 78 Abs 1 SGG). Gemäß § 78 Abs 1 Satz 2 Nr. 1 SGG bedarf es eines Vorverfahrens (nur) dann nicht, wenn ein Gesetz dies für besondere Fälle bestimmt. Ein derartiger Ausnahmefall ist in § 106 Abs 5 Satz 8 SGB V (in der ab dem 01.01.2008 geltenden Fassung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes <GKV-WSG>) geregelt. Danach findet - abweichend von § 106 Abs 5 Satz 3 SGB V - in Fällen der Festsetzung einer Ausgleichspflicht für den Mehraufwand bei Leistungen, die durch das Gesetz oder durch die Richtlinien nach § 92 SGB V ausgeschlossen sind, ein Vorverfahren nicht statt. Diese Ausnahmeregelung ist, wie ihre Auslegung ergibt, auf Fälle beschränkt, in denen sich die Unzulässigkeit der Verordnung unmittelbar und eindeutig aus dem Gesetz selbst oder aus den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses ergibt. Zudem muss sich der Ausschluss aus spezifischen Regelungen des Krankenversicherungsrechts ergeben. Eine (einschränkende) Auslegung der Norm in diesem Sinne legt bereits ihr Wortlaut nahe. Danach gilt der Ausschluss des Vorverfahrens nur für "Leistungen, die durch das Gesetz oder durch die Richtlinien nach § 92 SGB V ausgeschlossen sind" (vgl. BSG, Urt. v. 11.05.2011 - B 6 KA 13/10 R - BSGE 108, 175 = = SozR 4-2500 § 106 Nr. 32 = Breith 2012, 529 = USK 2011-35 = MedR 2012, 691, juris Rdnr. 18 ff.).

Randnummer15Der Ausschluss der Verordnungsfähigkeit folgt aus den Vorschriften des SGB V, nach denen nur zugelassene Arzneimittel verordnungsfähig sind.

Randnummer16Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u. a. die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln (§ 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3 SGB V). Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 ausgeschlossen sind, und auf Versorgung mit Verbandmitteln, Harn- und Blutteststreifen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V).

Randnummer17Das strittige Arzneimittel durfte im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnet werden.

Randnummer18Das Medikament LeukoNorm durfte 2002 arzneimittelrechtlich in den Verkehr gebracht werden. Das beruhte jedoch darauf, dass dies das Übergangsrecht im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag so vorsah. Dieses Übergangsrechts mit Zulassungsfiktion und Nachzulassungs-Status bedurfte es, um für in der DDR zugelassene Arzneimittel bis zum Ablauf des Übergangszeitraums sicherzustellen, dass diese bis zur Erteilung einer Zulassung nach dem AMG weiterhin zum Verkehr zugelassen sind. Hieraus folgt aber nicht die krankenversicherungsrechtliche Verordnungsfähigkeit. Die arzneimittelrechtliche Verkehrsfähigkeit von LeukoNorm beruhte im Zeitpunkt der Verordnungen auf arzneimittelrechtlichem Übergangsrecht, nicht aber auf einer fundierten arzneimittelrechtlichen Prüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels, für die eine Überprüfung durch Auswertung sog. randomisierter, doppelblind durchgeführter und placebokontrollierter Studien vorgesehen ist. Aus dieser Übergangsregelung zur arzneimittelrechtlichen Verkehrsfähigkeit ist aber nicht ohne Weiteres der Schluss auf eine auch nur übergangsweise bestehende krankenversicherungsrechtliche Verordnungsfähigkeit zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V erlaubt. Die vorläufige arzneimittelrechtliche Verkehrsfähigkeit bewirkte mangels sozialrechtlichem Übergangsrecht nicht die krankenversicherungsrechtliche Verordnungsfähigkeit von LeukoNorm, weil die Verkehrsfähigkeit nur auf einer übergangsrechtlichen Position beruhte, nach der es ohne hinreichend gesicherte Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit weiterhin in den Verkehr gebracht werden durfte. Die in den Wobe Mugos E-Entscheidungen des BSG (Urt. v. 27.09.2005 - B 1 KR 6/04 R - SozR 4-2500 § 31 Nr. 3; Urt. v. 05.11.2008 - B 6 KA 63/07 R - SozR 4-2500 § 106 Nr. 21 = USK 2008-106 = GesR 2009, 539) allgemein formulierten Maßstäbe sind auf die vorliegende Konstellation anwendbar. Trotz der Unterschiede bestand in beiden Fällen ein Schwebezustand zugunsten eines Arzneimittelherstellers, der bewirkte, dass die arzneimittelrechtliche Verkehrsfähigkeit erhalten blieb. Und für beide Fälle gilt, dass diese vorläufige Verkehrsfähigkeit nach Arzneimittelrecht nicht automatisch die Verordnungsfähigkeit nach den spezifischen Kriterien des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V begründete. Zudem hat das Bundessozialgericht in Anwendung seiner allgemein formulierten Maßstäbe auch deutlich gemacht, dass für eine Schlussfolgerung von der arzneimittelrechtlichen Zulassung auf eine Verordnungsfähigkeit im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung "insbesondere" dann eine Rechtfertigung fehlt, wenn die Zulassung bzw. die Verlängerung der Zulassung eines Arzneimittels ausdrücklich abgelehnt wurde und dieses lediglich deshalb weiterhin verkehrsfähig im Sinne des AMG war, weil die Verlängerungsversagung mangels Anordnung der Vollziehung noch nicht vollzogen wurde (BSG, Urt. v. 05.11.2008 - B 6 KA 63/07 R- a.a.O., Rdnr. 22). Entscheidend ist, dass das Arzneimittel LeukoNorm im Zeitpunkt der streitbefangenen Verordnungen nicht das Arzneimittelzulassungsverfahren nach dem AMG mit Gewähr für Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit durchlaufen hatte und die in der DDR erteilte Zulassung nur aufgrund Übergangsrechts im Rahmen des Einigungsvertrages behielt (vgl. LSG Hamburg, Urt. v. 24.03.2011 - 24.03.2011 - L 1 KA 21/07 - juris Rdnr. 47 ff., Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen durch BSG, Beschl. v. 23.08.2011 - B 6 KA 37/11 B . juris; s. auch LSG Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 10.03.2011 - L 5 KR 177/10 - www.sozialgerichtsbarkeit.de = juris; LSG Bayern, Urt. v. 22.03.2011 - L 5 KR 392/09 - www.sozialgerichtsbarkeit.de).

Randnummer19Die Klage ist aber unbegründet. Der Bescheid vom 28.03.2011 ist rechtmäßig und war daher nicht aufzuheben. Die Beklagte hat zu Recht den strittigen Arzneikostenregress festgesetzt.

Randnummer20Im System der gesetzlichen Krankenversicherung nimmt der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt - Vertragsarzt - die Stellung eines Leistungserbringers ein. Er versorgt die Mitglieder der Krankenkassen mit ärztlichen Behandlungsleistungen, unterfällt damit auch und gerade dem Gebot, sämtliche Leistungen im Rahmen des Wirtschaftlichen zu erbringen. Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, darf er nach dem hier anzuwendenden Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch, gesetzliche Krankenversicherung nicht erbringen. Dies gilt für alle - niedergelassenen oder ermächtigten - vertragsärztlichen Leistungserbringer.

Randnummer21Gesetzliche Neufassungen des § 106 SGB V gelten nicht für die Wirtschaftlichkeitsprüfung von Quartalen, die vor Inkrafttreten der Neufassung abgeschlossen waren. Maßgeblich sind die zum früheren Zeitpunkt geltenden Rechtsvorschriften. Etwas anderes kommt lediglich in Betracht, wenn der Normgeber ohne Erlass von Übergangsbestimmungen die Vorschriften über die Zusammensetzung der für die Wirtschaftlichkeitsprüfung zuständigen Verwaltungsstelle oder andere Vorschriften über das formelle Verfahren ändert (vgl. BSG, Urt. v. 09.04.2008 - B 6 KA 34/07 R - SozR 4-2500 § 106 Nr. 18, juris Rn. 15 f. m.w.N.; Clemens in: jurisPK-SGB V, 2. Aufl. 2012, § 106 SGB V Rn. 289). Hierzu gehören auch Zuständigkeitsregelungen, so dass zuständig die Beklagte Prüfungsstelle war, die mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 26.03.2007 (BGBl. I, S. 378) zum 01.01.2008 eingeführt wurde.

Randnummer22Die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung sind nach geltender Rechtslage berechtigt, Arzneikostenregresse wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise festzusetzen. Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Verordnungsregressen ist § 106 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 3 SGB V. Danach können die Landesverbände der Krankenkasse und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V vorgesehenen Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren. In den Verträgen ist auch festzulegen, unter welchen Voraussetzungen Einzelfallprüfungen durchgeführt werden können. Von dieser Kompetenz haben die Partner der Gesamtverträge in Hessen Gebrauch gemacht. Nach der hier noch maßgeblichen Prüfvereinbarung (im Folgenden: PV) vom 19.08.2004, mit Wirkung ab 01.01.2004 in Kraft getreten - diese Prüfvereinbarung ist erst durch die Prüfvereinbarung vom 12.06.2008 mit Wirkung zum 01.01.2008 abgelöst worden -, prüft der Prüfungsausschuss auf Antrag, ob der Arzt im Einzelfall mit seinen Arzneiverordnungen gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen hat. Anträge müssen innerhalb von 12 Monaten nach Ablauf des Verordnungsquartals der KVH bzw. der Geschäftsstelle des Prüfungsausschusses vorliegen. Prüfgegenstand ist die arzneimittel- und verordnungsbezogene Überprüfung der Verordnungsweise nach den Arzneimittel-Richtlinien. Der Prüfungsausschuss entscheidet auch über nicht verordnungsfähige bzw. nur unter bestimmten Voraussetzungen verordnungsfähige Arzneimittel. Soweit der Prüfungsausschuss im Einzelfall eine Unwirtschaftlichkeit festgestellt hat, setzt er den vom Arzt zu erstattenden Regressbetrag fest (vgl. § 14 PV). Weitgehend wortgleiche Regelungen enthält § 13 der mit Wirkung ab 01.01.2008 in Kraft getretenen Prüfvereinbarung vom 12.06.2004.

Randnummer23Die erfolgte Zuweisung der Sanktionierung unzulässiger bzw. rechtswidriger Verordnungen an die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung steht im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben in § 106 SGB V, mit den Bestimmungen der §§ 48 ff. BMV-Ä in der ab 1. Januar 1995 geltenden Fassung (n. F.) sowie mit der langjährigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. hierzu eingehend BSG, Urt. v. 14.03.2001 - B 6 KA 19/00 R - SozR 3-2500 § 106 SGB V Nr. 52 = USK 2001-148, juris Rdnr. 11 ff., s. a. LSG Bayern, Urt. v. 02.03.2005 - L 12 KA 107/03 - www.sozialgerichtsbarkeit.de).

Randnummer24Unter Beachtung der PV ist der angefochtene Bescheid nicht zu beanstanden.

Randnummer25Der Bescheid ist formell rechtmäßig.

Randnummer26Die Prüfungsstelle war, wie bereits ausgeführt, abschließend zuständig.

Randnummer27Eine mündliche Verhandlung des Beklagten war nicht notwendig. Das Verfahren vor den Prüfgremien ist grundsätzlich schriftlich (§ 18 Abs. 1 Satz 1 PV). Der Antrag auf Prüfung ist jeweils rechtzeitig innerhalb von 12 Monaten nach Ablauf des Verordnungsquartals gestellt worden.

Randnummer28Der angefochtene Bescheid ist auch materiell rechtmäßig. Die Beklagte hat in nicht zu beanstandender Weise den strittigen Arzneikostenregress festgesetzt. Wie bereits ausgeführt, durfte das strittige Arzneimittel im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung wegen der fehlenden arzneimittelrechtlichen Zulassung nicht verordnet werden. Fehlt aber die Verordnungsfähigkeit, so ist Unwirtschaftlichkeit gegeben (so ausdrücklich BSG, Urt. v. 05.11.2008 - B 6 KA 63/07 R - a.a.O., Rdnr. 25).

Randnummer29Eine Verordnung kam auch nicht aus den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätzen in Betracht. Danach ist es mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.12.2005 -1 BvR 347/98 - SozR 4-2500 § 27 Nr. 5 = BVerfGE 115, 25 = NZS 2006, 84 = GesR 2006, 72 = NJW 2006, 891 = MedR 2006, 164, juris Rdnr. 55). Das Bundesverfassungsgericht stellt entscheidend darauf ab, dass andere, schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen. Auch soweit man unterstellt, der Kläger habe das Arzneimittel zur Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung eingesetzt, so handelte es sich um eine vorbeugende Therapie und diente sie nur der Unterstützung der anderen therapeutischen Maßnahmen und nicht unmittelbar zur Behandlung der lebensbedrohlichen Krankheit selbst. Es handelte sich nicht um eine primäre Behandlungsmethode, sondern um eine Begleitmedikation. Der Kläger trägt insoweit selbst vor, der Befall mit dem Virus verursache eine Papillon-Wucherung im Kehlkopfbereich, die zur Luftnot und Sprechunvermögen führe und deshalb immer wieder abgetragen werden müsse, was durch eine Operation erfolge. Ohne die Operation würden die Patienten sterben. Die CO²-Lasertherapie werde selbstverständlich durchgeführt und zwar bei allen Patienten. Die Therapie mit Leukonorm unterstütze die körperlichen Widerstände im Sinne einer Impfung. Von daher ist die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung auf die Verordnung von LeukoNorm nicht übertragbar.

Randnummer30Eine verpflichtende vorherige Anhörung vor Festsetzung eines Regresses war nicht erforderlich.

Randnummer31Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, von der abzuweichen die Kammer hier keine Veranlassung sieht, ist die Festsetzung eines Regresses nicht davon abhängig, dass die Prüfgremien die Klägerin zuvor über die Unwirtschaftlichkeit ihrer Verordnungsweise beraten haben (vgl. BSG, Urt. v. 15.08.2012 - B 6 KA 45/11 R - juris Rdnr. 12). Soweit in § 106 Abs. 5e Satz 2 SGB V in der ab dem 01.01.2012 geltenden Fassung des GKV-VStG vom 22.12.2011 (BGBl I 2983) bestimmt ist - nunmehr für alle Verfahren, die am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen waren (Art. 12b Nr. 3 2. AMGÄndG v. 19.10.2012, BGBl. I 2192) -, die Festsetzung von Erstattungsbeträgen bei Überschreitung des Richtgrößenvolumens (§ 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V) könne erst für Zeiträume nach einer individuellen Beratung erfolgen, findet diese Regelung hier bereits aus sachlichen Gründen keine Anwendung. Die Abs. 5a und 5c bis 5e des § 106 SGB V befassen sich allein mit der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Überschreitung von Richtgrößenvolumina i. S. des § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V und finden auf andere Prüfungen keine Anwendung. Im Übrigen war das Verwaltungsverfahren mit Bescheid vom 28.03.2011 abgeschlossen. Der Grundsatz "Beratung vor Regress" soll damit ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des GKV-VStG im Januar 2012 für alle laufenden und nachfolgenden Verfahren der Prüfgremien, auch soweit sie zurückliegende Prüfzeiträume betreffen, gelten. Die Prüfgremien können seitdem keinen Erstattungsbetrag mehr festsetzen, wenn nicht zu dem früheren Prüfzeitraum die gesetzlich vorgeschriebene individuelle Beratung erfolgt ist. Für ein bereits vor dem Inkrafttreten abgeschlossenes Widerspruchsverfahren gilt die Neuregelung nicht, auch wenn eine Klage gegen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses noch anhängig ist (vgl. BT-Drs. 17/10156, S. 95). Von daher war eine vorherige Beratung nicht erforderlich, da das Verwaltungsverfahren im Jahr 2011 bereits abgeschlossen war und es sich hier auch nicht um eine Richtgrößenprüfung handelt.

Randnummer32Auf ein Verschulden der Klägerin kommt es nicht an.

Randnummer33Ist einem Vertragsarzt eine unwirtschaftliche Verordnungsweise anzulasten, so ist ein Regress gegen ihn berechtigt, wobei dieser in Höhe des der Krankenkasse entstandenen Schadens festzusetzen ist. Ein Verschuldenserfordernis besteht im Rahmen von Honorarkürzungen oder Verordnungsregressen gemäß § 106 SGB V nicht (vgl. BSG, Urt. v. 05.11.2008 - B 6 KA 63/07 R - a.a.O. Rdnr. 28 m. w. N.). Im Übrigen schließt eine Unkenntnis vom Verordnungsausschluss ein Verschulden nicht aus.

Randnummer34Nach allem war die Klage abzuweisen.

Randnummer35Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

Randnummer36Die Streitwertfestsetzung erfolgte durch Beschluss des Vorsitzenden.

Randnummer37In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach den sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Bietet der Sach- und Streitwert für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, so ist ein Streitwert von 5.000,00 Euro anzunehmen (§ 52 Abs. 1 und 2 GKG). Der Streitwert folgte aus dem strittigen Regressbetrag.

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