Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel vom 4. Juni 2021 abgeändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 2. Juni 2021 wird wiederhergestellt, soweit darin die Nutzung der Bundesautobahn A 49 untersagt worden ist.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
Die gemäß §§ 146 und 147 der Verwaltungsgerichtsordnung − VwGO − zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die versammlungsrechtliche Verfügung der Antragsgegnerin vom 2. Juni 2021 wiederherzustellen. Es sprechen ganz überwiegende Gründe dafür, dass die Untersagung der Nutzung der Bundesautobahn A 49 im Streckenabschnitt von der Anschlussstelle 5 Auestadion bis zur Anschlussstelle 3 Kassel Industriepark für die von dem Antragsteller angemeldete Fahrraddemonstration am Samstag, den 5. Juni 2021, ab 14.00 Uhr, zum Thema "Verkehrswende JETZT! (Bundesweites Anti-Autobahn-Aktionswochenende)" unter Verweis auf eine Alternativroute über innerstädtische Straßen im Gebiet der Stadt Kassel rechtswidrig ist. An der sofortigen Vollziehung einer rechtswidrigen Verfügung besteht kein besonderes öffentliches Interesse (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO).
Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden.
Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2011 − 1 BvR 1190/90 −, BVerfGE 104, 92 <104>, juris Rn. 41; BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. April 2007 − 1 BvR 1090/06 −, BVerfGK 11, 102 <108>, juris Rn. 19). Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet auch das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll (vgl. BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 699/06 -, BVerfGE 128, 226 ff., Rn. 64 und Beschluss vom 14. Mai 1985 − 1 BvR 233/81 −, BVerfGE 69, 315 <343>, juris Rn. 61). Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen (ständige Rspr. des BVerfG, vgl. z.B. Beschluss vom 7. März 2011 − 1 BvR 388/05 −, juris Rn. 32 m.w.N.). Das den Grundrechtsträgern durch Art. 8 GG eingeräumte Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt der Veranstaltung ist durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt. Es umfasst nicht auch die Entscheidung, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben. Rechtsgüterkollisionen ist im Rahmen versammlungsrechtlicher Verfügungen etwa durch Auflagen oder Modifikationen der Durchführung der Versammlung Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 a.a.O., juris Rn. 54, 63). Wichtige Abwägungselemente sind dabei unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit der blockierten Tätigkeit Dritter, aber auch der Sachbezug zwischen den beeinträchtigten Dritten und dem Protestgegenstand. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen Bezug zum Versammlungsthema haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001, a.a.O., juris Rn. 64).
Die spezifische Widmung der Autobahnen für den überörtlichen Kraftfahrzeugverkehr schließt deren Nutzung für Versammlungszwecke nicht generell aus. Während bei innerörtlichen Straßen und Plätzen, bei denen die Widmung die Nutzung zur Kommunikation und Informationsverbreitung einschließt, Einschränkungen oder gar ein Verbot aus Gründen der Verkehrsbehinderung nur unter engen Voraussetzungen in Betracht kommen, darf den Verkehrsinteressen bei öffentlichen Straßen, die allein dem Straßenverkehr gewidmet sind, größere Bedeutung beigemessen werden, so dass das Interesse des Veranstalters und der Versammlungsteilnehmer an der ungehinderten Nutzung einer solchen Straße gegebenenfalls zurückzutreten hat (vgl. hierzu: Hess. VGH, Beschlüsse vom 31. Juli 2008 − 6 B 1629/08 −, juris Rn. 12, vom 15. Juni 2013 −2 B 1359/13 −, juris Rn. 2 und vom 30. Oktober 2020 − 2 B 2655/20 −, juris Rn. 6).
Die von der Antragsgegnerin geltend gemachte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung rechtfertigt die Untersagung der vom Antragsteller gewünschten Routenführung der Fahrraddemonstration über die Bundesautobahn A 49 zwischen den Anschlussstellen Kassel Auestadion und Kassel Industriepark nach § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes − VersG − nicht.
Bei der Abwägung der Interessen des Versammlungsanmelders an der gewünschten Nutzung der Autobahn und der Beeinträchtigung der durch erforderliche Straßensperrungen und Umleitungen betroffenen Allgemeinheit fällt zugunsten des Antragstellers ins Gewicht, dass das Versammlungsthema, das eine Verkehrswende fordert und sich gegen den Bau von Autobahnen richtet, einen unmittelbaren Bezug zum Versammlungsort aufweist. Seinem Anliegen möchte der Antragsteller durch den Fahrradaufzug auf der Autobahn besonderen Ausdruck verleihen.
Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände überwiegen die Interessen der Allgemeinheit das Interesse des Antragstellers an der Durchführung der Fahrradversammlung unter Nutzung der Bundesautobahn A 49 hier nicht. Eine schwerwiegende Verkehrsbeeinträchtigung, die über das der Allgemeinheit zumutbare Maß hinausginge, ist unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Baustellensituation auf den Autobahnen im Bereich Kassel und des Versammlungszeitpunkts an einem Samstagnachmittag nicht zu besorgen.
Anders als im Beschluss des Senats vom 30. Oktober 2020 − 2 B 2655/20 − (juris), in dem das Verbot der Führung einer Fahrraddemonstration über den auch hier streitgegenständlichen Autobahnabschnitt bestätigt worden ist, hat sich die Baustellensituation in Autobahnnetz rings um Kassel mittlerweile entspannt. Die Teilsperrung der A 7 und Umleitung über die von dem Fahrradaufzug betroffene A 49 bestehen nicht mehr. Die in dem angefochtenen Bescheid angeführten Arbeitsstellen auf der A 7 und der A 44 sowie die einstreifige Verkehrsführung auf der Bergshäuser Brücke der A 44 in Richtung Dortmund lassen einen Verkehr − wenn auch mit Geschwindigkeitsreduzierungen − zu und sind einer Teilsperrung nicht gleichzusetzen.
Der Durchgangsverkehr auf der Bundesautobahn A 7 als deutschlandweit bedeutsamer Nord-Süd-Verbindung wird durch die Fahrraddemonstration auf der A 49 nicht beeinträchtigt. Das in dem Bescheid geltend gemachte hohe Fahrzeugaufkommen von Urlaubsreisenden wegen des langen Wochenendes durch den Feiertag am Donnerstag, den 3. Juni 2021 in einigen Bundesländern dürfte zu dem Zeitpunkt der Versammlung − einem Samstagnachmittag − ohnehin weniger zu erwarten sein als am Sonntagnachmittag.
Soweit Verkehrsbeeinträchtigungen auf der A 49 durch die erforderliche Sperrung einer Richtungsfahrbahn eintreten werden, treffen sie insbesondere Verkehrsteilnehmer, die in die Stadt Kassel hinein- oder aus ihr herausfahren möchten. Hier ist zum gewählten Versammlungszeitpunkt − anders als in dem am 30. Oktober 2020 (a.a.O.) entschiedenen Verfahren, das einen Freitagnachmittag betraf − nicht in besonderem Maße mit Berufsverkehr zu rechnen. Das Verkehrsaufkommen auf der A 49 wird vielmehr in erster Linie Einkaufszwecken in der Stadt Kassel dienen. Soweit die Antragsgegnerin geltend macht, es sei wegen der Entspannung der Corona-Pandemie mit einem starken Verkehrsaufkommen zu rechnen, ist zu berücksichtigen, dass in der Stadt Kassel seit 17. Mai 2021 nur die Landesregelungen der Stufe 1 gelten. Das bedeutet, dass Verkaufsstätten und der Einzelhandel außerhalb der Grundversorgung nur als "click and meet" mit der Empfehlung eines tagesaktuellen Corona-Schnelltests öffnen dürfen. Die Gastronomie darf nur im Außenbereich öffnen. Hier ist eine tagesaktueller Test obligatorisch (vgl. hierzu: https://soziales.hessen.de/gesundheit/corona-in-hessen/wo-gelten-welche-bundes-und-landesregeln, abgerufen am 4. Juni 2021). Das Aufsuchen der Stadt Kassel ist also noch weniger attraktiv als in anderen Regionen, in denen bereits weitergehende Lockerungen gelten. Der Rückfahrverkehr dürfte ohnehin erst am späteren Nachmittag nach Beendigung der Versammlung stattfinden.
Es ist unter diesen Voraussetzungen keine Überlastung des innerstädtischen Straßennetzes in Kassel durch Ausweichverkehr zu besorgen.
Die von der Antragstellerin geltend gemachten Gefahren, die durch einen Stau entstehen, sind bei einer geplanten und geordneten Autobahnsperrung deutlich geringer und beherrschbarer als bei einem unvorhergesehenen, plötzlichen Stau. Es muss versucht werden, ihnen durch vorausschauende, verkehrslenkende Maßnahmen zu begegnen.
Der Senat teilt auch nicht die Bedenken hinsichtlich einer Gefährdung des Gegenverkehrs aufgrund einer Ablenkung durch die Fahrraddemonstration. Anders als bei einem Unfall handelt es sich bei der Versammlung nicht um ein punktuelles Geschehen, das nur einen "kurzen Blick" ermöglicht, so dass "Gafferunfälle" zu besorgen sind. Fahrraddemonstrationen auf Autobahnen sind entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin inzwischen auch nicht mehr völlig atypisch, sondern sind der Bevölkerung mittlerweile bekannt.
Der Verweis der Antragsgegnerin auf die kurze Vorlaufzeit zur Organisation von Umleitungen und verkehrsregelnden Maßnahmen vermag die Untersagung der Autobahnnutzung für die Versammlung ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Der Antragsteller hat die Anmeldung der Versammlung am Freitag, den 28. Mai 2021 um 13.01 Uhr per E-Mail an die Antragsgegnerin übermittelt. Bis zu dem Versammlungszeitpunkt am 5. Juni 2021 blieben 8 Tage. Es ist der Antragsgegnerin zwar zuzugestehen, dass dieser Zeitraum − auch unter Berücksichtigung des Feiertags am 3. Juni 2021 − relativ kurz ist und eine frühere Anmeldung wünschenswert gewesen wäre. Die Entwicklung eines Verkehrskonzepts erscheint in dem zur Verfügung stehenden Zeitraum gleichwohl möglich.
Die Antragsgegnerin hat nach § 154 Abs. 1 VwGO als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Streitwert ist in versammlungsrechtlichen Verwaltungsstreitverfahren, die ein Versammlungsverbot oder Auflagen zum Gegenstand haben, auf die Hälfte des Auffangwerts festzusetzen (§ 52 Abs. 1 und 2 des Gerichtskostengesetzes − GKG −, Nr. 45.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013). Eine weitere Reduzierung des Streitwerts in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes findet im Hinblick auf die Vorwegnahme der Hauptsache nicht statt (§ 52 Abs. 1 GKG, Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013; vgl. Beschluss des Senats vom 17. Juni 2020 − 2 E 1289/20 −, juris).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; § 66 Abs. 3 Satz 3 und § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).