FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30.03.2021 - 5 K 1689/20
Fundstelle
openJur 2021, 17711
  • Rkr:
Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu tragen.

Tatbestand

Die Kläger begehren einen Erlass nach § 227 AO.

Die Kläger waren im Streitjahr 2011 zu jeweils 50 % an einer KG beteiligt. Mit Schreiben vom 4. März 2013 beantragten sie für einen Teilbetrag der Einkommensteuer 2011 den Erlass wegen sachlicher Unbilligkeit nach dem sog. Sanierungserlass des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 27. März 2003 (BStBl I 2003, 240), weil die Bank einen Forderungsverzicht in Höhe von 500.000 € ausgesprochen habe.

Der Einkommensteuerbescheid 2011 vom 28. März 2013 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 5. Februar 2015 wurde bestandskräftig.

Der Erlassantrag wurde mit Bescheid vom 2. Juli 2014 abgelehnt, weil die Voraussetzungen des Sanierungserlasses nicht vorlägen. Dagegen legten die Kläger am 1. August 2014 Einspruch ein, der mit Einspruchsentscheidung vom 2. Juli 2020 ebenfalls mit der Begründung zurückgewiesen wurde, dass die Voraussetzungen des Sanierungserlasses nicht vorlägen. In den Gründen wurde darauf hingewiesen, dass der Große Senat des BFH mit Beschluss vom 28. November 2016 (GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393) zwar entschieden habe, dass der Sanierungserlass gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstoße. Am 27. April 2017 habe das BMF allerdings eine Altfallregelung getroffen (Schuldenerlass bis 8. Februar 2017). Diese Altfallregelung verstoße zwar nach Auffassung des BFH (Urteile vom 23. August 2017 I R 52/14 und X R 38/15) ebenfalls gegen die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Das BMF habe im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden der Länder mit Schreiben vom 29. März 2018 allerdings angeordnet, dass die BFH-Urteile vom 23. August 2017 nicht über die entschiedenen Einzelfälle hinaus anzuwenden seien.

Am 24. Juli 2020 haben die Kläger Klage erhoben.

Auf den Hinweis des Gerichts (Schriftsatz vom 22. Oktober 2020, Blatt 45 f. der Gerichtsakte), dass auch der Nichtanwendungserlass des BMF vom 29. März 2018 gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstoße, führten die Prozessbevollmächtigten aus, der Gesetzgeber habe auf die Entscheidung des Großen Senats des BFH vom 28. November 2016 umgehend reagiert und habe die Regelung des § 3a EStG eingeführt. Zwar gelte die Steuerbefreiung nach § 3a EStG für einen Schuldenerlass nach dem 8. Februar 2017, jedoch sei diese Regelung auf Antrag eines Steuerpflichtigen und nach Maßgabe des § 52 Absatz 4a Satz 3 EStG auch in den sogenannten Altfällen anzuwenden. Es möge daher zwar zutreffen, dass der Nichtanwendungserlass der Finanzverwaltung vom 29. März 2018 von den Gerichten nicht zu beachten sei. Im vorliegenden Fall sei jedoch die vorgenannte gesetzliche Regelung des § 3a EStG einschlägig, die als Folge des Beschlusses des Großen Senates vom 28. November 2016 geschaffen worden sei.

Das Gericht erwiderte (Schriftsatz vom 26. Januar 2021, Blatt 59 der Gerichtsakte), die Regelungen des sog. Sanierungserlasses und des § 3a EStG würden sich sowohl in systematischer als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht deutlich unterscheiden. § 3a EStG sei eine Steuerbefreiungsvorschrift. Über ihre Anwendung sei bereits im Veranlagungsverfahren zu entscheiden. Soweit sie greife, entstehe die Einkommensteuer erst gar nicht. Dagegen werde über die im sog. Sanierungserlass vorgesehenen Maßnahmen der Stundung und des Erlasses in einem eigenständigen Billigkeitsverfahren entschieden. Daher könne in Billigkeitsverfahren kein Antrag auf Anwendung des § 3a EStG gestellt werden (Verweis auf Seer in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 19. Aufl. 2020, § 3a EStG, Rn. 6a; Levedag in: Schmidt, Einkommensteuergesetz, 39. Aufl. 2020, § 3a EStG, Rn. 4). Vor diesem Hintergrund empfahl das Gericht, die Klage zurückzunehmen.

Die Prozessbevollmächtigten teilten mit Schriftsatz vom 15. März 2021 nach Rücksprache mit den Klägern mit, dass diese nicht bereit seien, die Klage zurückzunehmen.

Die Kläger beantragen sinngemäß (Blatt 36 PA),den Bescheid des Beklagten vom 2. Juli 2014 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 2. Juli 2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den auf die Erträge aus dem Forderungsverzicht entfallenden Teilbetrag an Einkommensteuer nach § 227 AO i.V.m. § 163 Abs. 1 Satz 1 AO wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen.

Der Beklagte beantragt,die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet (Blatt 71 und 74 der Gerichtsakte).

Gründe

Die Klage, über die der Senat gemäß § 90 Abs. 2 FGO mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist unbegründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 2. Juli 2014 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 2. Juli 2020 sind im Ergebnis nicht zu beanstanden, weil § 3a EStG in Billigkeitsverfahren keine Anwendung findet (dazu unter II.) und der Nichtanwendungserlass des BMF vom 29. März 2018 in Verbindung mit dem sog. Sanierungserlass, auf den die Kläger ihren Erlassantrag stützen, gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstößt und daher keine geeignete Grundlage für einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen darstellt (dazu unter I.).

I.

Mit Beschluss vom 28. November 2016 hat der Große Senat des BFH entschieden (GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393), dass der sog. Sanierungserlass, auf den die Kläger ihren Erlassantrag stützen, gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstößt und keine geeignete Grundlage für einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen darstellt.

Der BFH hat außerdem entschieden (u.a. Urteil vom 23. August 2017 I R 52/14, BFHE 259, 20, BStBl II 2018, 232), dass das BMF-Schreiben vom 27. April 2017 (BStBl I 2017, 741, Ziff. 1), das "aus Gründen des Vertrauensschutzes" u.a. angeordnet hat, dass der sog. Sanierungserlass "weiterhin uneingeschränkt anzuwenden" sei, ebenfalls gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstößt und von den Gerichten daher nicht zu beachten ist. Zur Begründung hat der BFH Folgendes ausgeführt:

"1. Nach § 163 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Unter denselben Voraussetzungen können gemäß § 227 AO Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise erlassen werden. Die Entscheidung über die abweichende Steuerfestsetzung oder den Erlass von Steuern ist eine Ermessensentscheidung. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um ein voraussetzungsloses Ermessen. Vielmehr setzen die abweichende Steuerfestsetzung gemäß § 163 AO und der Erlass von Steuern gemäß § 227 AO voraus, dass die Erhebung bzw. Einziehung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; der Begriff der Unbilligkeit bestimmt Inhalt und Grenzen des Ermessens. Die Voraussetzungen der Unbilligkeit, die sich aus persönlichen oder sachlichen Gründen ergeben können, sind im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der behördlichen Entscheidung uneingeschränkt zu prüfen (ständige Rechtsprechung, vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 98 ff., m.w.N.).

2. Soweit das BMF mit dem sog. Sanierungserlass die Auffassung vertreten hat, unter den dort beschriebenen Voraussetzungen sei die Erhebung der auf einen Sanierungsgewinn entfallenden Steuer sachlich unbillig i.S. des § 163 Satz 1 und des § 227 AO, handelt es sich folglich um eine norminterpretierende -nämlich das Merkmal sachlicher Unbilligkeit konkretisierende- Verwaltungsvorschrift, welche die gleichmäßige Auslegung und Anwendung des Rechts sichern soll. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften haben nach ständiger BFH-Rechtsprechung keine Bindungswirkung im gerichtlichen Verfahren. Sie stehen unter dem Vorbehalt einer abweichenden Auslegung der Norm durch die Rechtsprechung, der allein es obliegt zu entscheiden, ob die Auslegung der Rechtsnorm durch die Finanzverwaltung im Einzelfall Bestand hat. Sonach lässt sich der Steuererlass in Fällen, in denen die Unbilligkeit der Besteuerung i.S. der §§ 163 und 227 AO nicht gegeben ist, auch nicht mit einer durch Verwaltungsvorschrift geschaffenen Selbstbindung der Finanzverwaltung und einem darauf gestützten Anspruch des Steuerpflichtigen auf Gleichbehandlung begründen (vgl. wiederum den Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 107 f.).

3. Nach dem Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393 (Rz 109 ff.) beschreiben die im sog. Sanierungserlass aufgestellten Voraussetzungen für einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen keinen Fall sachlicher Unbilligkeit i.S. der §§ 163, 227 AO. Soweit der sog. Sanierungserlass gleichwohl den Erlass der auf einen Sanierungsgewinn entfallenden Steuer vorsieht, liegt darin ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Der erkennende Senat schließt sich dem an und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Begründung des vorgenannten BFH-Beschlusses.

4. In Reaktion auf den am 8. Februar 2017 veröffentlichten Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393 hat das BMF mit Schreiben vom 27. April 2017 (BStBl I 2017, 741, Ziff. 1) "aus Gründen des Vertrauensschutzes" u.a. angeordnet, dass in den Fällen, in denen -wie im Streitfall- der Forderungsverzicht der an der Sanierung beteiligten Gläubiger bis zum 8. Februar 2017 endgültig vollzogen worden ist, der sog. Sanierungserlass "weiterhin uneingeschränkt anzuwenden" sei. Auch auf dieses BMF-Schreiben lässt sich indessen die Gewährung eines Steuererlasses gemäß § 227 AO nicht stützen. Es verstößt ebenfalls gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.

a) Wenn sich die bisherige Rechtsprechung verschärft oder eine höchstrichterliche Entscheidung von einer bisher allgemein geübten Verwaltungsauffassung abweicht, kann die Finanzverwaltung allerdings gehalten sein, allgemeine Übergangsregelungen bzw. Anpassungsregelungen zu erlassen oder entsprechende Einzelmaßnahmen zu treffen, um den Steuerpflichtigen im Hinblick auf seine im Vertrauen auf die bisherige Rechtslage getroffenen Dispositionen nicht zu enttäuschen (vgl. Senatsurteil vom 31. Oktober 1990 I R 3/86, BFHE 163, 478, BStBl II 1991, 610; BFH-Urteil vom 12. Januar 1989 IV R 87/87, BFHE 155, 487, BStBl II 1990, 261; BFH-Beschluss vom 26. September 2007 V B 8/06, BFHE 219, 245, BStBl II 2008, 405; Klein/Rüsken, AO, 13. Aufl., § 163 Rz 80 ff.; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 163 AO Rz 8; Oellerich in Beermann/Gosch, AO § 163 Rz 145, 149; Lüdicke in Lüdicke/Mellinghoff/Rödder [Hrsg.], Nationale und internationale Unternehmensbesteuerung in der Rechtsordnung, Festschrift für Dietmar Gosch, 2016, S. 261, 274).

b) Ein schützenswertes Vertrauen des Steuerpflichtigen im vorstehend beschriebenen Sinne ist indessen nur dann gegeben, wenn als Vertrauensgrundlage eine gesicherte, für die Meinung des Steuerpflichtigen sprechende Rechtsauffassung bestanden hat und die Rechtslage nicht als zweifelhaft erschien (BFH-Urteil vom 15. Januar 1986 II R 141/83, BFHE 145, 453, BStBl II 1986, 418; BFH-Beschluss in BFHE 219, 245, BStBl II 2008, 405). Im Fall des sog. Sanierungserlasses bestand eine solche zweifelfreie Rechtsauffassung nicht. Dessen Legalität ist vielmehr von Teilen des Schrifttums (vgl. z.B. Schmidt/ Heinicke, EStG, 36. Aufl., § 4 Rz 460 "Sanierungsgewinne"; Kanzler, Finanz-Rundschau 2003, 480; Bareis/Kaiser, Der Betrieb -DB- 2004, 1841) und der finanzgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. Urteil des FG München vom 12. Dezember 2007 1 K 4487/06, Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 515) schon frühzeitig infrage gestellt worden (vgl. auch Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 67 ff., m.w.N. zur kontroversen Rezeption des sog. Sanierungserlasses in Rechtsprechung und Schrifttum).

(...)

c) In der vorliegenden Konstellation ist eine allgemeine verwaltungsseitige "Übergangsregelung" in Form der Anordnung der schlichten Fortgeltung des Sanierungserlasses für alle Altfälle ausgeschlossen, weil eine solche Maßnahme dem Gesetzgeber vorbehalten ist.

aa) Der Große Senat des BFH hat in dem Beschluss in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393 (Rz 112 f.) ausgeführt: "Eine sachliche Billigkeitsmaßnahme stellt immer auf den Einzelfall ab und ist atypischen Ausnahmefällen vorbehalten. Das bedeutet zwar nicht, dass sie allein für singulär auftretende Fälle vorgesehen ist; sie kann vielmehr auch in durch besondere Ausnahmevoraussetzungen gekennzeichneten Fallgruppen gewährt werden. Die Voraussetzungen einer Billigkeitsmaßnahme sind aber im Fall einer solchen Gruppenregelung dieselben wie bei einer Einzelfallentscheidung der Finanzbehörde: Die Erhebung oder Einziehung muss gemäß § 163 Satz 1 und § 227 AO ´nach Lage des einzelnen Falls´ unbillig sein. Eine Gruppe gleichgelagerter Einzelfälle kann daher mit dem Ziel einer einheitlichen Behandlung zusammenfassend beurteilt werden, doch müssen hinsichtlich all dieser Einzelfälle die Voraussetzungen der sachlichen Unbilligkeit vorliegen (BFH-Urteile vom 9. Juli 1970 IV R 34/69, BFHE 99, 448, BStBl II 1970, 696, und vom 25. November 1980 VII R 17/78, BFHE 132, 159, BStBl II 1981, 204). Typisierende Billigkeitsregelungen in Gestalt subsumierbarer Tatbestände kommen deshalb nicht in Betracht; sie können allein Bestandteil einer gesetzlichen Regelung sein (...)."

bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe handelt es sich bei der unterschiedslosen Anwendung des sog. Sanierungserlasses auf sämtliche noch offene "Altfälle" gemäß Ziffer 1 des BMF-Schreibens in BStBl I 2017, 741 um eine dem Gesetzgeber vorbehaltene typisierende Vertrauensschutzregelung, die nicht auf eine Unbilligkeit "nach Lage des Einzelfalls" abstellt. Denn es besteht kein Anhalt dafür, dass in jedem der Altfälle das Vertrauen auf die steuerliche Begünstigung des Sanierungsgewinns durch den sog. Sanierungserlass ursächlich für die jeweiligen Forderungsverzichte der Gläubiger gewesen ist und dass alle Gläubiger bei Kenntnis des Fehlens einer Steuerbegünstigung von ihren Forderungserlassen abgesehen und anderweitig disponiert hätten. So hat der Große Senat des BFH die Regelungen des sog. Sanierungserlasses u.a. auch deshalb nicht als vornehmlich auf die Beseitigung sachlicher Unbilligkeit ausgerichtet angesehen, weil er keine Einzelfallprüfung vorsieht, sondern typisierende Regelungen enthält, welche die sachliche Unbilligkeit unter den dort beschriebenen Voraussetzungen ohne Rücksicht auf die Höhe des Sanierungsgewinns und der darauf entfallenden Steuer sowie ungeachtet einer zu befürchtenden Gefährdung der Unternehmenssanierung als gegeben unterstellen. Gerade bei der vom sog. Sanierungserlass geforderten vorrangigen Verlustverrechnung kann der nach Verrechnung verbleibende Sanierungsgewinn so gering sein, dass seine Besteuerung eine Gefährdung der Unternehmenssanierung nicht befürchten lässt; gleichwohl gewährt der sog. Sanierungserlass in jedem Fall eines verbleibenden Sanierungsgewinns den Steuererlass (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 120 f.).

cc) Der Verstoß der Ziffer 1 des BMF-Schreibens in BStBl I 2017, 741 gegen das Legalitätsprinzip ergibt sich des Weiteren daraus, dass das BMF-Schreiben parallel zu dem Gesetzgebungsverfahren ergangen ist, in dem die ertragsteuerliche Begünstigung von Sanierungsgewinnen auf eine gesetzliche Grundlage gestellt worden ist.

aaa) Zeitgleich mit der Abfassung des BMF-Schreibens in BStBl I 2017, 741 am 27. April 2017 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen (vom 27. Juni 2017, BGBl I 2017, 2074, BStBl I 2017, 1202) beschlossen, durch dessen Art. 2 und 4 u.a. die Vorschriften des § 3a des Einkommensteuergesetzes (EStG) und des § 7b des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) geschaffen worden sind. Diese enthalten nunmehr antragsgebundene Steuerbefreiungstatbestände für Betriebsvermögensmehrungen oder Betriebseinnahmen aus einem Schuldenerlass zum Zwecke einer unternehmensbezogenen Sanierung. Die Steuerbefreiungen sind gemäß § 52 Abs. 4a EStG und § 36 Abs. 2c GewStG i.d.F. des vorgenannten Gesetzes erstmals in den Fällen anzuwenden, in denen die Schulden ganz oder teilweise nach dem 8. Februar 2017 -dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des Beschlusses des Großen Senats des BFH in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393- erlassen wurden. Für "Altfälle", d.h. für jene Sanierungsgewinne, die auf einem Erlass von Schulden beruhen, der zeitlich bis zum 8. Februar 2017 vereinbart wurde, enthalten die Gesetze keine Übergangsregelungen.

Ursprünglich hatte der Bundesrat zwar noch vorgeschlagen, dass die Befreiung von der Einkommensteuer "in allen offenen Fällen" und die Befreiung von der Gewerbesteuer "auch für Erhebungszeiträume vor 2017" anzuwenden sein sollten (BTDrucks 18/11531, S. 9 und 11). Auf eine solche Rückwirkung ist aber in der endgültigen Gesetzesfassung auf Vorschlag des Finanzausschusses des Bundestags verzichtet worden. In der Begründung der Entwurfsfassung des Finanzausschusses heißt es dazu: "Für Steuerfälle, in denen der Schuldenerlass bis zum 8. Februar 2017 ausgesprochen wurde oder in denen bis zum Stichtag eine verbindliche Auskunft erteilt wurde, ist nach dem zur Veröffentlichung im Bundessteuerblatt Teil I vorgesehenen BMF-Schreiben vom 27. April 2017 ... der Sanierungserlass aus Vertrauensschutzgründen weiterhin anwendbar" (BTDrucks 18/12128, S. 33).

bbb) Führt der Gesetzgeber eine steuerliche Begünstigungsregelung ein, nachdem sich durch eine Gerichtsentscheidung herausgestellt hat, dass eine bislang im Billigkeitsweg durchgeführte Verwaltungspraxis gegen das Legalitätsprinzip verstößt, obliegt ihm auch die Entscheidung darüber, ob und auf welche Weise die gesetzliche Begünstigung auf Altfälle anzuwenden ist. Bezieht der Gesetzgeber die Altfälle nicht durch eine Übergangsregelung mit in die Neuregelung ein, steht es der Finanzverwaltung nicht zu, die bisherige Verwaltungspraxis unter Berufung auf Vertrauensschutzgesichtspunkte im Billigkeitsweg fortzusetzen. Verwaltungsanweisungen, mit denen zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse generelle Unzulänglichkeiten des Gesetzes -hier: das Fehlen einer Übergangsregelung für Altfälle- korrigiert werden sollen, sind unzulässig (vgl. Lüdicke, a.a.O., S. 274; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 163 AO Rz 8, § 227 AO Rz 54a; Oellerich in Beermann/Gosch, AO § 163 Rz 7).

Dass der Finanzausschuss des Deutschen Bundestags sich in der Begründung seines Regelungsvorschlags explizit auf das BMF-Schreiben in BStBl I 2017, 741 bezogen hat, führt vorliegend zu keiner anderen Beurteilung. Eine derartige Äußerung eines am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organs im Rahmen der Begründung eines Gesetzentwurfs ist kein geeigneter Ersatz für eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für das entsprechende Verwaltungshandeln (a.A. Uhländer, DB 2017, 1224: "abgestimmtes Vorgehen zwischen parlamentarischer Verantwortung einerseits und dem BMF bzw. den obersten Steuerbehörden in den Bundesländern andererseits"). Hierfür wäre vielmehr die Schaffung einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage (Verordnungsermächtigung gemäß Art. 80 des Grundgesetzes -GG-) erforderlich gewesen.

Ebenso wenig ändert es an dieser Erkenntnis etwas, dass sich die gesetzlichen Neuregelungen (Steuerbefreiungstatbestände) auf der Ebene der Steuerfestsetzung auswirken, während über die Begünstigungen nach dem sog. Sanierungserlass im Billigkeitsverfahren zu entscheiden war. Insbesondere hätte nichts dagegen gesprochen, auch jene Altfälle in eine gesetzliche Übergangsregelung einzubeziehen, in denen -wie im Streitfall- die Billigkeitsverfahren noch offen, die Steuern (unter Einbeziehung der Sanierungsgewinne) aber bereits bestandskräftig festgesetzt worden sind."

Nach Maßgabe dieser Rechtsgrundsätze - denen sich der erkennende Senat vollinhaltlich anschließt - verstößt nicht nur der sog. Sanierungserlass und das BMF-Schreiben vom 27. April 2017 (BStBl I 2017, 741, Ziff. 1), wonach der Sanierungserlass aus Gründen des Vertrauensschutzes weiterhin anzuwenden sei, gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Auch der zu dem vorgenannten Urteil des BFH vom 23. August 2017 (I R 52/14, BStBl II 2018, 232) am 29. März 2018 ergangene Nichtanwendungserlass (BStBl I 2018, 588, der sich auch auf das inhaltsgleiche Urteil des BFH vom 23. August 2017 X R 38/15, BStBl II 2018, 236 bezieht) verstößt gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, da es der Finanzverwaltung nicht zusteht, die bisherige Verwaltungspraxis unter Berufung auf Vertrauensschutzgesichtspunkte im Billigkeitsweg fortzusetzen. Verwaltungsanweisungen, mit denen zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse generelle Unzulänglichkeiten des Gesetzes - hier: das Fehlen einer Übergangsregelung für Altfälle - korrigiert werden sollen, sind unzulässig.

II.

Inzwischen hat der Gesetzgeber zwar eine Übergangsregelung geschaffen. Denn durch das Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 11. Dezember 2018 (BGBl I 2018, 2338) wurde § 52 Abs. 4a Satz 1 und 2 EStG um einen Satz 3 ergänzt, wonach auf Antrag des Steuerpflichtigen § 3a EStG auch in den Fällen anzuwenden ist, in denen die Schulden vor dem 9. Februar 2017 erlassen wurden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich die Regelungen des sog. Sanierungserlasses und des § 3a EStG sowohl in systematischer als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht deutlich unterscheiden (Seer in: Kirchhof/Seer, Einkommensteuergesetz, 20. Aufl. 2021, § 3a EStG, Rn. 6a; Levedag in: Schmidt, Einkommensteuergesetz, 39. Aufl. 2020, § 3a EStG, Rn. 4). § 3a EStG ist eine Steuerbefreiungsvorschrift. Über ihre Anwendung ist bereits im Veranlagungsverfahren zu entscheiden. Soweit sie greift, entsteht die Einkommensteuer erst gar nicht. Dagegen wird über die im sog. Sanierungserlass vorgesehenen Maßnahmen in einem eigenständigen Billigkeitsverfahren entschieden, das - wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind - mit einem Erlass der Steuer nach § 227 AO seinen Abschluss findet (siehe Randnummern 8 und 12 des Sanierungserlasses). Daher kann in dem vorliegenden Billigkeitsverfahren nach § 227 AO kein Antrag auf Anwendung des § 3a EStG gestellt werden (Seer in: Kirchhof/Seer, Einkommensteuergesetz, 20. Aufl. 2021, § 3a EStG, Rn. 6a; Levedag in: Schmidt, Einkommensteuergesetz, 39. Aufl. 2020, § 3a EStG, Rn. 4; so auch FG Münster, Urteil vom 15. Mai 2019 13 K 2520/16, EFG 2019, 1401).

Ob die Kläger über einen Antrag nach § 52 Abs. 4a S. 3 EStG eine Änderung des bestandskräftig gewordenen Einkommensteuerbescheides 2011 vom 5. Februar 2015 erreichen können bzw. ob ein solcher Antrag als rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO angesehen werden könnte (was umstritten ist, vgl. die Nachweise bei Seer in: Kirchhof/Seer, Einkommensteuergesetz, 20. Aufl. 2021, § 3a EStG, Rn. 6a), ist nicht Gegenstand des vorliegenden (Erlass-)Verfahrens und kann daher offenbleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.

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