VG Berlin, Beschluss vom 14.04.2021 - 38 L 192/21 A
Fundstelle
openJur 2021, 17066
  • Rkr:

Bei der gem. § 32 S. 2 i.V.m. § 33 AsylG zu erfolgenden Entscheidung nach Aktenlage ist der vollständige Inhalt der Akte zu berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere auch das Protokoll über die Erstbefragung der Schutzsuchenden (sog. Sozialstammblatt). Bei der Erstbefragung fragt das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, bei dem die Schutzsuchenden zumeist ihr Asylgesuch äußern, regelmäßig unter anderem nach dem Hauptantragsgrund für den Asylantrag.

Tenor

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Der Antragsteller wendet sich vorrangig gegen die Einstellung seines Asylverfahrens.

Der am 22. September 1990 geborene Antragsteller, der georgischer Staatsangehörigkeit ist, reiste nach eigenen Angaben im Januar 2021 in die Bundesrepublik Deutschland, meldete sich am 21. Januar 2021 beim Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten als schutzsuchend und beantragte am 27. Januar 2021 bei der Berliner Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Asyl. An diesem Tag erhielt er unter anderem das Informationsblatt über die Mitwirkungspflichten der Schutzsuchenden im Asylverfahren in deutscher und georgischer Sprache sowie die Ladung zur Anhörung am 15. Februar 2021.

Nachdem der Antragsteller zur Anhörung nicht erschienen war, stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 3. März 2021 fest, dass der Asylantrag des Antragstellers als zurückgenommen gelte und das Asylverfahren eingestellt sei. Da auch keine Abschiebungsverbote vorlägen, drohte das Bundesamt dem Antragsteller die Abschiebung nach Georgien an.

Mit seiner am 18. März 2021 beim Verwaltungsgericht eingegangen Klage wendet sich der Antragsteller gegen die Einstellung seines Asylverfahrens. Er habe zwischenzeitlich einen Antrag auf Wiederaufnahme gestellt und benötige Rechtsschutz bis über seinen Antrag auf Wiederaufnahme entschieden sei.

Sein zugleich sinngemäß erhobener Eilantrag,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. März 2021 anzuordnen,

über den gemäß § 76 Abs. 4 S. 1 Asylgesetz (AsylG) die Einzelrichterin entscheidet, hat keinen Erfolg.

Er ist zwar zulässig, insbesondere ist die Klage, dessen aufschiebende Wirkung mit dem Antrag hergestellt werden soll, innerhalb der zweiwöchigen Klagefrist des § 33 Abs. 5 S. 1 i.V.m. § 32 i.V.m. § 74 Abs. 1 Hs. 1 AsylG (zur maßgeblichen Frist VG Köln, Beschluss vom 19. Mai 2016 - 3 L 1060/16.A -, juris Rn. 18-20) gestellt. Der Eilantrag ist indes unbegründet, da die Einstellung des Asylverfahrens und die Versagung der Feststellung von Abschiebungsverboten bei der im Eilverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung keinen Bedenken begegnet.

Nach § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Dabei wird vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt, wenn er einer Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 nicht nachgekommen ist (§ 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AsylG). So ist es im Fall des Antragstellers. Die Einladung zur Anhörung vom 27. Januar 2021 wurde diesem persönlich übergeben und enthielt auch die erforderlichen Hinweise nach § 33 AsylG. Gleichwohl erschien der Antragsteller nicht zur Anhörung am 15. Februar 2021. Vom Antragsteller wurden im gerichtlichen Verfahren keine Entschuldigungsgründe nach § 33 Abs. 2 S. 2 AsylG geltend gemacht, solche sind auch sonst nicht ersichtlich.

Der Antragsteller kann sich derzeit auch nicht mit Erfolg auf ein Abschiebungsverbot berufen (§ 32 S. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz [AufenthG] bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG).

Die diesbezüglichen Ausführungen des Bundesamtes, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG), bedürfen der Ergänzung. So ist das Bundesamt zwar zutreffend davon ausgeht, dass Grundlage seiner Entscheidung lediglich die Aktenlage ist (§ 32 S. 2 i.V.m. § 33 AsylG), hat aber diese Aktenlage unvollständig ausgewertet. Bei einer Entscheidung nach Aktenlage ist nämlich der vollständige Inhalt der Akte zu berücksichtigen; dabei ist Teil der Akte auch das Protokoll über die Erstbefragung (sog. Sozialstammblatt). Bei der Erstbefragung fragt das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, bei dem die Schutzsuchenden zumeist ihr Asylgesuch äußern, regelmäßig unter anderem nach dem Hauptantragsgrund für den Asylantrag. Vorliegend hat der Antragsteller bei seiner Erstbefragung am 27. Januar 2021 als Hauptantragsgrund für seinen Asylantrag "Politische Verfolgung" notieren lassen.

Eine solche politische Verfolgung hat der Antragsteller indes zum jetzigen Zeitpunkt nicht glaubhaft gemacht. Auch unter Berücksichtigung der Angaben seiner ebenfalls um Schutz nachsuchenden Cousins ergibt sich nichts anderes. So hat Cousin G...M... (VG 38 L 218/21 A) ebenfalls die Anhörung nicht zur Schilderung seiner Gründe für die begehrte Schutzgewähr genutzt und bei der Erstbefragung gleichfalls lediglich allgemein "Politische Verfolgung" angegeben.

Sollte der Antragsteller wie sein Cousin D...M... (VG 38 L 178/21 A) eine Bedrohung wegen seines Engagements für die georgische Oppositionspartei "Vereinte Nationale Bewegung" geltend machen, so führt dies derzeit nicht zur Feststellung, dass die Voraussetzungen für die Feststellung von Abschiebungsverboten vorliegen. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen (siehe Erkenntnismittelliste vom 22. Februar 2021) ergibt sich vielmehr, dass die Oppositionsparteien sowie deren Anhänger und Mitglieder in Georgien ohne die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung i.S.d. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bzw. Lebensgefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG agieren können. Die politischen Freiheiten sind verfassungsrechtlich verankert und nach Einschätzung nationaler und internationaler Beobachter staatlicherseits auch gewährleistet (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien vom 17. November 2020 [Stand: November 2020], sog. Lagebericht, S. 6, 8; United States Department of State [USDOS], Georgia 2020 Human Rights Report 2019, März 2020, S. 30ff.). Auch die jüngsten Entwicklungen im Nachklang zu den Parlamentswahlen am 31. Oktober 2020 ergeben kein anderes Bild. Die jüngsten Entwicklungen im Nachklang zu den Parlamentswahlen am 31. Oktober 2020 ergeben kein anderes Bild (siehe Erkenntnismittelliste vom 22. Februar 2021; sowie Sonder-Erkenntnismittelliste vom 24. März 2021).

Nach den offiziell von der Wahlkommission vorgelegten Ergebnissen ging die seit 2012 regierende Partei "Georgian Dream" als Sieger aus der Parlamentswahl hervor; dieses offizielle Wahlergebnis wird von großen Teilen der Opposition nicht an erkannt, diese werfen der Regierungspartei massive Wahlfälschungen vor (siehe Jamestown, Georgian Opposition Does Not Recognize Legitimacy of Newly Elected Parliament, 5. November 2020; KAS, Parlamentswahlen in Georgien, 2. November 2020, S. 1; HRW, World Report 2021, Country Chapter Georgia, 13. Januar 2021). Auch die internationalen Wahlbeobachter stellten einzelne Verstöße und eine generelle Verwischung der Grenzen zwischen der Regierungspartei und dem Staat fest; insgesamt seien die grundlegenden Wahlrechtsgrundsätze aber beachtet worden (siehe z.B. OSCE International Election Observation Mission, Georgia - Parliamentary Elections, Statement of Preliminary Findings and Conclusions, 1. November 2020; CoE, Observation of the parliamentary elections in Georgia, 11. Januar 2021; zusammenfassend HRW, World Report 2021, Country Chapter Georgia, 13. Januar 2021).

Seither befindet sich Georgien in einer innenpolitischen Krise, die auch internationale Vermittler bislang nicht zu lösen wussten (Caucasuswatch, EU-vermittelte Verhandlungen in Georgien gescheitert, 20. März 2021; Jam News, European mediation between Georgian opposition, gov't ends without result, 19. März 2021). Das Handeln des georgischen Staates nach der Parlamentswahl wird dabei allgemein als Verlust für die Demokratie empfunden (siehe z.B. taz, Verloren hat die Demokratie, 2. November 2020; Jam News, 'Georgia's place in European society is under threat' - Western politicians, 27. Februar 2021). Das gilt insbesondere für die Verhaftung des Oppositionsführer Nika Melia im Februar 2021, bei der den Polizisten ein hartes Vorgehen vorgeworfen (ai, Georgia: Police storm opposition headquarters to arrest leader Nika Melia, 23. Februar 2021; FAZ, Nach Festnahme: Warum die Lage in Georgien eskaliert, 23. Februar 2021; siehe auch Ombudsmann, Public Defender’s Statement on Nika Melia’s Arrest, 23. Februar 2021). Nachfolgende Proteste (insbesondere gegen die Verhaftung des Oppositionsführer Nika Melia) konnten jedoch stattfinden, ohne dass es zu tätlichen Übergriffen gegenüber Oppositionspolitiker und Demonstranten gekommen ist (siehe Euronews, Georgia: Police storm opposition headquarters to arrest leader Nika Melia, 23. Februar 2021; Caucasian Knot, Opposition sets up tents in front of parliament building in Tbilisi, 26. Februar 2021; Euronews, Georgien: Keine Entspannung durch Gespräche: Protest vor Parlament in Tiflis, 2. März 2021; Caucasuswatch, Georgien: Destruktive Rhetorik zwischen Regierung und Opposition hält trotz Verhandlungen an, 3. März 2021). Die benannten Quellen enthalten auch ansonsten keine Berichte über tätlichen Übergriffen gegenüber Oppositionspolitikern oder Demonstranten.

Eine im Widerspruch zu dieser allgemeinen Erkenntnislage stehende individuelle Verfolgung, die eine unmenschliche Behandlung i.S.d. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK darstellen könnte, hat der Antragsteller - wie bereits ausgeführt - bislang nicht glaubhaft gemacht. Zudem ergibt sich auch unter Berücksichtigung der Covid-19-Pandemie und ihren sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMKR oder nach § 60 Abs. 7 AufenthG (siehe dazu VG Berlin, Beschlüsse vom 17. April 2020 - VG 38 L 251/20 A -, vom 28. Juli 2020 - VG 38 L 349/20 A -, vom 30. Oktober 2020 - VG 38 L 440/20 A -, vom 12. Januar 2021 - VG 38 L 633/20 A -, und vom 18. März 2021 - VG 38 L 92/21 A -, alle juris).

Schließlich bestehen keine durchgreifenden Bedenken hinsichtlich der Abschiebungsandrohung. Die erfolgte Verbindung der Ablehnung des Asylbegehrens mit der Abschiebungsandrohung ist im Ergebnis angesichts der erfolgten Aussetzung der Vollziehung nicht zu beanstanden (vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 15/2020 Anm. 1). Die Abschiebungsandrohung im Übrigen entspricht den gesetzlichen Anforderungen nach § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG i. V. m. § 59 Abs. 1 bis 3 AufenthG sowie § 36 Abs. 1 AsylG.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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