SG Gelsenkirchen, Urteil vom 25.07.2019 - S 53 AS 1133/18
Fundstelle
openJur 2021, 17057
  • Rkr:
Tenor

Der Bescheid vom 31.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2018 wird aufgehoben und der Beklagte verurteilt über den endgültigen Leistungsanspruch des Klägers für den Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017 neu zu entscheiden.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um Art und Umfang der endgültigen Leistungsfestsetzung für die Monate Dezember 2016 bis einschließlich Mai 2017 nach vorläufiger Leistungsbewilligung.

Der 1966 geborene Kläger steht im laufenden Bezug von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) beim Beklagten. Der Kläger ist seit dem 01.12.2015 selbstständig tätig und bezieht aufstockend Leistungen von dem Beklagten.

Am 31.10.2016 stellte der Kläger einen Weiterbewilligungsantrag. Der Beklagte forderte den Kläger mit Schreiben vom 08.11.2016 auf, die dort aufgeführten Unterlagen einzureichen. Dem kam der Kläger am 17.11.2016 nach.

Mit Bescheid vom 21.11.2016 bewilligte der Beklagte dem Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich 408,16 EUR.

Mit Änderungsbescheid vom 26.11.2016 berücksichtigte der Beklagte für den Zeitraum Januar bis Mai 2017 die Anpassung des Regelbedarfs.

Mit Schreiben vom 21.11.2017 forderte der Beklagte zur abschließenden Prüfung des Leistungsanspruchs für den Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017 folgenden Unterlagen vom Kläger an:

- abschließende Anlage EKS für den Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017 ausgefüllt und unterschrieben,

- betriebswirtschaftliche Auswertung und die entsprechenden Summen- und Saldenlisten für den Zeitraum bis Mai 2017,

- Nachweise, die seine Angaben in der abschließenden Anlage EKS belegen,

- Betriebs- und Heizkostenabrechnung 2016.

Dem Kläger wurde eine Frist bis zum 08.12.2017 gesetzt. Das Schreiben enthielt folgenden Hinweis:

"Haben Sie bis zum genannten Termin nicht reagiert oder die erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht, können die Geldleistungen ganz versagt werden, bis Sie die Mitwirkung nachholen (§§ 60, 66, 67 SGB I). Dies bedeutet, dass Sie keine Leistungen erhalten."

Mit Schreiben vom 15.12.2017 hat der Beklagte den Kläger erneut unter Fristsetzung bis zum 01.01.2018 aufgefordert die oben aufgeführten Unterlagen einzureichen.

Mit Schreiben vom 05.01.2018 hat der Beklagte den Kläger an die Mitwirkungsaufforderung vom 05.01.2018 erinnert.

Am 22.01.2018 reichte der Kläger die Anlage EKS ein.

Mit Bescheid vom 31.01.2018 erfolgte seitens des Beklagten die abschließende Festsetzung des Leistungsanspruchs für den streitgegenständlichen Zeitraum auf 0,00 EUR. Der Kläger sei seiner Nachweis- und Auskunftspflicht bis zur abschließenden Entscheidung nicht nachgekommen.

Mit Schreiben vom 14.02.2018 erhob der Widerspruch gegen den Bescheid vom 31.01.2017. Er werde die angeforderten Unterlagen nachreichen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.03.2018 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Rechtsgrundlage für die Bewilligungsentscheidung sei § 41a Abs. 3 SGB II. Danach sei die leistungsberechtigte Person nach Ablauf des Bewilligungszeitraums verpflichtet, die von den Trägern der Grundsicherung für Arbeitssuchende zum Erlass einer abschließenden Entscheidung geforderten leistungserheblichen Tatsachen nachzuweisen. Der Kläger übe eine selbständige Tätigkeit als Inhaber eines Restaurants aus. Das aus der selbständigen Tätigkeit erzielte Einkommen sei bedarfsmindernd zu berücksichtigen. Daher seien die Leistungen nach dem SGB II für den streitgegenständlichen Zeitraum zunächst vorläufig bewilligt worden. Um das aus selbständiger Tätigkeit erzielte Einkommen zu berechnen und abschließend über den Leistungsanspruch entscheiden zu können, sei der Kläger mehrfach aufgefordert worden die entscheidungserheblichen Unterlagen einzureichen. Die vom Kläger eingereichten Unterlagen würden nicht ausreichen, um über den Leistungsanspruch entscheiden zu können. Der Kläger habe lediglich die abschließende Anlage EKS eingereicht, die keine verwertbaren Angaben beinhalte. Die dortigen Angaben seien nicht plausibel und seien nicht durch Nachweise belegt worden. Im Rahmen der endgültigen Bewilligungsentscheidung sei daher die Hilfebedürftigkeit des Klägers verneint worden.

Der Kläger hat am 23.04.2018 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Entgegen den Ausführungen des Beklagten habe er die angeforderten Unterlagen im Rahmen des Widerspruchsverfahrens persönlich beim Jobcenter eingereicht.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 31.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen über den endgültigen Leistungsanspruch des Klägers für den Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017 neu zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte legte dar, dass im Widerspruchsverfahren keine Unterlagen eingereicht worden seien. Im Übrigen verweist der Beklagte auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Im Rahmen des Klageverfahrens hat der Kläger diverse seitens des Beklagten im Verwaltungsverfahren angeforderte Unterlagen eingereicht.

Der Beklagte ist der Ansicht, dass die nunmehr eingereichten Unterlagen nicht mehr berücksichtigt werden könnten, da der Zeitpunkt bis zur abschließenden Entscheidung im Sinne des § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides sei.

Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 28.02.2019 hat das Gericht den Steuerberater des Klägers Herrn H als Zeugen vernommen. Dieser machte folgende Angaben:

"Ich habe die Unterlagen von dem Kläger zwei Mal fertig gemacht und zwar EKS sowie weitere Unterlagen, die der Kläger dann abgeholt hat, weil er die beim Jobcenter abgeben wollte. Es handelte sich um die gleichen Unterlagen, die ich dem Gericht zugeschickt habe. Wenn ich zum Zeitraum befragt werde, kann ich das nicht ganz genau sagen. Es müsste aber Anfang 2018 sein. Nachdem Herr D sagte, dass die Unterlagen nicht angekommen sind, habe ich dann im Klageverfahren und zwar am 20.04.2018, die Unterlagen selbst zugeschickt. Als Herr D auf mich zukam, wo ich ihn die Unterlagen wieder fertig gemacht habe, war schon das dritte oder vierte Mal, weil die Unterlagen wohl beim Jobcenter nicht angekommen waren."

Der Kläger hat erklärt, er habe die Unterlagen am Info-Point abgegeben. Beim zweiten Mal habe er mit einer Mitarbeiterin am Info-Point gesprochen, die gesagt habe, dass sie die Unterlagen persönlich an den Sachbearbeiter weiterleite.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, die beigezogenen Verwaltungsakte sowie das Protokoll des Termins zur Erörterung des Sachverhalts und zur Beweisaufnahme vom 28.02.2019 Bezug genommen.

Gründe

Die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage in Form der Neubescheidungsklage (§ 54 Abs. 1 , § 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) ist zulässig und begründet. Der Kläger ist durch den Bescheid vom 31.01.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2018 i.S.v. § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da dieser rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.

Zwar war der auf § 41a Abs. 3 S. 4 SGB II gestützte Feststellungsbescheid ursprünglich rechtmäßig. Jedoch sind die Voraussetzungen zum Erlass des angegriffenen Bescheides nachträglich entfallen, was zu dessen nachträglichen Rechtswidrigkeit führt, welche hier auch beachtlich ist.

Der Tatbestand des § 41a Abs. 3 S. 3 und S. 4 SGB II lag ursprünglich vor. § 41a Abs. 3 SGB II lautet:

"Die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheiden abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch, sofern die vorläufig bewilligte Leistung nicht der abschließend festzustellenden entspricht oder die leistungsberechtigte Person eine abschließende Entscheidung beantragt. Die leistungsberechtigte Person und die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen sind nach Ablauf des Bewilligungszeitraums verpflichtet, die von den Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende zum Erlass einer abschließenden Entscheidung geforderten leistungserheblichen Tatsachen nachzuweisen; die §§ 60, 61, 65 und 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Kommen die leistungsberechtigte Person oder die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen ihrer Nachweis- oder Auskunftspflicht bis zur abschließenden Entscheidung nicht, nicht vollständig oder trotz angemessener Fristsetzung und schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht fristgemäß nach, setzen die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende den Leistungsanspruch für diejenigen Kalendermonate nur in der Höhe abschließend fest, in welcher seine Voraussetzungen ganz oder teilweise nachgewiesen wurden. Für die übrigen Kalendermonate wird festgestellt, dass ein Leistungsanspruch nicht bestand."

Der Kläger hat seine Pflichten gemäß § 41a Abs. 3 S. 2 SGB II verletzt, da er seiner gemäß § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 3 SGB I bestehenden Pflicht zur Mitteilung und Nachweis seiner Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit zur Ermittlung seiner Leistungsansprüche (§ 9 Abs. 1 SGB II) trotz wiederholter Aufforderung durch den Beklagten bis zur Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides nicht nachkam. Der Kläger konnte nicht nachweisen, dass er die angeforderten Unterlagen im Rahmen des Widerspruchsverfahrens persönlich beim Beklagten abgegeben hat. Der Zeuge Göttken konnte lediglich darlegen, dass er die Unterlagen auf Wunsch des Klägers zusammengestellt und an ihn übergeben habe. Dass der Kläger die Unterlagen aber auch beim Beklagten abgegeben hat, konnte der Zeuge naturgemäß nicht erklären. Die Unterlagen sind ausweislich der Verwaltungsakte nicht zur Akte gelangt. Der Kläger konnte keine Zeugen benennen, die bezeugen könnten, dass er die Unterlagen persönlich abgegeben hat.

Der Beklagte hat den Kläger auch ordnungsgemäß und schriftlich über die drohenden Rechtsfolgen belehrt. Eine Belehrung hat dabei konkret, verständlich, richtig und vollständig zu erfolgen. Es kommt auf den objektiven Erklärungswert der Belehrung an (zur Belehrung vor Erlass von Sanktionen vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 2010 - B 14 AS 92/09 R - juris). Der Beklagte hat den Kläger insoweit vollständig darüber informiert, welche Angaben er von diesem erwartet, bis wann er diese Angaben erwartet und dass nach Ablauf der Frist zum einen festgestellt werden wird, ein Leistungsanspruch nicht besteht (vgl. dazu Sozialgericht (SG) Berlin, Urteil vom 25.09.2017 - S 179 AS 6737/17, Rn. 67 -, juris; SG Braunschweig, Urteil vom 06.03.2018 - S 52 AS 361/17, Rn. 40 - juris; SG Leipzig, Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17 -, Rn. 51 - 53, juris).

Die vom Beklagten gesetzten Fristen waren i.S.d. § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II auch angemessen.

Die Kammer ist jedoch der Ansicht, dass die Voraussetzungen des § 41a Abs. 3 S. 4 SGB II durch Übermittlung der angeforderten Unterlagen im Klageverfahren und der damit verbundenen nachträglichen Erfüllung der Mitwirkungspflichten spätestens am 31.07.2018 entfallen sind und der vorliegende Bescheid daher spätestens ab dann rechtswidrig wurde.

Gegen die Relevanz der nachträglichen Pflichterfüllung für die Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheides spricht zwar zunächst der Wortlaut des § 41a Abs. 3 S. 3 und S. 4 SGB II, wonach die Feststellung des Nichtbestehens eines Leistungsanspruchs dann zu erfolgen hat, wenn der Leistungsberechtigte seinen Pflichten innerhalb der gesetzten angemessenen Frist nicht nachkommt. Eine nachträgliche Pflichterfüllung kann diese Voraussetzungen an sich niemals entfallen lassen, da diese nie innerhalb der bereits abgelaufenen Frist erfolgen kann (SG Osnabrück, Urteil vom 14.03.2018 - S 24 AS 713/17, Rn. 14 - juris; SG Leipzig, Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17 -, Rn. 79, juris). Die Nichtnennung des § 67 Abs. 1 SGB I in § 41a Abs. 3 S. 2 SGB II spricht demgegenüber nicht gegen die Relevanz der nachträglichen Pflichterfüllung (so aber SG Dortmund, Urteil vom 08.12.2017 - S 58 AS 2170/17, Rn. 30 - juris; SG Braunschweig, Urteil vom 06.03.2018 - S 52 AS 361/17, Rn. 27 - juris und SG Osnabrück, Urteil vom 14.03.2018 - S 24 AS 713/17, Rn. 19 - juris). Denn die Bezugnahme in § 41a Abs. 3 S. 2 SGB II auf das SGB I findet insgesamt nur hinsichtlich der dort normierten Pflichten des Leistungsempfängers und deren Grenzen statt, nicht auch auf Rechtsfolgen bei Verletzung selbiger. Diese werden nachfolgend in § 41a Abs. 3 S. 3 und S. 4 SGB II originär geregelt. Ein Verweis auf § 67 SGB I oder die Anordnung dessen Nichtanwendbarkeit wäre als weitere Rechtsfolge nach Versagung bzw. hier entsprechender Feststellung erst danach - in Satz 4 oder in einem Satz 5 - systematisch stimmig. Dieser Verweis fehlt aber insgesamt (so bereits SG Leipzig, Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17 -, Rn. 80, juris).

Im Übrigen kann der Beklagte mit einem fehlenden Verweis in § 41a Abs. 3 SGB II auf § 67 SGB I ohnehin keinen Erfolg haben, da er in seinen Aufforderungsschreiben ausdrücklich auf § 67 SGB I hingewiesen hat. Insoweit durfte der Kläger darauf vertrauen, dass der § 67 SGB I Anwendung findet und er seine Mitwirkungspflichten nachholen kann.

Auch die Rechtsnatur des § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II spricht für die nachträgliche Berücksichtigung von Unterlagen im Klageverfahren. Um eine nachträgliche Berücksichtigung auszuschließen, müsste es sich bei der Norm um eine Präklusionsnorm handeln. Dies hat aber bereits das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 12.09.2018 (Az.: B 4 AS 39/17 R) angezweifelt, im Ergebnis aber offen gelassen. Dem Wortlaut nach lässt § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II verglichen mit typischen Präklusionsvorschriften wie etwa § 106a Abs. 3 SGG, § 87b Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), § 79b Finanzgerichtsordnung (FGO) oder § 296 Zivilprozessordnung (ZPO) eine Präklusionsregelung nicht erkennen (BSG, Urteil vom 12.09.2018 - B 4 AS 39/17 R -,SozR 4-4200 § 41a Nr 1, Rn. 37; so auch SG Berlin, Urteil vom 25.09.2017 - S 179 AS 6737/17; SG Leipzig, Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17; SG Dresden, Urteil vom 11.01.2018 - S 52 AS 4382/17). Gegen eine Präklusionswirkung spricht auch, dass die Fristvorgabe des § 41a Abs. 3 Satz 3 SGB II nicht hinreichend eindeutig ist (vgl. nur BVerfG vom 19.3.2003 - 2 BvR 1540/01 - NJW 2003, 3545, 3546 mwN: Präklusionsvorschriften müssen sich durch ein besonderes Maß an Klarheit auszeichnen). Zudem müsste bei einer ausschließlich an den Fristablauf anknüpfenden Nullfeststellung sichergestellt sein, dass nicht zu vertretende Fristversäumnisse keine nachteiligen Rechtsfolgen auslösen (vgl nur BVerfG vom 21.2.1990 - 1 BvR 1117/89, BVerfGE 81, 264, 269 ff mwN). Eine solche Vorgabe ist indes weder der Norm selbst zu entnehmen - etwa in der Art von § 106a Abs. 3 SGG, noch folgt sie aus der Wiedereinsetzungsregelung des § 27 SGB X (so aber die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 41a SGB II, RdNr 41a.26), weil diese nur die Versäumung gesetzlicher Fristen betrifft (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB X).

Zudem ergibt eine verfassungskonforme Auslegung des § 41a Abs. 3 S. 4 SGB II, insbesondere unter Berücksichtigung des Normziels und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, dass eine Nicht-Nachholbarkeit den Antragsteller unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig belasten würde und es dem Antragsteller daher zumindest bis zur Bestandskraft der Entscheidung möglich sein muss, die Unterlagen nachzureichen (a.A. SG Osnabrück, Urteil vom 14.03.2018 - S 24 AS 713/17, Rn. 17 - juris; SG Duisburg, Urteil vom 02.01.2018 - S 49 AS 3349/17, Rn. 32 - juris).

Der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat unter der Geltung des Grundgesetzes Verfassungsrang. Er bedarf allerdings stets der Konkretisierung im Einzelfall. Zu würdigen ist das gesamte Normengefüge. Das gewählte Mittel und der gewollte Zweck müssen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen, d.h. der Eingriff muss zum Erreichen des gesetzten Zieles geeignet und erforderlich sein. Erforderlich ist er dann nicht, wenn sich das Ziel durch Einsatz eines milderen Mittels erreichen lässt. Das Maß der den Einzelnen treffenden Belastung muss in einem vernünftigen Verhältnis zu den ihm und/oder der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen stehen. Dabei genügt die abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung. Denn der Gesetzgeber hat auch bei Sanktionen hinsichtlich der Einschätzung und Prognose ihrer Wirksamkeit einen Beurteilungsspielraum, der von den Gerichten zu respektieren ist. Er ist allerdings um so enger, je stärker die Rechte des Bürgers betroffen sind. Denn dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt primär eine die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zu (so insgesamt: BSG, Urteil vom 17.08.2000 - B 10 LW 8/00 R, Rn. 21 - juris m.w.N.; insbesondere aus der Rspr. des BVerfG).

Legitimes Regelungsziel der Norm ist die Verfahrensbeschleunigung mittels "Integration" der Befugnisse nach § 66 SGB I in das eigentliche Bewilligungsverfahren nach dem SGB II und fiktionaler Feststellung des Nichtbestehens eines materiellen Anspruchs ausgehend von der Weigerung bzw. Untätigkeit des Antragstellers auf hinreichende Mitarbeit bei der Anspruchsermittlung zur Fokussierung des Rechtschutzes. Ob der Antragsteller indes einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen hat oder nicht, wurde damit gerade noch nicht geprüft und/oder festgestellt. Sanktioniert wird allein das fehlende Tätigwerden des mitwirkungsverpflichteten Antragstellers. Hierfür ist es verhältnismäßig, aber zur Zweckerreichung auch ausreichend, wenn man dem Antragsteller durch die Versagung/Entziehung von Leistungen bzw. hier eben durch die entsprechende materielle Fiktion keine Leistungen bewilligt und ihn so zum Tätigwerden zwingt. Auf diese Weise wird zum einen vermieden, dass der Leistungsträger nunmehr aufgrund der bestehenden Amtsermittlungspflicht anstelle des Antragstellers tätig werden muss und zum anderen, dass der Leistungsträger das Verwaltungsverfahren nicht abschließen kann. Der Antragsteller, der seinen Leistungsanspruch doch realisiert wissen will, ist nunmehr in der Pflicht, die erforderlichen Unterlagen innerhalb der Rechtsbehelfsfristen gegen den feststellenden Bescheid beizubringen. Dies stellt eine hinreichende Beschleunigung des Verfahrens dar, dessen einziges legitimes Ziel die vorhandene Regelung ist und - wegen der Rechtsnatur der in Rede stehenden Ansprüche - auch nur sein kann (vgl. auch SG Berlin, Urteil vom 25.09.2017 - S 179 AS 6737/17, Rn. 75 - juris; Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17, Rn. 81 - 87, juris).

Dass darüber hinaus der Leistungsberechtigte seine Ansprüche nicht durch nachträgliche Erfüllung der an ihn gerichteten Pflichten realisieren kann, würde demgegenüber übermäßig in seine grundgesetzlich unabdingbaren Existenzgrundrechte, dessen Erfüllung die begehrten Ansprüche dienen, eingreifen. Die Nachreichung von Unterlagen in überschaubarer Frist im Rechtsbehelfsverfahren und der damit verbundene Aufwand der erstmaligen materiellen Prüfung des Leistungsanspruchs sind "Verfahrensverzögerungen", die die öffentlichen Hand bei der Prüfung existenzsichernder Ansprüche schon aufgrund deren Rechtsgrundlage und Bedeutung hinzunehmen hat. Das Verwaltungsverfahren wird nämlich nicht um seiner selbst willen durchgeführt, sondern dient der Ermittlung des Sachverhaltes, der Prüfung der Rechtslage und somit Findung der rechtmäßigen materiellen Entscheidung (vgl. § 40 Abs. 1 S. 1 SGB II i.V.m. § 8 SGB X). Ein gerichtliches Verfahren - wie auch immer es ausgestaltet sein mag - ist wegen Art. 19 Abs. 4 GG ohnehin obligatorisch. Daher ist kein hinreichender Grund ersichtlich, warum nicht wenigstens in diesen ohnehin durchzuführenden gerichtlichen Verfahren der Antragsteller die Möglichkeit haben soll, seine verfahrensrechtlichen Pflichten nachträglich zu erfüllen und so die Herbeiführung einer materiell rechtmäßigen Entscheidung zu ermöglichen (vgl. SG Dresden, Urteil vom 11.01.2018 - S 52 AS 4328/17, Rn. 73 - juris). Dies gilt umso mehr, als bei gegenteiliger Rechtsauslegung Freiheitsrechte in erheblichem Umfang beschnitten werden (so auch SG Berlin, Urteil vom 13.11.2017 - S 61 AS 4057/17, Rn. 37 - juris). Hierzu ist der vorliegende Fall ein anschauliches Beispiel. Der Kläger wäre, würde man ihm die Möglichkeit der nachträglichen Beibringung der relevanten Unterlagen verweigern, endgültig zur Zahlung ganz erheblicher Erstattungsbeträge verpflichtet. Anspruchsinhaber von Sicherungsleistungen nach dem SGB II sind regelmäßig in keiner Einkommens- und Vermögenssituation, derartig hohe Erstattungsforderungen ohne weiteres erfüllen zu können. Die ohnehin eingeschränkt bestehende persönliche Handlungsfreiheit wird dadurch weiter verengt. Dazu kommt, dass die Erstattungsforderung umso höher ausfällt, je stärker der Erstattungspflichtige auf Grundsicherungsleistungen angewiesen war und je mehr vorläufige Leistungen er daher erhalten hatte. Die "Sanktion" wirkt sich daher unmittelbar sowie mittelbar umso härter aus, je intensiver der Betroffene materiellrechtlich auf existenzsichernde Leistungen angewiesen war und nach wie vor ist. Diese Nachteile würden ohne materiellrechtliche Legitimation und nur aufgrund des Aspektes der Verfahrensbeschleunigung eintreten, was keinesfalls mehr verhältnismäßig ist.

Zudem würde auch ein Wertungswiderspruch zu § 40 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X bestehen (SG Dresden, Urteil vom 11.01.2018 - S 52 AS 4328/17, Rn. 85 - juris; SG Leipzig, Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17, Rn. 81 - 87, juris). Danach ist selbst ein bestandskräftiger Bewilligungsbescheid abzuändern und Sozialleistungen ab dem Beginn des Vorjahres eines entsprechenden Antrages nachzuzahlen, wenn sich ergibt, dass dieser materiell rechtwidrig ist. Auch in diesem Fällen hat es der Leistungsberechtigte u.U. versäumt, leistungserhebliche Unterlagen rechtzeitig im Verwaltungs- und/oder Rechtsbehelfsverfahren vorzulegen bzw. diese anzustrengen. Dennoch wird dem Aspekt der materiellen Rechtmäßigkeit - hier sogar gegenüber der Bestandskraft - höheres Gewicht beigemessen (vgl BSG, Urteil vom 31.05.1988 - 2/9b RU 8/87 - juris; SG Leipzig, Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17 -, Rn. 81 - 87, juris).

Auch aus dem Prozessrecht folgt die zwingende Berücksichtigung der im Klageverfahren eingereichten Unterlagen. Es handelt sich vorliegend um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Hier ist, soweit sich aus dem materiellen Recht nichts anderes ergibt, bei Tatsachenfragen (also bezogen auf die Sachlage) auf die letzte mündliche Verhandlung in der Tatsacheninstanz abzustellen (Söhngen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 54 SGG, Rn. 51).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Zweigertstraße 54, 45130 Essen

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem

Sozialgericht Gelsenkirchen, Bochumer Straße 79, 45886 Gelsenkirchen

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss bis zum Ablauf der Frist bei einem der vorgenannten Gerichte eingegangen sein. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und

- von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist und über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eingereicht wird oder

- von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 65a Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingereicht wird.

Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) in der jeweils gültigen Fassung. Über das Justizportal des Bundes und der Länder (www.justiz.de) können nähere Informationen abgerufen werden.

Zusätzlich wird darauf hingewiesen, dass einem Beteiligten auf seinen Antrag für das Verfahren vor dem Landessozialgericht unter bestimmten Voraussetzungen Prozesskostenhilfe bewilligt werden kann.

Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Revision zum Bundessozialgericht unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie von dem Sozialgericht auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.

Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

Die Einlegung der Revision und die Zustimmung des Gegners gelten als Verzicht auf die Berufung, wenn das Sozialgericht die Revision zugelassen hat.

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