SG Duisburg, Beschluss vom 18.01.2021 - Sozialgericht Duisburg Az.: S 10 R 706/20
Fundstelle
openJur 2021, 17017
  • Rkr:
Tenor

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe

I.

Gegenstand des zugrundeliegenden Klageverfahrens war eine Untätigkeitsklage, mit der die Klägerin geltend machte, ihr Widerspruch sei nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Drei-Monats-Frist beschieden worden.

Die Klägerin beantragte bei der Beklagten am 15.04.2019 die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Mit Bescheid vom 06.02.2020 lehnte die Beklagte die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung wegen Nichterfüllung der Mindestversicherungszeit ab. In der Begründung wurde ausgeführt, nach den Feststellungen der Beklagten sei die Klägerin seit dem 01.10.2017 voll erwerbsgemindert. Bezogen auf diesen Zeitpunkt sei die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt. Das Versicherungskonto der Klägerin enthalte bis zum 01.10.2017 statt der erforderlichen 60 Kalendermonate nur 58 Wartezeitmonate.

Gegen diesen Bescheid erhob der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 21.02.2020 Widerspruch und kündigte eine Widerspruchsbegründung nach Akteneinsichtnahme an, die gleichzeitig beantragt wurde. Nach Einsichtnahme in die Verwaltungsakte übersandte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 08.04.2020 ein Attest des behandelnden Psychiaters Prof. Dr. und machte geltend, die Klägerin sei nicht bereits seit dem 01.02.2017 voll erwerbsgemindert gewesen. Der Vorgang wurde dem Ärztlichen Dienst der Beklagten vorgelegt, der unter Auswertung eines für das Arbeitsamt Oberhausen erstellten Gutachtens des Dr. vom 29.12.2017 zu dem Ergebnis gelangte, dass die volle Erwerbsminderung seit dem 29.12.2017 vorliegen würde. Am 28.07.2020 erhob die Klägerin Untätigkeitsklage, da nicht innerhalb von drei Monaten über den Widerspruch entschieden worden sei. Mit Bescheid vom 07.08.2020 bewilligte die Beklagte eine Rente wegen voller Erwerbsminderung mit der Begründung, dass die Anspruchsvoraussetzungen ab dem 29.12.2017 vorgelegen hätten.

Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Rechtsstreit für erledigt erklärt und beantragt, der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen. Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass sie massiv von der Corona-Pandemie betroffen sei und aufgrund dessen erhebliche Engpässe zu bewältigen habe.

II.

Über die Kostenerstattungspflicht der Beteiligten war nach § 193 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zu entscheiden, da das Verfahren durch eine Erledigungserklärung im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 3 SGG beendet wurde.

Die Entscheidung über die Kostentragungspflicht nach § 193 Abs. 1 SGG ergeht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen (Meyer-Ladewig § 193 SGG Rn. 13 m. w. N.). Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten der Klage sowie die Gründe für die Klageerhebung und die Erledigung maßgeblich. Das Gericht hat bei der Ermessenentscheidung alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen unter Beachtung der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens. Daher ist das voraussichtliche Maß des Obsiegens bzw. Unterliegens nicht das allein wesentliche Entscheidungskriterium, sondern in die Entscheidung können auch Gesichtspunkte wie die Veranlassung des Rechtsstreits, die Verursachung unnötiger Kosten und die Anpassungsbereitschaft an eine geänderte Rechts- oder Sachlage eingehen (Meyer-Ladewig § 193 SGG Rn. 12 m. w. N.).

Bei Erledigung einer Untätigkeitsklage ist unter dem Gesichtspunkt der Veranlassung des Rechtsstreits der Rechtsgedanke des § 161 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) heranzuziehen, wonach die Kosten in der Regel der Beklagten zur Last fallen, wenn die Klägerin nach den ihr bekannten Umständen mit einer Entscheidung vor Klageerhebung rechnen durfte (Meyer-Ladewig § 193 SGG Rn. 13c m. w. N.; LSG Niedersachsen Beschluss vom 31.05.2001 L 8 B 105/01 AL m. w. N.). Andererseits besteht in der Regel keine Kostenerstattungspflicht der Beklagten, wenn sie mit einem zureichenden Grund nicht innerhalb der gesetzlichen Drei-Monats-Frist entschieden hat und diesen Grund der Klägerin mitgeteilt hat oder der Klägerin dieser Grund bekannt war (Meyer-Ladewig § 193 SGG Rn. 13c; LSG NRW Beschluss vom 27.12.2016 L 2 B 18/05 KN KR).

Unter Heranziehung dieser Grundsätze ist eine Kostenerstattungspflicht der Beklagten weder unter dem Gesichtspunkt der Erfolgsaussicht der Klage noch unter Heranziehung des Kriteriums der Veranlassung des Rechtsstreits zu bejahen.

Die Untätigkeitsklage war zulässig, weil die Beklagte nicht innerhalb der nach § 88 Abs. 2 SGG angemessenen Frist von drei Monaten entschieden hat.

Die Untätigkeitsklage war jedoch nicht begründet, weil die Beklagte mit zureichendem Grund über den am 21.02.2020 erhobenen Widerspruch nicht in der gemäß § 88 Abs. 2 SGG genannten Frist von drei Monaten entschieden hat. Bis zum 08.04.2020 lag ein zureichender Grund schon deshalb vor, weil die Klägerin den Widerspruch noch nicht begründet hatte. Da bei der Prüfung des Vorliegens einer vollen Erwerbsminderung bzw. des Zeitpunktes des Eintritts der vollen Erwerbsminderung der Gesundheitszustand und die krankheitsbedingten Einschränkungen der Klägerin maßgeblich sind, durfte die Beklagte die Begründung des Widerspruches abwarten, um bei den weiteren medizinischen Ermittlungen die Einwände der Klägerin bezüglich der Beurteilung des Gesundheitszustandes und insbesondere des Zeitpunktes des Eintrittes der vollen Erwerbsminderung berücksichtigen zu können.

Die Beklagte hat nach Vorlage der Widerspruchsbegründung vom 08.04.2020 mit zureichendem Grund nicht innerhalb der nach § 88 Abs. 2 SGG genannten Frist von drei Monaten entschieden, sondern bis zur Bescheiderteilung am 07.08.2020 einen Zeitraum von knapp vier Monaten benötigt. Ein zureichender Grund liegt zum einen deshalb vor, weil die Beklagte eine versicherungsrechtliche und eine medizinische Prüfung des Sachverhaltes unter Berücksichtigung des von der Klägerin vorgelegten Attestes des behandelnden Psychiaters Prof. Dr. vornehmen musste. Insoweit war in rechtlicher Hinsicht zu ermitteln, ab welchem Zeitpunkt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente erfüllt waren. In medizinischer Hinsicht war unter Auswertung des im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachtens, der beigezogenen Befundberichte und des beigezogenen Gutachtens des Arbeitsamtes Oberhausen zu prüfen, ob ein späterer Leistungsfall zugrunde gelegt werden konnte. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die insoweit notwendige versicherungsrechtliche Prüfung und sozialmedizinischen Ermittlungen in eine Zeitphase fielen, in der aufgrund der Pandemie-Situation in der Bundesrepublik Deutschland die Arbeitsabläufe in staatlichen Institutionen und öffentlichrechtlichen Selbstverwaltungskörperschaften ebenso wie im sonstigen Wirtschaftsleben erheblich eingeschränkt waren durch staatliche Maßnahmen, die zum Schutz der Bevölkerung vor einer weiteren Verbreitung der COVID-19-Erkrankung angeordnet worden waren. Dies führte in fast allen Arbeitsbereichen zu erheblichen Personalausfällen bzw. zu erheblichen Einschränkungen der Arbeitsabläufe und der Bewältigung des Arbeitsanfalles, so dass das Gericht keine Zweifel an dem Vortrag der Beklagten hat, sie habe aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie erhebliche Engpässe zu bewältigen gehabt. Es ist anerkannt, dass vorübergehende besondere Belastungen hinsichtlich der Bewältigung des Arbeitsanfalles bei einer Behörde bzw. einem Selbstverwaltungsträger als zureichender Grund im Sinne des § 88 SGG für eine Verfahrensverzögerung anzusehen sind (vgl. BSG Urteil vom 08.12.1993 Az.: 14a RKa 1/93; LSG Berlin Beschluss vom 02.11.1992 L 7 Ka-S 36/92; Meyer-Ladewig § 88 Rn. 7a m. w. N.). Dies gilt jedenfalls dann, wenn die einschränkenden Maßnahmen - wie in der damaligen Pandemie-Situation - so kurzfristig angeordnet werden, dass organisatorische Gegenmaßnahmen zur Bewältigung des Arbeitsanfalles noch nicht getroffen und realisiert werden konnten.

Eine Kostenerstattungspflicht der Beklagten kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass sie die Klägerin nicht darauf hingewiesen hat, dass es zu einer Verzögerung bei der Bearbeitung des Widerspruches kommen würde. Grundsätzlich kann zwar von einem Sozialversicherungsträger erwartet werden, dass er einer Versicherten den Grund mitteilt, der zu einer Verzögerung der Bescheiderteilung führt. Dies ist allerdings dann nicht erforderlich, wenn der Grund bekannt ist (Meyer-Ladewig § 193 Rn. 13c m. w. N.). Der Beklagten war es in der damaligen Situation unmöglich, alle Versicherten, die ein Verwaltungsverfahren bzw. ein Widerspruchsverfahren anhängig hatten, anzuschreiben und über die Coronabedingten Verzögerungen im Rahmen der Sachbearbeitung in Kenntnis zu setzen, weil dies alleine bei einem Sozialversicherungsträger, der - wie die Beklagte - für Millionen Versicherte zuständig ist, zu einem ganz erheblichen zusätzlichen Arbeitsanfall und damit zu weiteren Verzögerungen geführt hätte. Eine Informationspflicht der Beklagten bestand aufgrund der besonderen Begleitumstände jedenfalls in Fällen kurzzeitiger Überschreitungen der 3-monatigen Bearbeitungszeit (hier weniger als einem Monat) nicht. Zudem war jedem betroffenen Versicherten aufgrund der umfassenden Berichterstattung bekannt, welche restriktiven Maßnahmen mit ganz erheblichen Auswirkungen auf das Arbeitsleben seitens der Exekutive erlassen worden waren, so dass niemand damit rechnen konnte, dass die üblichen Bearbeitungszeiten bei Behörden und Sozialleistungsträgern eingehalten werden konnten. In dieser besonderen Ausnahmesituation hätte sich die Klägerin jedenfalls vor Erhebung einer Untätigkeitsklage bei der Beklagten erkundigen müssen, ob zeitnah mit einer Entscheidung über den Widerspruch gerechnet werden könne.

Nach alledem erscheint es nicht gerechtfertigt, der Beklagten außergerichtliche Kosten der Klägerin aufzuerlegen.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG).

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